Kein Bußgang nach Kiew
Im dritten Versuch hat es der Bundespräsident nun also in die Ukraine geschafft. Frank-Walter Steinmeier hat beim Luftalarm im Bunker von Korjukiwka den Kriegsalltag der Menschen hautnah erlebt. Er hat sich in Kiew von Bürgermeister Vitali Klitschko die Zerstörungen zeigen lassen. Und, politisch wohl am wichtigsten: Er hat den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj getroffen.
Steinmeier und Selenskyj
Foto: Andrew Kravchenko / AP
Steinmeier hat Selenskyj und den Ukrainern die unerschütterliche Solidarität Deutschlands zugesichert. Er hat humanitäre Hilfe mitgebracht und gemeinsam mit seinem Amtskollegen für deutsch-ukrainische Städtepartnerschaften geworben. Er hat sogar, obwohl es überhaupt nicht in seiner Entscheidungsgewalt liegt, die baldige Lieferung weiterer Waffen versprochen.
Ist damit also alles wieder gut? Wohl kaum. »Man geht respektvoll, aber noch ein wenig steif miteinander um«, schreibt mein Kollege Christian Esch, der den Auftritt Steinmeiers und Selenskyjs am Dienstagabend beobachtet hat. Eine Versöhnung auf offener Bühne fand in Kiew jedenfalls nicht statt.
Dafür wiegt die Vorgeschichte wohl zu schwer: Immer wieder haben die Ukrainer Steinmeier nach Russlands Überfall seinen viel zu lange viel zu verständnisvollen Umgang mit Wladimir Putin und seinen Getreuen vorgehalten. Als das deutsche Staatsoberhaupt erstmals Kiew besuchen wollte, wurde er ganz undiplomatisch ausgeladen, ein Eklat, der Steinmeier und den Kanzler schwer erzürnte. Eigene Fehler in seiner Russlandpolitik als Außenminister und Kanzleramtschef aber hat der Präsident nur zögerlich eingestanden.
Von solchem Bedauern war bei diesem Besuch nichts zu hören, zumindest nicht öffentlich – Fragen waren beim Pressetermin nicht zugelassen. Aber einen Bußgang des Bundespräsidenten nach Kiew, den hatte hoffentlich auch Selenskyj nicht erwartet. Ein bisschen zu spät vielleicht, aber Steinmeier hat mit seiner Reise das Nötige getan und vor Ort das Nötige gesagt. Nicht mehr und nicht weniger.
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Scholz versucht sich in Schadensbegrenzung
Eigentlich hätte es eine große Runde werden sollen, ein schöner Anlass, die deutsch-französische Freundschaft zu feiern. Doch die für heute geplanten, sogenannten Regierungskonsultationen, bei denen fast alle Ministerinnen und Minister beider Regierungen zusammenkommen, fallen aus – wegen »inhaltlicher Differenzen« und Terminproblemen.
Macron und Scholz (beim Nato-Gipfel Ende Juni in Madrid)
Foto: J.J Guillen / EPA-EFE
Und so reist Olaf Scholz an diesem Mittwoch allein nach Fontainebleau, um bei Emmanuel Macron vorzusprechen und den Schaden zu begrenzen.
Es knirscht gewaltig zwischen Paris und Berlin. Die peinliche Absage des großen Kabinettstreffens markiert den Tiefpunkt im Verhältnis der beiden Staaten, die sich sonst so gerne als Motor Europas inszenieren.
Der Kanzler und der Präsident harmonieren nicht, reklamieren lieber jeder für sich die Führungsrolle in der EU. Es gibt Ärger über fehlende Abstimmungen und deutsche Arroganzanfälle, Streit über Rüstungsprojekte und den Kurs in der Energiekrise. In der vergangenen Woche wurde der Zoff beim EU-Gipfel auf offener Bühne ausgetragen.
Für Europa ist das in diesen unruhigen Zeiten alles nicht gut. Macron und Scholz sollten klug genug sein, ihre Dissonanzen nicht zu einem tieferen Zerwürfnis eskalieren zu lassen. Heute können sie sich zusammenraufen.
Cannabis im Kabinett
Karl Lauterbach spricht von einem der komplextesten Gesetze, an denen er je gearbeitet hat: die Legalisierung von Cannabis. Nun haben sich alle beteiligten Ressorts abgestimmt, heute befasst sich erstmals das Kabinett mit den Eckpunkten für eines der zentralen Ampelversprechen. Einen kompletten Gesetzentwurf will der Gesundheitsminister aber erst vorlegen, wenn auch alle europarechtlichen Fragen geklärt sind.
Frau mit Joint (bei der Berliner Hanfparade)
Foto:
Annette Riedl / dpa
Ich muss zugeben, ich kann mich nicht entscheiden, ob ich die Cannabis-Legalisierung für eine gute oder doch eher schlechte Idee halte. Ich selbst habe mich nie fürs Kiffen begeistern können, kann also nicht mal bei der Wirkung mitreden.
Aber in meiner Jugend (zählen wir die erste Hälfte der Zwanziger einmal großzügig dazu) habe ich ziemlich viele Leute um mich herum erlebt, deren abendfüllende Beschäftigung darin bestand, auf Teufel komm raus irgendwo etwas zu rauchen herzubekommen. Nur um sich dann mit geröteten Augen über Nichtigkeiten kaputtzulachen oder im verrauchten Zimmer wegzudämmern.
Muss man das fördern, indem den Cannabis-Kauf und -Konsum legalisiert? Oder macht die Legalisierung das Ganze für junge Menschen ohnehin uninteressant? Greifen sie dann zu gefährlicheren Drogen?
Auf der anderen Seite: Meines Wissens hat keiner meiner damaligen Freunde und Bekannten Schäden davon getragen oder ist auf härtere Stoffe umgestiegen. Und ich kenne auch heute Menschen, die regelmäßig Cannabis konsumieren – zur Entspannung, zum Genuss. Alles halb so wild, denke ich dann.
Trotzdem lassen die Eckpunkte bei mir Fragen offen: Lässt sich der illegale Markt tatsächlich austrocknen, wenn die Abgabe für Erwachsene staatlich kontrolliert wird und für unter 21-Jährige womöglich noch ein maximaler THC-Gehalt festgelegt wird? Werden Polizei und Justiz wirklich entlastet, wenn am Ende doch die Besitz-Obergrenzen von 20 oder 30 Gramm kontrolliert werden müssen? Und wer bitte soll nachschauen, ob auch niemand mehr als »drei weibliche blühende Pflanzen pro volljähriger Person« im Garten aufzieht?
Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Aber vielleicht muss man in diesem Fall manches einfach ausprobieren. Nach vier Jahren, so der Plan, sollen jedenfalls die gesellschaftlichen Auswirkungen der Legalisierung evaluiert werden.
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Verlierer des Tages…
… sind die US-Demokraten. Kurz vor den wichtigen Midterms sorgen 30 Vertreter des linken Flügels, unter ihnen prominente Gesichter wie Alexandria Ocasio-Cortez und Ilhan Omar, mit einem Aufruf nach einem Kursschwenk in der Ukrainepolitik für Aufregung. In einem Brief fordert die Gruppe von ihrem Präsidenten Joe Biden direkte Verhandlungen mit Russland, um den Krieg zu beenden – nur um das Schreiben kurze Zeit später wieder zurückzuziehen.
US-Demokratinnen Alexandria Ocasio-Cortez (l.) und Ilhan Omar (Archivbild vom Juli 2019)
Foto: SAUL LOEB/AFP
Die abenteuerliche Begründung: Das Papier sei schon vor Monaten entstanden, seitdem sei viel passiert; aber Mitarbeiter hätten den Brief nun ohne Freigabe verschickt. Ist das zu glauben?
Einzufangen ist der Ärger ohnehin nicht mehr, auch wenn die Doch-nicht-mehr-Unterzeichner nun hastig den Eindruck korrigieren wollen, sie könnten auf einer Linie mit den Republikanern liegen. Die hatten jüngst nämlich angekündigt, im Falle eines Sieges bei den Zwischenwahlen bei den Ukrainehilfen auf die Bremse treten zu wollen.
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