Versöhnlich und Versöhnung sind Begriffe, die in fast allen Nachrufen auf Mevlüde Genç auftauchten. In einem hieß es, Mevlüde Genç habe ihre Hand zur Versöhnung ausgestreckt. Je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr Zweifel habe ich bei dieser Wortwahl. Setzt Versöhnung nicht einen Konflikt zwischen mindestens zwei Seiten voraus? Suggeriert er nicht, dass hier die Opfer und die Täter, dass alle Seiten gleichermaßen Beteiligte eines Konflikts sind – und damit moralisch gleich zu werten sind?
Nach der »Wiedervereinigung« Deutschlands gab es Angriffe auf Geflüchtetenunterkünfte landauf, landab. Der Innenminister eines ostdeutschen Bundeslandes entblödete sich damals nicht, einen Runden Tisch zwischen Geflüchteten und jenen Menschen vorzuschlagen, die zuvor mit Worten und Steinen eine dieser Unterkünfte angegriffen hatten. Großartige Idee! Warum nicht auch Runde Tische zwischen vergewaltigten Frauen und Vergewaltigern? Oder zwischen Bankangestellten und Bankräubern?
Hatte also Mevlüde Genç »ihre Hand zur Versöhnung ausgestreckt«, wurde sie ergriffen? Sicher, Mevlüde Genç wurde als moralische Instanz anerkannt, aber wurde denn ihr Anliegen respektiert oder wenigstens ernst genommen? Daran habe ich Zweifel. Es wäre naiv gewesen zu erwarten, dass Nazis in sich gehen und ihr mörderisches Geschäft aufgeben. Was aber ist mit der Mehrheitsgesellschaft, was ist mit den demokratischen Parteien? Hat sich dort etwas fundamental geändert?
Zur Chronologie: In der Nacht vom 29. Mai 1993 verbrannten und erstickten zwei Töchter, eine Nichte und zwei Enkelinnen von Mevlüde Genç durch einen Brandanschlag auf das Haus der Familie in Solingen. Nur drei Tage zuvor, am 26. Mai 1993, hatte der Bundestag die Verschärfung des Asylrechts beschlossen. 521 Abgeordnete aus den Regierungsparteien CDU/CSU und FDP sowie der oppositionellen SPD stimmten damals dafür, lediglich 132 Parlamentarier waren dagegen. Die Grundgesetzänderung stand am vorläufigen Ende einer beispiellosen Kampagne, die damals vor allem von den Unionsparteien geführt worden war. Der »Das-Boot-ist-voll«-Soundtrack, das Gehetze gegen »Schein-Asylanten« richtete sich gegen die sich gegen eine Grundgesetzänderung noch sträubende SPD, betraf aber vor allem alle Menschen, die als »fremd« definiert wurden.
Eiskalt wurde mit migrantischen Menschen und gegen migrantische Menschen Politik gemacht: In Rostock-Lichtenhagen hatte man nur Wochen vor der Änderung des Artikels 16 Hunderte Geflüchtete zu einer zentralen Geflüchteteneinrichtung gelotst und sie ohne ausreichende sanitäre Einrichtungen vor den Gebäuden gelassen. Unter diesen Menschen befanden sich viele Roma, die vor dem Krieg auf dem Balkan geflohen waren. Vor den Augen der Öffentlichkeit schufen Politiker Zustände, die – wie zu erwarten – örtliche und überörtliche Nazis und Rassisten auf den Plan riefen. Sie machten von der Polizei weitgehend unbehelligt Jagd auf Menschen. Diese Unruhen – oder sollte man sie Hetzjagden nennen? – wurden von Teilen der CDU/CSU als Beleg dafür benutzt, dass die Einschränkung des Asylrechts dringend nötig sei. Sichtbar wurde hier eine Art Arbeitsteilung zwischen bürgerlicher Politik und außerparlamentarischer Neonaziszene – für eine Demokratie unwürdig!
Es ist kein Zufall, dass in den Jahren nach dem Fall der Mauer die Radikalisierung von Leuten wie Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt, Beate Zschäpe, dem Trio des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), und vielen anderen fiel. Auffallend war deren Hass gegen türkeistämmige Menschen. In Thüringen dürften damals nur eine Handvoll Türken gelebt haben, aber der Hass gegen sie war allgegenwärtig – und er ist es bis heute.
Sarg der verstorbenen Mevlüde Genç bei der Gedenkveranstaltung in Solingen am 1. November
Foto: Christoph Reichwein / dpa
Für den Hass gegen Türken bedarf es keiner Türken. Es reicht die Polemik gegen Menschen aus der Türkei, die über das Westfernsehen schon zu DDR-Zeiten auch die Menschen dort erreichte. Ein angesehener Historiker fasste die oft aus bürgerlichen Kreisen kommenden Ressentiments gegen Türken in wenigen Worten zusammen: Deutschland habe, so schrieb er damals, kein Ausländerproblem, sondern ein »Türkenproblem«. Ein ungeheuerlicher Satz. Nur wenige Jahrzehnte zuvor sprach man in Deutschland von einem »Judenproblem«, das es endgültig zu lösen galt. Klar war, dass dem bürgerlich-verbalen Zündeln ein wirkliches, höchst reelles Zündeln folgen würde – in Mölln, in Solingen, in Lübeck. Viele Neonazis waren der Ansicht, Vollstrecker eines gesellschaftlichen Willens zu sein. »Taten statt Worte« war der Slogan der NSU-Mörder.
Nicht wenige Politikerinnen und Politiker machten in diesen Jahren ihre Aufwartung bei der Familie Genç, gern und oft in Begleitung von Fotografen. Nicht wenige dieser Politikerinnen und Politiker gehören Parteien an, die ungeniert Stimmung gegen Migrantinnen und Migranten machten, insbesondere gegen Muslime. Im sechsten Jahr nach den Morden von Solingen startete die CDU Hessen mit ihrem Spitzenkandidaten Roland Koch eine Unterschriftenkampagne – offiziell gegen die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, inoffiziell gegen Migranten insgesamt. »Wo kann ich hier gegen die Türken unterschreiben?«, wurde an den CDU-Ständen gefragt. Das war 1999, wenige Monate später war Roland Koch Ministerpräsident und der NSU hatte den ersten Menschen getötet: Enver Şimşek wurde am 09. September 2000 mit acht Schüssen aus nächster Nähe niedergestreckt. Neun weitere Menschen wurden umgebracht, Angehörige zu lebenslanger Trauer verurteilt, verdächtigt und kriminalisiert von Polizei, Medien und Öffentlichkeit.
Eines dieser Opfer war Halit Yozgat. Der 21-Jährige wurde im April 2006 im hessischen Kassel umgebracht. Am Tatort befand sich zur Tatzeit der hessische Verfassungsschutzbeamte, der nichts gesehen und nichts gehört haben will. Unmittelbar vor den Schüssen aber hatte er mit einem führenden hessischen Neonazi telefoniert, bei ihm zu Hause fanden die Ermittler zuhauf Nazi-Materialien – nicht bei dem Neonazi wohlgemerkt, sondern bei dem Beamten. Die Akten zu diesem Fall wurden zunächst für 120 Jahre, später dann für 30 Jahre gesperrt. Zynisch könnte man von einem rechtsstaatlichen Fortschritt sprechen: Anderorts wurden brisante Akten geschreddert. Aber auch in Hessen kann man getrost davon ausgehen, dass für den Geheimdienst gefährliche Akten nicht mehr existent sind. Verantwortlich für den Umgang mit dem NSU-Komplex war Volker Bouffier, Innenminister und Nachfolger Roland Kochs.
Über den NSU und die Frage, warum deutsche Nazis Menschen aus der Türkei ermordeten und deutsche Polizisten die Toten und ihre Angehörigen verdächtigen, könnte man viel schreiben, aber manchmal reichen einige Worte, um alles zu erklären. In einer operativen Fallanalyse des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg aus dem Jahr 2006 findet sich dieser Satz: »Vor dem Hintergrund, dass die Tötung eines Menschen in unserem Kulturkreis mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Werte- und Normensystems verortet ist.« Wow. Wir Deutschen haben eine so dufte Kultur, Menschen töten, das geht gar nicht bei uns – der Mörder muss also Ausländer sein. Institutionellen Rassismus bei der Polizei gibt es nicht, jedes Nazi-Gerede unter Uniformierten ist ein Einzelfall, auch wenn jede Woche ein Einzelfall auffliegt.
Und so geht es weiter, immer weiter: München Olympiaeinkaufszentrum, Hanau, Halle. Dann wurde der CDU-Politiker Walter Lübcke ermordet und ein Ruck ging durch die politische Landschaft. Eine Zäsur, sagten manche aus Politik und Medien. Eine Zäsur? Die Ermordung von Dutzenden und Aberdutzenden Menschen durch Nazis im Laufe der Jahre nach 1990 reichte nicht für eine Zäsur. Es musste schon ein Angehöriger der Mehrheitsgesellschaft sterben, bevor von einer Zäsur in der bundesdeutschen Geschichte gesprochen wird. Auch das sei hier bemerkt: Walter Lübcke würde heute möglicherweise noch leben, hätten Sicherheitsbehörden die rechtsterroristische Gefahr des NSU und seines nach wie vor höchst lebendigen Umfelds ernst genommen: Walter Lübcke findet sich auf einer Todesliste des NSU, von der Polizei bereits 2011 sichergestellt. Wurde Walter Lübcke gewarnt, geschützt?
Was ist zu tun? Sehr viel. Wir brauchen einen demokratischen Mindestkonsens. Es muss Schluss sein mit der Hetze gegen Migrantinnen und Migranten, gegen Musliminnen und Muslime, gegen Menschen, die fremd gelesen werden. Es muss Schluss sein mit dem Verständnis, das mancherorts Rassisten und Nazis entgegengebracht wird. In Thüringen hetzten Nazis gegen die Unterbringung von geflüchteten Roma aus der Ukraine. In einem Rechtsstaat könnte man erwarten, dass die zuständigen Behörden auf die gesetzlichen Regeln bei der Behandlung von Geflüchteten hinweisen und das Gesetz umsetzen. Der zuständige Landrat in einem der betroffenen Landkreise wies in einer Presseerklärung zwar auf die Rechtslage hin, beeilte sich aber hinzuzufügen: »Im Hinblick auf die in Leinefelde angemietete Halle sind wir bemüht, nur solche Menschen dort unterzubringen, welche ein der hiesigen Kultur entsprechendes Verhalten erwarten lassen.« Auf welcher gesetzlichen Grundlage erfolgt eine derartige Erklärung? Was bedeutet denn die Formulierung »ein der hiesigen Kultur entsprechendes Verhalten«? Diese Art von vorauseilendem Appeasement stärkt Nazis und Feinde der Demokratie und gibt der Hetze insbesondere gegen Roma ein amtliches Siegel.
Foto: Deutzmann / IMAGO
Es muss Schluss sein mit der Finanzierung von Nazis, Rassisten und Feinden der Demokratie. Es ist doch ein schlechter Witz, dass es keine demokratische Einigkeit gegen die Finanzierung einer Parteistiftung wie die der AfD gibt, einer Partei, in der Spitzenfunktionäre ihren Vernichtungsfantasien freien Lauf lassen. »Wir können die (Migranten, Anmerkung des Autors) nachher immer noch alle erschießen. Das ist überhaupt kein Thema. Oder vergasen, oder wie du willst. Mir egal«, so der ehemalige Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion.
Vor allem aber brauchen wir eine wirkliche innere Vereinigung, nicht nur zwischen Ost und West, sondern zwischen allen Menschen, die hier leben, die hier eine Heimat haben, egal woher sie stammen. Dazu gehört auch, dass wir Migrantinnen und Migranten auf Augenhöhe begegnen und dem Impuls widerstehen, sie als Sündenböcke zu missbrauchen, wann immer eine Wahl ansteht, und irgendwo steht immer eine Wahl an. Manchmal heißt es über uns Deutsche, wir seien Schönwetterdemokraten. Da ist was dran, aber auch nur ein bisschen. In Wahrheit sind wir schon bei schönem Wetter nur mittelmäßige Demokraten. Bereits in wirtschaftlich gesunden Zeiten mit überschaubaren Arbeitslosenzahlen leisten wir uns alte und neue Nazis in unseren Parlamenten.
Aber möglicherweise kommt schlechtes Wetter auf uns zu. Wir müssen uns wappnen. Die Feinde der Demokratie müssen bekämpft werden, politisch wie juristisch. Das reicht aber noch nicht.
Die Freunde der Demokratie müssen strukturell gestärkt werden. Das Demokratiefördergesetz ist ein erster wichtiger Schritt. Aber gefragt sind wir alle: Wir müssen uns selbst im Auge behalten: wie wir über andere Menschen denken und sprechen. Wir müssen den Mut zum Widerspruch aufbringen, wenn in unserer Gegenwart menschenfeindlich daher schwadroniert wird. Es ist doch paradox, dass wir einschreiten, wenn sich jemand an der Supermarktkasse vorbeidrängen will, aber schweigen, wenn antisemitisch oder antimuslimisch dahergeredet wird. Es sind diese Momente, an denen wir uns an die ausgestreckte Hand von Mevlüde Genç erinnern sollten.
Mevlüde Genç ist in der Türkei zu Grabe getragen worden. Sie fand ihre letzte Ruhe dort, wo sie zur Welt gekommen war, in dem Örtchen Mercimek in der türkischen Provinz Amasya, an der Seite ihrer Liebsten. Möge Allah ihr den Frieden geben, der ihr im Leben versagt blieb.