1. Britalienische Verhältnisse auf der Insel?
Ein englisches Boulevardblatt hatte die Frage gestellt, wer sich wohl länger halten würde – ein Salatkopf oder Premierministerin Liz Truss im Amt. Dafür wurde sogar ein Stream eingerichtet. Rechts ein Bild von Truss, links der Salat. Truss ist seit heute Geschichte, der Salat hingegen sieht noch essbar aus. Schon gestern war es im britischen Parlament höher hergegangen als, sagen wir, dem Betriebsfest des Karnevalsvereins Köln-Deutz (falls es den geben sollte: sorry!).
Als Oppositionsführer Keir Starmer (Labour) aufzählte, welche der vielen Pläne von Premierministerin Liz Truss bereits aufgegeben (»gone«) seien, skandierten seine Parteikollegen jeden der Punkte mit einem wuchtigen »Gone!« von den Rängen. Und als sich die glücklose Truss am Rednerinnenpult als »Kämpferin« vorstellte, erntete sie nur haltloses Gelächter.
Tatsächlich ist die Wirtschaft nach Truss’ radikalen Steuersenkungsplänen (für die Superreichen) so ungebremst auf Talfahrt, dass es der Otto Normalengländerin angst und bange werden muss. Noch gestern verkündete ein Journalist: »Mein Sohn hat vier Finanzminister, drei Innenminister, zwei Premierminister und zwei Monarchen erlebt«, dabei sei er erst vier Monate alt. Und der »Economist« titelte mit Blick auf Italien, wo es bekanntlich seit einer ganzen Weile ähnlich chaotisch zugeht: »Welcome to Britaly«.
Woran das liegt, außer am Personal der konservativen Tories? Keine Ahnung. Möglicherweise geht es England wie neulich mir, als ich nicht ins Vereinigte Königreich einreisen durfte. Ich Trottel hatte meinen Reisepass vergessen – und damit den Brexit.
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»Das Problem ist die enorme Arroganz der britischen Regierung«: Interview mit Zanny Minton Beddoes, Chefredakteurin des »Economist«
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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Förderbank KfW erwartet drastischen Rückgang der Investitionen: Kleinere und mittlere Firmen in Deutschland haben gerade erst die finanziellen Rückschläge infolge der Coronapandemie weggesteckt. Jetzt sorgt die Energiekrise für neue Belastungen – mit langfristigen Folgen.
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Uniper benötigt wohl weitere 40 Milliarden Euro: Mit dem milliardenschweren Rettungspaket für Uniper hatte die Bundesregierung die Gasversorgung sicherstellen wollen. Doch es zeichnet sich ab, dass das Geld nicht ausreichen wird – bei Weitem nicht.
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So bereiten sich ukrainische Soldaten auf den Winter vor: Der ukrainische Schlamm dürfte den Krieg bald verlangsamen. Doch sobald die Böden frieren, könnten die Panzer wieder rollen. Die Kälte wird wohl vor allem den russischen Besatzern Probleme bereiten .
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
2. Wie ist der Gaspreis zu deckeln?
Wenn ein Text mit Clausewitz beginnt, ist die Lage offensichtlich ernst . Oder, wie meine Kollegen Markus Becker, Michael Sauga und Jonas Schaible schreiben: »Wenn ein SPD-Bundeskanzler in einer Regierungserklärung den preußischen Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz bemüht, ist die Lage offensichtlich ernst.« Scholz hatte zitiert: »Der Krieg setzt menschliche Schwäche voraus, und gegen sie ist er gerichtet.« Der Krieg, den Scholz im Sinn hat, ist der von Putin vom Zaun gebrochene Preiskrieg.
Schwäche zeigt Europa auf dem EU-Gipfel, der am Donnerstag und Freitag in Brüssel stattfindet, beim Kampf gegen die exorbitanten Energiepreise. Was dagegen zu tun sei, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Eine Mehrheit der EU-Staaten (darunter Frankreich und Italien) fordert einen Gaspreisdeckel, eine Minderheit (darunter Deutschland und die Niederlande) sind dagegen.
Der Deckel solle »dynamisch« sein, damit Europa auch weiterhin als guter Kunde gutes Geld bezahle, auch wenn andere Länder mehr böten. Berlin hingegen sieht darin die Gefahr einer Preisspirale nach oben. Als problematisch wird in Europa der Scholz’sche »Doppelwumms« gesehen, der es Deutschland erlaube, seinen Energiebedarf durch Kredite zu günstigen Konditionen zu finanzieren – Bedingungen, die höher verschuldete Länder nicht haben.
Eine Idee ist, einen solchen Wumms an den Finanzmärkten für ganz Europa aufzunehmen. Deutschland und die Niederlande hingegen würden lieber bestehende Budgets ausschöpfen, bevor es an die Kapitalmärkte geht. Gas solle, so ein Vorschlag der Kommission, nach dem Vorbild der Impfstoffbeschaffung eingekauft werden. Dann träte die EU als Käufer auf, und nicht eine Reihe miteinander konkurrierende Staaten.
Oder, wie Clausewitz zwar nicht über die EU, ihr aber lange vor ihrer Existenz ins Stammbuch schrieb: »Was diesem Koloß an Einheit und innerem Staatsverbande fehlt, ersetzt er durch Geld«.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: EU droht Grabenkampf um Gaspreise
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Ursula von der Leyen will mit gemeinsamen Gaskäufen und Schulden Europa stärken
3. Wird Hamburg chinesisch?
Wenn man im Ausland unterwegs ist, in Afrika oder auf dem Balkan, dann kann man es schon überall sehen. Und vielleicht ist es auch nichts Schlimmes. Vom Süden in den Norden, quer durch die Blue Mountains von Jamaika beispielsweise, führt ein nagelneuer Highway, wie er auch von Mannheim nach Frankfurt führen könnte – oder halt vermutlich auch nicht mehr, heutzutage.
Gebaut wurde die Straße von China, das mitten in den Bergen auch ein »Camp« hinterlassen hat, das verdächtig an Nordkorea erinnert. Das Reich der Mitte interessiert sich eben sehr für Bauxit, und das gibt es da in der Karibik. Aber die Jamaikaner profitieren natürlich auch! Es durften etwa die Synchronschwimmerinnen der Insel in China trainieren. So hat jeder etwas davon.
Wer etwas davon hat, wenn der chinesische Cosco-Konzern sich weite Teile des Hamburger Hafens unter den Nagel reißt, ist noch nicht ganz klar. Der Hafen Piräus gehört ihnen schon, auch sonst kauft Peking im großen Stil europäische Häfen. Einen chinesischen Einstieg bei einem Containerterminal in Hamburg haben sechs Ministerien geprüft – und alle abgelehnt, unter anderem mit Hinweis auf das mögliche »Erpressungspotenzial« durch Xi Jinpings interessante Großmacht. Mit Abhängigkeiten dieser Art macht Deutschland gegenwärtig, siehe Putin, so seine Erfahrungen. Stichwort: kritische Infrastruktur.
Dennoch möchten Kanzleramt und die Landesregierung der Hansestadt, dass der Deal in trockene Tücher kommt – bestenfalls fix, noch vor dem Staatsbesuch von Olaf Scholz in Peking im November. Es wäre vielleicht nicht das Allerfalscheste, über das geplante Geschäft ein wenig öffentlicher zu diskutieren. Schon vor knapp zwei Wochen schrieb Thorsten Brenner in einem Gastbeitrag, warum es töricht ist, gerade im Hinblick auf China wirtschaftliche Abhängigkeiten für »wechselseitig« zu halten.
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Diese Lehren muss Scholz ziehen, will er gegen China bestehen: Ein Gastbeitrag von Thorsten Benner
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Vier von fünf Deutschen halten AKW-Weiterbetrieb für richtig: Drei Atomkraftwerke laufen länger – und mehr als 80 Prozent sind mit dem Machtwort von Bundeskanzler Olaf Scholz einverstanden. Nur bei der Anhängerschaft von zwei Parteien fällt die Zustimmung niedriger aus.
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15-jährige Schülerin stirbt nach Schlägen von Sicherheitskräften: Bei den Protesten in Iran ist erneut eine junge Frau getötet worden: Eine Schülerin wurde von Sicherheitskräften offenbar so schwer misshandelt, dass sie ihren Verletzungen erlag. Ein weiteres Mädchen liegt im Koma.
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Polizei geht von politischem Hintergrund aus: Nach einem mutmaßlichen Brandanschlag auf ein Haus, in dem Ukrainer untergebracht waren, ermittelt der Staatsschutz. Zuvor hatte es dort Hakenkreuzschmierereien gegeben. Die Bundesinnenministerin kündigte ihren Besuch an.
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Mitarbeiterinnen der Bank of Ireland dürfen in den Wechseljahren zu Hause bleiben: Frauen leiden in ihren Wechseljahren mitunter so sehr, dass sie in den Vorruhestand gehen. Die Bank of Ireland will betroffene Mitarbeiterinnen nun unterstützen – und gewährt ihnen bis zu zehn freie Tage im Jahr.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Warum Tina Müller als CEO bei Douglas ausscheidet: Chefwechsel bei der Parfümeriekette Douglas: Nach fünf Jahren an der Spitze gibt Tina Müller die operative Leitung ab, es übernimmt ein harter Sanierer. Die Managerin muss nun von der Seitenlinie zusehen .
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Wieso Berliner Ermittler so lange glaubten, Attila Hildmann sei türkischer Staatsbürger: Der wegen des Verdachts der Volksverhetzung gesuchte Attila Hildmann hat sich in die Türkei abgesetzt. Die Behörden glaubten lange, er könne nicht ausgeliefert werden – wegen einer falschen Angabe im Berliner Melderegister .
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Die vier gefährlichsten Piratinnen der Weltmeere: Sie kaperten Schiffe, plünderten und mordeten. Trotzdem wurden die Piratinnen Mary Read und Anne Bonny, Grace O’Malley und Cheng I Sao zu gefeierten Volksheldinnen – weil sie kühn alle Konventionen kippten .
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Seht her, wir haben verstanden: Politisch, schmerzhaft, zäh: Mit »Blutbuch« wird die Geschichte einer non-binären Erzählfigur ausgezeichnet. Einige ätzen, damit feiere sich ein elitäres Establishment selbst. Aber eine Jury-Auszeichnung ist eben kein Publikumspreis .
Was heute weniger wichtig ist
Judi Dench, 87, ärgert sich über die so erfolgreiche wie umstrittene Netflix-Serie »The Crown«. Die Schauspielerin (u.a. »James Bond«, »Mord im Orient Express«) ist nicht etwa darüber irritiert, nicht besetzt worden zu sein (etwa als Queen Mum), sondern über »die Grenzen zwischen historischer Genauigkeit und plumper Sensationsgier«. Die würden in dieser Serie nämlich verwischt, schrieb Dench in einem offenen Brief an die Zeitung »The Times«.
Tatsächlich wird »The Crown«, das die Geschichte des englischen Königshauses seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erzählt, immer heikler, je mehr es in die Gegenwart hineinerzählt. Namentlich geht es um eine Folge in der fünften Staffel, darin sich Prinz Charles über seine Mutter beschwert und von Prinzessin Diana trennt. Dies sei »auf grausame Art ungerecht gegenüber den Individuen« und schade »der Institution, die sie repräsentieren«, so Dench. Sie unterstütze zwar künstlerische Freiheit, schreibt die Schauspielerin, die selbst mehrmals eine britische Königin verkörpert hat, allerdings müssten fiktionale Elemente entsprechend gekennzeichnet sein. Andernfalls könnten Menschen »vor allem im Ausland« ein falsches Bild von den Royals bekommen.
»The revolution will not be televised«, sang einst Gil Scott-Heron und hatte recht. It will be streamed.
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Dianas Freundin Jemima Khan über »The Crown«: Kein Mitgefühl, kein Respekt
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: Die Regierungserklärung des Kanzlers habe »kaum etwas Konkretes« enthalten, kritisierte Oppositionsfrüher Friedrich Merz im Bundestag
Cartoon des Tages: Alles nur ein Versehen?
Illustration: Klaus Stuttmann
Und heute Abend?
Lesen! Wie versprochen folgt heute nun der zweite Teil des längsten Satzes aus dem längsten Roman der Welt, »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« von Marcel Proust. Was bisher geschah: kontemplative Betrachtung der Möblierung des Salons der Madame Verdurin unter spezieller Berücksichtigung von Arrangement und Sonnenlicht. Weiter geht’s:
(…) eine merkwürdige Einsprengung aus sonderbaren und überflüssigen Objekten, jenen Dingen, die noch aussehen, als kommen sie eben erst aus der Verpackung hervor, in der sie als Geschenk überreicht worden sind, und die das ganze Leben hindurch bleiben, was sie zunächst gewesen sind, nämlich Geschenke zum 1. Januar, alle jene Gegenstände endlich, die man von den anderen nicht hätte trennen können, die aber für Brichot, den alten Besucher der Verdurinschen Feste, eine Patina und Weichheit bekommen hatten, wie sie Dingen eigen sind, denen ein geistiges Abbild ihrer selbst in unserem Innern eine Art von Tiefe hinzuzufügen scheint – alles dies ließ perlend in ihm jeweils Töne erwachen, welche in seinem Herzen geliebte Anklänge weckten: verworrene Erinnerungen, die gerade hier in diesem ganz und gar die Gegenwart verkörpernden Salon, indem sie vereinzelte Lichtflecke schufen – so wie an einem schönen Tage die Sonne im Viereck geradezu in die Atmosphäre eines Raumes hineingezeichnet – die Möbel und Teppiche gleichsam ausschnitten und mit einer Rahmenlinie umzogen, wobei sie von einem Kissen zu einer Blumenvase, einem Hocker zu einem noch lose anhaltenden Duft, einer Beleuchtungsart zu einem Vorherrschen bestimmter Farben hinübereilten und in plastischer und gleichzeitig beseelter Gestalt eine Form vor Augen rückten, welche gleichsam die ideale, allen aufeinanderfolgenden Heimen anhaftende Urgestalt des Salons der Verdurins war.
Wer sich nun, derart ermuntert, an das Original machen möchte, greife bitte unbedingt nach der Übersetzung von Eva Rechel-Mertens!
Eine gute Nacht wünscht Ihnen Ihr
Arno Frank
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