1. Was bedeutet das Kriegsrecht?
Nichts Gutes. Aus gegebenem Anlass muss noch einmal auf eine welthistorische Erst- und Einmaligkeit hingewiesen werden. Noch nie hat ein Staat die Hoheit über weite Territorien eines anderen Staats beansprucht, die er noch nicht einmal erobert hat – oder in denen er sich, wie derzeit Russland im Osten der Ukraine, sogar auf dem Rückzug befindet.
Wenn der Kreml nun in den kürzlich per Dekret und Volksfest annektierten Gebieten Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson das Kriegsrecht ausruft, ist das ein schlechtes Zeiten.
Zumal die von der ukrainischen Armee bedrängte Stadt Cherson wohl gerade von der Zivilbevölkerung geräumt wird – oder werden muss. Das Kriegsrecht erlaubt den Besatzern nun auch offiziell, Telefongespräche abzuhören oder Menschen zum Dienst in Rüstungsbetrieben zu verpflichten. 5000 Menschen sollen bisher »in Sicherheit« gebracht – und damit vermutlich verschleppt – worden sein. Wobei auch diese Frage nur schwer zu beantworten ist .
Weiterhin bemüht sich Russland, mit Drohnen die Infrastruktur und vor allem Stromproduktion der Ukraine lahmzulegen. Zugleich versucht Putin offenbar, seine Freunde im Westen mit kleinen Präsenten zu umwerben. So soll Silvio Berlusconi mit Wodka beschenkt worden sein. Saluti!
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Interview mit General Sergej Surowikin: Bevor Putin das Kriegsrecht verhängte, hatte ein TV-Auftritt für Aufsehen gesorgt. Erstmals sprach ein hoher General offen über die schlechte Lage an der Front – und bereitete damit den Boden für die Entscheidung des Präsidenten. Lesen Sie hier, was hinter dem ungewöhnlichen Interview von General Surowikin steckt .
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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Finnland will Grenzzaun zu Russland bauen: Die Grenze zwischen Finnland und Russland ist 1300 Kilometer lang. Nun will das Parlament in Helsinki ein Pilotprojekt für die Errichtung eines Grenzzauns unterstützen. Alle Parteien sind mit dem Vorschlag einverstanden.
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Iran schickt offenbar Ausbilder zur Drohnenschulung auf die Krim: Es wird als Zeichen für die wachsende Nähe zwischen Iran und Russland gewertet: Teheran entsendet laut »New York Times« Experten auf die Krim. Sie sollen demnach Russen im Umgang mit Drohnen unterrichten.
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Klingbeil gesteht Fehler der SPD in der Russlandpolitik ein: In der Ukraine tobt der Krieg, und die SPD muss ihre frühere Beziehung zu Moskau hinterfragen. »Heute geht es darum, Sicherheit vor Russland zu organisieren«, sagt Lars Klingbeil – und listet vier Fehler auf.
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»Ich sehe darin einen Versuch, die ukrainischen Streitkräfte abzulenken«: Der belarussische Machthaber Lukaschenko lässt Tausende russische Soldaten ins Land, angeblich für den Grenzschutz. Politanalyst Artjom Schraibman über die Hintergründe – und die Frage, ob Belarus bald in den Krieg eintritt .
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
2. Antiblockiersystem für den Winter?
Beim Kraftfahrzeug ist das Antiblockiersystem (ABS) im Grunde ein geregeltes Stottern, damit der Reifen beim Bremsen nicht die Haftung verliert. Bei der Strompreisbremse, von der mein Kollege Stefan Schultz zu berichten weiß, geht es allerdings nicht um das Abstottern exorbitanter Rechnungen.
Nach Plänen der Bundesregierung, die dem SPIEGEL vorliegen, sollen Stromnutzer einen bestimmten Prozentsatz ihres geschätzten Vorjahresverbrauchs zu einem fixen und vergünstigten Preis bekommen. Wo genau dieser Preis liegt und wie groß der gedeckelte Anteil ist? Noch nicht klar. Man wolle sich aber »soweit möglich und sinnvoll« an den Vorschlägen für die Gaspreisbremse orientieren. Hier sind seit März etwa 80 Prozent des Vorjahresverbrauchs gedeckelt.
Wer soll das bezahlen, wer hat so viel Geld? Das sind Stromproduzenten selbst, die nach dem Merit-Order-Prinzip bezahlt werden. Dieses Prinzip geht im Prinzip und vereinfacht so, dass die teuerste Stromquelle den Preis bestimmt. Gegenwärtig sind das die – momentan besonders teuren – Gaskraftwerke. Betreiber aller anderen Kraftwerkstypen, namentlich kostengünstigen Erneuerbaren, fahren also riesige Profite ein. Eben jene sollen nun abgeschöpft beziehungsweise gedeckelt werden.
Wobei es vielleicht nicht ohne Ironie ist, dass ausgerechnet Solar und Wind, bisher subventioniert und doch so wichtig für die Zukunft, vom ganzen unverhofften Reibach nichts haben sollen.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Regierung will Strompreise teilweise deckeln
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Energiekrise: Im Juli wurde mehr Strom aus Gas produziert als im Vorjahr
3. Gibt es eine neue Variantensuppe?
Was mich ganz persönlich betrifft, so habe ich, falls ich denn jemals einen hatte, inzwischen den Überblick längst verloren. Also, was »das Virus« und seine familiären Entwicklungen angeht. Die erweisen sich als verwickelter und weitverzweigter als in einem russischen Roman des 19. Jahrhunderts. Es gibt BA.2.75.2, aber auch BQ.1.1, verschwistert mit BA.2.3.20, BA.4.6.3 oder dem erfrischend unkompliziert betitelten XBB.
Man müsste schon Expertin sein, um sich hier noch auszukennen. Oder Experte. Oder einen Experten anrufen, wie es meine Kollegin Julia Köppe getan hat. »Gut, dass Sie anrufen«, sagt darauf der Bioinformatiker Cornelius Römer, denn: »Denn BQ.1.1. ist schon eine Variante, die uns Sorgen macht.« Dann bittet der Forscher darum, ein wenig ausholen zu dürfen.
Er darf. Und was er zu berichten hat, ist nicht eben beruhigend. Fallzahlen, die auf diese Variante zurückgingen, verdoppelten sich derzeit jede Woche, vor allem in Europa und Nordamerika. Außerdem hätte es diese Virusfamilie »besonders in sich«, wie Köppe schreibt. Befürchtet wird nicht nur eine »Doppelwelle«. Sondern auch, dass neue Varianten den Impfschutz umgehen könnten (»Immunflucht«).
Römer empfiehlt angesichts dieser unübersichtlichen Varianten- und Subliniensuppe »eine Boosterimpfung mit dem Omikron-Impfstoff«. Sorgen bereitet ihm auch XBB (wir erinnern uns). Diese Spielart verbreitet sich gerade in Asien mit BQ.1.1.-Geschwindigkeit.
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Lesen Sie mehr: Wie gefährlich ist die neue Variante BQ.1.1?
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BA.2.75.2: Verdirbt uns diese neue Variante den Winter?
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Dein SPIEGEL
Wer Kinder hat, kennt das Problem. Permanent plündert der Nachwuchs das heimische Bücherregal auf der Suche nach Wissen und Unterhaltung oder stibitzt, auf der Suche nach Nachrichten aus aller Welt, sogar den aktuellen SPIEGEL. Das muss nicht sein, dafür gibt es »Dein SPIEGEL« am Kiosk, diesmal mit einem Schwerpunkt zu künstlicher Intelligenz (KI). Wer Kinder hat, hat Kinder mit Smartphones, die damit zu tun haben, ohne dass sie es wissen.
Dabei umgibt uns diese Technologie bereits im Alltag. KI-Systeme helfen Ärztinnen bei der Diagnose, messen Bewegungsdaten von Fußballspielern oder bestimmen über das nächstgezeigte TikTok-Video. In der aktuellen Titelgeschichte erzählt ein Forscher, wie solche Systeme entwickelt werden. Und eine Ethikerin erläutert deren Risiken. Wem ein Heft auf Papier vom Kiosk zu altmodisch ist – künstliche Intelligenzen stellen es für kindliche Intelligenzen auch online bereit.
Was heute sonst noch wichtig ist
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»Wie kann sie Verantwortung übernehmen, wenn sie nicht das Sagen hat?«: Die regierenden Tories eine Opposition in Warteschleife? Im britischen Unterhaus konnten die Abgeordneten der Premierministerin Liz Truss Fragen stellen. Labourchef Keir Starmer nutzte das für eine Abrechnung.
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Trump soll unter Eid aussagen: Eine US-Kolumnistin wirft Donald Trump vor, sie vor 25 Jahren vergewaltigt zu haben. Der Ex-Präsident soll noch an diesem Mittwoch Fragen ihrer Anwälte beantworten – unter Eid.
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Kabinett billigt AKW-Laufzeitverlängerung: Das Kabinett ist der Anordnung von Kanzler Olaf Scholz gefolgt: Es beschloss die geforderte Laufzeitverlängerung für die drei verbliebenen Atomkraftwerke. Jetzt ist der Bundestag am Zug.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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»Eigensinnig, präpotent, arrogant, beleidigend, lächerlich«: In wenigen Tagen soll Giorgia Meloni Ministerpräsidentin Italiens werden. Erste Personalien verraten einen reaktionären Kurs. Doch die Postfaschistin hat Ärger mit ihren Partnern. Wie belastbar ist das rechte Bündnis?
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»Ich kämpfe für eine unterscheidbare CDU«: War früher alles besser in der CDU? Aus Sicht von Parteivize Linnemann braucht sie wieder mehr Profil, muss mehr anecken – und sollte sich nicht nur auf eine Person konzentrieren .
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Sind Wärmepumpen besser als ihr Ruf? Wärmepumpen gelten als Schlüsseltechnologie bei der Energiewende im Gebäudebereich – aber nur bei Neubauten. Eine Auswertung legt nun nahe, dass sie oft auch für Bestandsgebäude geeignet sind .
Was heute weniger wichtig ist
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Uwe Tellkamp, 53, hat wieder etwas gesagt. Der Schriftsteller (»Der Schlaf in den Uhren«) erklärte in Neubrandenburg, Schriftsteller (also nicht »Schriftsteller und Schriftstellerinnen« oder gar »Schriftsteller*innen«) in Deutschland sollten deutlicher Position gegen die Einführung von Gender-Sprachregeln beziehen. Richtig so! Wobei… es nicht unbedingt Aufgabe von Schriftstellerinnen ist, gegen oder für etwas zu sein. Sie sollten in der Regel eben Schrift stellen. Ob sie dabei gendern oder nicht, das ist ihnen noch immer ganz selbst überlassen.
Gleichwohl dürfte dem Träger des Deutschen Buchpreises von 2008 (»Der Turm«) nicht entgangen sein, dass der Preis 2022 an eine nonbinäre Person ging, die sich die Freiheit nimmt, »jemensch« statt »jemand« zu schreiben. Tellkamp, Meister des Wortes, begründete seinen Standpunkt mit dem Hinweis, »die Sprache« sei »wie eine tausendstimmige Orgel« und das Gendern »eine Vergewaltigung der Sprache«.
Leider liefe dies, nähmen wir den Dichter beim Wort, auf die Vergewaltigung einer tausendstimmigen Orgel hinaus. Gewagt, gewagt, Herr Studienrat! Künstler, das dürfen wir nicht vergessen, haben eine lebhafte Fantasie! Oder, wie Tellkamp schreiben dürfte, »Phantasie«.
Cartoon des Tages: Wir senken die Stromkosten
Illustration: Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
Es ist unverkennbar Buchmesse, und für Lesemuffel sei deshalb eine kleine Anregung zur Lektüre angebracht. Heute: ozeanisches Lesen mit Marcel Proust, warum nicht? Bereit? Dann tief Luft holen und mit leicht kränkelnder, von Erinnerungsseligkeit umflorter Stimme einfach mal halblaut vorlesen:
»Diejenigen der alten Verdurinschen Möbel, die hier, manchmal sogar unter Beibehaltung einer bestimmten Anordnung, erneut Platz gefunden hatten und denen ich selbst in La Raspeliere wiederbegegnet war, fügten in den gegenwärtigen Salon Teile des alten ein, die augenblicksweise mit nahezu halluzinatorischer Deutlichkeit jenen früheren noch einmal heraufbeschworen, gleich darauf aber fast unwirklich schienen, weil sie inmitten der umgebenden Wirklichkeit Bruchstücke einer untergegangenen Welt, die man an einem anderen Orte wähnte, wiedererstehen ließen: ein aus Träumen entstiegenes Kanapee zwischen neuen, sehr wirklichen Sesseln, kleine, mit rosa Seide bezogene Stühle, eine durchwirkte Tischdecke auf dem Spieltisch, die zur Würde einer Person erhoben schien, denn wie eine Person besaß sie eine Vergangenheit, ein Gedächtnis, behielt sie doch im kalten Dunkel des Salons am Quai Conti jene Bräunung bei, welche die durch die Fenster der Rue Montalivet einfallende Sonnenstrahlung (deren genaue Stunde die Decke ebenso gut kannte wie Madame Verdurin selbst) bewirkt hatte, sowie die, die durch die Glasfenster der Gegend bei Doville sich ergoß – wohin man jenes Requisit mitgenommen und wo es den ganzen Tag über den Blumengarten hinweg das tiefe Tal überschaut hatte in Erwartung der Stunden, da Cottard und der Geiger ihre Kartenspiele absolvieren würden – oder auch ein Strauß aus Veilchen und Stiefmütterchen in Pastell, Geschenk eines befreundeten großen Künstlers, der seither verstorben war, einziges hinterbliebenes Fragment eines Lebens, das sonst keine Spuren hinterlassen hatte; jetzt sprach nur dieses Bild noch – in ganz summarischen Zügen – von einem großen Talent und von einer langen Freundschaft, als einziges Überbleibsel erinnerte es noch an Elistirs sanften Blick, an die schöne, füllige und traurige Hand, mit der er immer gemalt hatte; ein gefälliges Durcheinander, eine Wirrnis aus Geschenken der Getreuen, die der Hausherrin überallhin gefolgt waren und schließlich die feste Prägung eines Charakterzuges, einer Schicksalslinie angenommen hatten, eine Fülle von Blumensträußen und Pralinenschachteln, die hier wie dort in einer ganz gleichen Art von üppigem Wachstum wuchernd sich entfalteten…«
Hier machen wir mal eine Pause, die gern für ein Nickerchen genutzt werden kann. Morgen dann exklusiv: Teil zwei des längsten Satzes aus »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«.
Einen üppig wuchernden Abend wünscht herzlich
Ihr
Arno Frank
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