1. Rishi Sunak, der neue britische Premierminister, gilt als reicher Musterknabe – und agiert wohl seriöser als sein einstiger Förderer Boris Johnson
Spitznamen sind nicht bloß eine nette Alberei, sondern sie sagen oft auch eine Menge über Politikerinnen und Politiker aus. Sogar in Großbritannien, wo die Boulevardmedien großzügig Kosenamen vergeben, die oft nicht sehr schmeichelhaft sind. Den ehemaligen britischen Premierminister Boris Johnson nannten sie zum Beispiel »Mad Boris« oder »gefettetes Ferkel«. Nachdem Johnson gestern bekannt gab, dass er sich doch nicht schon wieder in den Kampf um die Macht in Großbritannien stürzen will, steht seit heute fest, dass der ehemalige Finanzminister Rishi Sunak neuer britischer Premier wird.
Sein bislang bekanntester Spitzname ist, so schreibt mein Kollege Florian Pütz, »Maharadscha der Yorkshire Dales«.
Im parteiinternen Wettkampf um die Nachfolge um Liz Truss als Tory-Parteichef zog Sunaks verbleibende Gegnerin Penny Mordaunt ihre Kandidatur zurück. Als neuer Chef der Konservativen Partei folgt Sunak Truss auch als Regierungschef. Seine Antrittsrede wird für den Abend erwartet. Er wolle das Land mit »Integrität und Professionalität« durch die Krise führen, hatte der 42-Jährige auf Twitter geschrieben, als er am Sonntag seine Kandidatur offiziell machte.
In seinem teils sehr ländlichen Wahlkreis gewann der konservative Politiker Sunak der Legende nach viele Wählerinnen und Wähler für sich, indem er im VW Golf von Wahlkampfauftritt zu Wahlkampfauftritt fuhr, Kühe melkte und ein paar Sätze des lokalen Dialekts übernahm. Der Politiker, der unter anderem als Banker arbeitete, soll ein Vermögen von 730 Millionen Pfund besitzen. Er wurde 1980 in der Hafenstadt Southampton im Süden Englands geboren. Seine Familie stammt aus Indien, in den Sechzigerjahren waren seine Großeltern aus der Punjab-Region nach Großbritannien gekommen. Sunaks Vater arbeitete als Hausarzt, seine Mutter als Apothekerin. Sie schickten ihren Sohn an eine angesehene Privatschule, in Oxford studierte er Philosophie, Politik und Wirtschaft.
»Im Machtzentrum London hatte Sunak immer einen guten Ruf, dort sah man ihn als einen Musterknaben an«, so mein Kollege Florian. Der Politiker sprach sich für den Brexit aus, stand loyal zu der damaligen Premierministerin Theresa May, 2018 wurde er von ihr zum Staatssekretär im Wohnungsbauministerium ernannt. Als Mays Zeit als Premierministerin sich dem Ende zuneigte, stellte Sunak sich als einer der Ersten hinter Boris Johnson, der ihn dann 2020 im Alter von 39 Jahren zu einem der jüngsten und unerfahrensten Schatzkanzler Großbritanniens machte.
Im Duell mit Liz Truss verlor Sunak dann das Rennen um das Amt des Premiers. »Doch nun bekommt er eine neue Chance«, schreibt Florian – und hat sie heute überraschend schnell genutzt.
-
Lesen Sie hier mehr: Das müssen Sie über Rishi Sunak wissen
2. Im grausamen Bürgerkrieg in Äthiopien sperrt sich der amtierende Regierungschef gegen alle Friedensbemühungen – auch die EU muss mehr Druck ausüben
Alle angeblich bedeutenden Preise, die Menschen einander verleihen, sind fragwürdig – Friedensnobelpreise ganz besonders. Natürlich kommt es auch vor, dass Schriftstellerinnen oder Schriftsteller, die den Literaturnobelpreis bekommen, vor oder nach der Preisvergabe erbärmlich schlechte Leistungen abliefern. Beim Friedensnobelpreis aber ist besonders auffällig, wie oft er im Lauf der Preisgeschichte an Leute verliehen wurde, die sich für die Erhaltung oder Herstellung von Frieden unter den Menschen nur unzulänglich oder überhaupt nicht einsetzten. In den Siebzigerjahren erhielt zum Beispiel Henry Kissinger den Nobelpreis, in den Neunzigerjahren Yassir Arafat und im Jahr 2019 der äthiopische Politiker Abiy Ahmed.
Ahmed ist derzeit Premierminister seines Landes und einer der Hauptverantwortlichen für einen furchtbaren Krieg. Gemeinsam mit eritreischen Verbündeten richten Ahmeds Truppen seit zwei Jahren in der abtrünnigen nordäthiopischen Provinz Tigray Entsetzliches an. Allein in den ersten Monaten des Krieges sind Uno-Schätzungen zufolge mehr als 20.000 tigrayische Frauen von den äthiopischen Angreifern vergewaltigt worden, auch von Folter und Mord wird berichtet. Heute hat Uno-Generalsekretär António Guterres gesagt, die Lage in Tigray gerate »außer Kontrolle«.
In Tigray wird so erbittert gekämpft wie nie zuvor in diesem Krieg, allein seit Ende August sind nach Schätzungen lokaler Beobachter mehr als 100.000 Soldaten gestorben. Am vergangenen Dienstag fiel nach langen Kämpfen die tigrayische Stadt Shire, in der sich viele Tausende von Kriegsflüchtlingen aufhalten dürften, in die Hände der äthiopischen Truppen und ihrer Verbündeten. Experten befürchten einen Genozid.
»Kurz hatte es im Sommer so ausgesehen, als sei ein Friedensschluss möglich«, schreibt mein Kollege Fritz Schaap, der aus Nairobi berichtet, über den Konflikt . Unter amerikanischer Schirmherrschaft kam es zu diskret geführten Friedensgesprächen. Abiy Ahmed habe die Macht und alle Möglichkeiten gehabt, den Konflikt zu beenden. »Doch der äthiopische Premierminister entschied sich für Krieg.« Um einen unmittelbar drohenden Völkermord doch zu verhindern, haben sich die Kriegsparteien immerhin von heute an zu Gesprächen in Südafrika verabredet.
Es werde sehr schwierig werden für Abiy Ahmed, seine eritreischen Verbündeten aus dem Land zu bekommen, sagt mein Kollege Fritz. »Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich die Tigrayer bald aus den Städten in die Berge zurückziehen und wir dann einen Guerillakrieg sehen werden.« Wer könnte noch massivere Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung verhindern? »Die USA könnten Druck machen, sie haben ja bereits Sanktionen verabschiedet, und waren in die vorherigen gescheiterten Friedensgespräche involviert«, so mein Kollege. »Aber auch die EU müsste sich endlich überwinden, viel mehr Druck aufzubauen.«
-
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: »Wir werden Zeugen eines Genozids«
3. Der Krieg in der Ukraine ist auf diplomatischer Ebene eine Propagandaschlacht – an der sich auch der neue ukrainische Botschafter in Berlin beteiligen dürfte
In Berlin wurde heute Oleksij Makejew als neuer ukrainischer Botschafter beglaubigt.
Makejew war bisher Regierungsbeauftragter der Kiewer Regierung für die Sanktionen gegen Russland, nun überreichte er Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in dessen Amtssitz Schloss Bellevue sein Beglaubigungsschreiben und das Abberufungsschreiben seines streitbaren und nicht immer diplomatischen Vorgängers Andrij Melnyk.
Heute warf die Regierung der Ukraine Russland vor, ukrainische Getreideexporte zu verzögern, umgekehrt beharrte der Kreml auf Atomvorwürfen gegen Kiew. Trotz westlicher Skepsis hält Russland an der Behauptung fest, Kiew wolle Moskau mit der Zündung einer »schmutzigen« – also atomar verseuchten – Bombe diskreditieren. »Die Gefahr liegt auf der Hand«, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow heute.
Russlands Außenminister Sergej Lawrow will die angebliche Atom-Bedrohung durch die Ukraine nun vor die Vereinten Nationen (Uno) bringen. Der russische Chefdiplomat behauptete, es gebe »konkrete Informationen zu den Instituten in der Ukraine, die über entsprechende Technologien verfügen, solch eine ›schmutzige Bombe‹ zu bauen«. Die westliche Reaktion sei angesichts der bedingungslosen Unterstützung für Kiew erwartbar gewesen, sagte Lawrow. Bei der Uno hoffe er auf eine »professionelle Erörterung« des Themas.
Auf diplomatischer Ebene ist der Krieg, den Russland durch seinen Angriff auf die Ukraine begonnen hat, eine jeden Tag neu befeuerte Propagandaschlacht – in dem die vom Iran lange dementierten Waffenlieferungen an Russland inzwischen klar belegt sind, wie mein Kollege Christian Esch im Interview mit einem Militärexperten erfahren hat . »Iran hat noch nie gestanden, dass seine Waffensysteme eingesetzt werden«, sagt der Experte. »Und Russland hat traditionell viele offenkundige Fakten abgestritten.«
-
Lesen Sie hier das ganze Interview: Wie Russland zum Waffenimporteur wurde
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
-
Gaspreis sinkt unter 100 Euro pro Megawattstunde: Kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine kostete die Megawattstunde Gas im europäischen Handel fast 350 Euro. Jetzt ist der Preis unter die 100-Euro-Marke gefallen.
-
Ein Viertel der Unternehmen erwägt Abbau von Arbeitsplätzen: Die Unternehmen in Deutschland reagieren auf die extremen Preisanstiege für Energie. Laut einer Umfrage sind Personalabbau und Produktionsstopps deutlich wahrscheinlicher geworden.
-
Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
(Sie möchten die »Lage am Abend« per Mail bequem in Ihren Posteingang bekommen? Hier bestellen Sie das tägliche Briefing als Newsletter.)
__proto_kicker__
Was heute sonst noch wichtig ist
-
Spahn will Scholz gemeinsam mit FDP und Grünen »in den Arm fallen«: Kanzler Scholz unterstützt einen anteiligen Verkauf eines Hamburger Hafenterminals an den chinesischen Staatskonzern Cosco. Doch an den Plänen gibt es Kritik. Die Union ruft nun zur Meuterei innerhalb der Koalition auf.
-
Beate Zschäpe scheitert mit Verfassungsbeschwerde: Beate Zschäpe wollte ihre rechtskräftige Verurteilung zu lebenslanger Haft nicht akzeptieren. Das Bundesverfassungsgericht teilte nun mit, dass die NSU-Terroristin mit ihrer Verfassungsbeschwerde erfolglos war.
-
Wie Lauterbach die Krankenhäuser entlasten will: Im Herbst und Winter droht vielen Krankenhäusern die Überlastung – das Bundesgesundheitsministerium will mit kurzfristigen Reformen helfen. Ein Entwurf liegt dem SPIEGEL vor.
-
Wachsfigur von König Charles III. mit Torte beworfen: König Charles III. hat den Unmut von Klimaaktivisten am wächsernen Leib zu spüren bekommen: Bei Madame Tussauds in London landete eine Torte im Gesicht seines Abbilds. Es gab Festnahmen.
Meine Lieblingsgeschichte heute: Deutsche Missionsbräute in der Südsee
Zehntausende von Deutschen wanderten in der kurzen und besonders närrischen Phase des deutschen Kolonialismus in die deutschen Überseebesitzungen aus, so berichtet mein Kollege Torben Müller in einem Text , der für das aktuelle Heft von SPIEGEL Geschichte entstanden ist. Der Alltag im vermeintlichen Paradies der Südsee erwies sich vor allem für die Frauen als hart und unglamourös. Die Auswanderung in die kaiserlichen Kolonien erscheint heute wie eine Nebenepisode der Migrationsgeschichte. In den 30 Jahren deutscher Kolonialherrschaft bis 1914 suchten hier rund 24.000 Bürgerinnen und Bürger aus dem Reich ihr Glück, während allein zwischen 1880 und 1893 fast 1,8 Millionen in die USA übersiedelten.
Viele Einwanderer litten in der Südsee unter dem feuchtheißen Klima, in dem offenbar nicht bloß zahlreiche Krankheiten, sondern auch der Rassismus der Weißen gediehen. »Die deutschen Kolonialfrauen, ebenso wie ihre Männer, begegneten der Südseebevölkerung gewöhnlich von oben herab«, schreibt Torben. »Die Indigenen galten als Wilde, die von den Weißen gezähmt, erzogen und zivilisiert werden mussten. Zudem sahen die Missionsbediensteten in ihnen auch noch die bemitleidenswerten Heidenkinder, die in ihrem eigenen Interesse bekehrt wurden.«
-
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Hochzeit auf den ersten Blick
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
-
Wer jetzt noch sparen kann – und wie viel: Geld beiseitelegen, ausgerechnet jetzt? Das schaffen so wenige Deutsche wie seit 30 Jahren nicht mehr, zeigen neue Daten. Die Krisensorgen reichen bis tief in die Mittelschicht. Und sie spalten das Land .
-
Warum so viele moderne Autos große Qualitätsprobleme haben: In Neuwagen arbeiten zunehmend elektronische Assistenzsysteme, gesteuert von Dutzenden Computern. Das macht die Autos anfällig für Fehler und Defekte, viele halten nicht mehr so lange. Was Fachleute raten .
-
Das Ende des Betonbooms: Die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt schwächelt, Staatschef Xi Jinping muss seine Wachstumsversprechen einkassieren. Vor allem die Immobilienblase wird zum Risiko – mit bedrohlichen Folgen für die globalen Märkte .
-
Mit aller Kraft: Rainer Schaller hat mit Discounter-Studios ein globales Fitnessimperium aufgebaut. Seine Rolle bei der Loveparade-Katastrophe überschattete die Erfolgsgeschichte. Nun ist er offenbar selbst auf tragische Weise verunglückt .
Was heute weniger wichtig ist
-
Reuiger Zwangsbeglücker: Bono, Sänger der irischen Rockband U2, hat sich bedauernd über eine teilweise missglückte Musik-Verschenkaktion geäußert. Im Jahr 2014 habe er selbst den Konzern Apple dazu gedrängt, das U2-Album »Songs of Innocence« an alle Nutzerinnen und Nutzer von iTunes zu verschenken, so Bono. Manche der rund eine halbe Milliarde Beschenkten weltweit ärgerten sich, dass der iPhone-Konzern das Album ungefragt in ihre Musikbibliotheken lud und wertvollen Speicherplatz verstopfte. Bono bekennt in seiner nun erscheinenden Autobiografie, er habe die Zwangsbeglückung fälschlich als subversive Geste im Geist des Punkrock begreifen wollen. »Aber man kann kaum behaupten, dass etwas subversiv sei, wenn man mit einem Unternehmen arbeitet, das auf dem Weg ist, das größte der Welt zu werden.«
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Besondere Vorsicht gilt auch für bei Anwendungen aus unbekannten Quellen.«
Cartoon des Tages: Der Mullah spricht
Illustration: Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
Könnten Sie sich das neue Album der Arctic Monkeys anhören. Mein Kollege Andreas Borcholte preist das Werk »The Car« wegen der Gabe des Sängers Alex Turner, in der Rolle des Song-Erzählers »mit bittersüßen Gefühlen auf die Welt des Glamours und des Ruhms zu blicken«.
Statt der rotzig-druckvollen, juvenilen Rockmusik der auch von mir geliebten früheren Arctic-Monkeys-Phase biete die vor 20 Jahren gegründete Band nun orchestral schwelgende Songs. Turner und seine Gefährten gebärdeten sich als elegante Salonlöwen im Samtanzug. »Man könnte sagen, die Band hat sich radikal neu erfunden«, so Andreas, »bleibt sich im Kern aber treu.«
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Wolfgang Höbel
Hier können Sie die »Lage am Abend« per Mail bestellen.