Machtwort oder Menetekel?
Wie das Machtwort des Kanzlers von vorgestern Abend zu bewerten ist, darüber gibt es bis heute Diskussionen. Olaf Scholz hatte im Streit der beiden Koalitionspartner Grüne und FDP um Laufzeiten dreier Atomkraftwerke von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht und entschieden, dass Isar 2 in Bayern, Neckarwestheim in Baden-Württemberg und Emsland in Niedersachsen bis spätestens 15. April 2023 weiterlaufen sollen.
Die einen sagen, es lasse auf einen katastrophalen Zustand der Koalition schließen, wenn ein Kanzler zu diesem drastischen Mittel greifen müsse. Es zeige auch, dass Scholz der Respekt seiner Minister abhandengekommen sei, wenn er sich anders nicht habe durchsetzen können.
Die anderen sehen in der Entscheidung einen schlauen Schachzug, mit dem zumindest die Protagonisten des Atomkraftstreits zufrieden sein dürften: Der Kanzler selbst, weil er eben doch gezeigt habe, dass er führen könne. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, weil er die Grünen nicht in ihrem Wesenskern als Anti-Atomkraft-Partei hätte angreifen müssen und jetzt frei sei, einen vernünftigen Kompromiss mitzutragen. Bundesfinanzminister Christian Lindner, weil er es gewesen sei, der sich wenigstens ein bisschen habe durchsetzen können.
Politiker Habeck, Scholz, Lindner im Mai vor Schloss Meseberg
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JOHN MACDOUGALL / AFP
Ich neige zu letzterer Deutung. Zwar wäre es besser gewesen, wenn der Kanzler auf weniger dramatische Weise hätte schlichten können. Zwar wird jetzt auch immer wieder die Geschichte bemüht und betont, Kanzler Helmut Schmidt (SPD) habe nie von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht; von seinen Nachfolgern Helmut Kohl (CDU), Gerhard Schröder (SPD) und der Nachfolgerin Angela Merkel (CDU) sei es ebenfalls nicht bekannt. Doch von den Genannten hat auch niemand ein Dreier-Bündnis anführen müssen. Neue Zeiten, neue Sitten.
Etwas anderes gilt aber auch: Das letzte, was die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes in diesen angespannten Zeiten gebrauchen können, ist eine Regierung im Zerwürfnis. Auseinandersetzungen zwischen so unterschiedlichen Partnern müssen sein, auch Streit gehört mal dazu, als Dauerzustand ist er aber nicht zumutbar. Jetzt muss Ruhe einkehren und souverän regiert werden. Nur wenn dies geschieht, wird sich die positive Deutung des Machtwortes durchsetzen können.
Heute früh wird der Gesetzentwurf zum sogenannten Streckbetrieb dem Kabinett vorgelegt und dort wahrscheinlich beschlossen. Dann durchläuft er das parlamentarische Verfahren. Mein Kollege Gerald Traufetter aus dem Hauptstadtbüro hat gestern einen ersten Entwurf des Textes zugespielt bekommen, der unter der Federführung des Wirtschaftsministeriums entstanden ist. Der Text ist wie gewohnt trocken formuliert, über einen Satz aber hat sich mein Kollege dann doch amüsiert: »Signifikante Auswirkungen auf Einzelpreise und auf das Preisniveau, insbesondere auf das Verbraucherpreisniveau, werden nicht erwartet.«
Der Satz ist als Seitenhieb gegen die FDP und insbesondere deren Chef Christian Lindner zu verstehen, der Atomkraftwerke gern und – nicht ganz zutreffend – als große Kostensenker darstellt.
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Truss muss sich rechtfertigen
Premierministerin Truss
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GEOFF CADDICK / AFP
Heute Mittag muss sich die britische Premierministerin Liz Truss einer Fragestunde im Parlament stellen, es wird vor allem um ihre Kehrtwende in der Steuerpolitik gehen. Ihre Umfragewerte und auch die der Konservativen Partei sind dramatisch abgestürzt. Truss muss um ihren Posten kämpfen – obwohl sie erst seit sechs Wochen im Amt ist. Und von den sechs Wochen müssten eigentlich noch die zehn Tage Staatstrauer um die Queen abgezogen werden, die auch eine Schonfrist für Truss gewesen sind.
Vielleicht wird nur das einmal von ihr übrig bleiben: Wie sich eine Kurzzeit-Mächtige mit ihren Auftritten in der Trauerzeit für wenige Momente an die historische Größe einer Langzeit-Mächtigen anlehnen durfte.
Ministerpräsidenten im Schloss
Schloss Herrenhausen
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Julian Stratenschulte/ picture alliance / dpa
Heute treffen sich in Hannover die Chefs der Staatskanzleien, um die Ministerpräsidentenkonferenz am Donnerstag und Freitag vorzubereiten. Den Vorsitz der Konferenz hat das Land Niedersachsen. Der wichtigste Tag wird der Freitag sein: Die Ministerpräsidenten haben Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und Bundesfinanzminister Christian Lindner zu ihrem Treffen in Schloss Herrenhausen eingeladen.
Habeck habe bereits zugesagt, so wissen meine Kollegen aus dem Hauptstadtbüro. Es wird um Energiefragen gehen, natürlich, um Energiesicherheit, aber auch um die dringliche Flüchtlingsfrage. Da Bundeskanzler Olaf Scholz diesmal nicht dabei sein wird, sondern erst wieder Mitte November dazukommt, wird es, so schätzen es meine Kollegen ein, in den Finanzierungsfragen zum 200-Milliarden-Entlastungspaket deshalb wohl keinen Durchbruch geben.
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Luisa Neubauer und Greta Thunberg 2019 in Hamburg
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Adam Berry/ Getty Images
… sind Greta Thunberg und Luisa Neubauer. Heute beginnt der reguläre Betrieb der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, und die Klimaaktivistinnen bringen neue Bücher heraus. Das »Das Klima-Buch« der Schwedin Thunberg erscheint kurz nach der Messe am 27. Oktober. »Gegen die Ohnmacht«, das Buch der Deutschen Luisa Neubauer, ist gestern erschienen. Auch vier Jahre nach der Gründung von Fridays for Future warnen die beiden jungen Frauen unnachgiebig vor den Folgen des Klimawandels – und haben ja auch recht damit. Doch auf sich selbst haben sie einen gelassenen Blick.
Freundlich, sogar fröhlich antwortete Greta Thunberg vor einigen Tagen im TV-Interview auf die Fragen der Moderatorin Sandra Maischberger. Eine Antwort auf die Frage nach ihren Zukunftsplänen wirkt sogar so, als spiele sie selbstironisch auf die Essstörungen an, unter denen sie phasenweise leidet: »Selbst wenn ich Köchin werde, was nicht passieren wird, könnte ich noch Klimaaktivistin sein.«
Luisa Neubauer wiederum erinnert sich in ihrem Buch an ihren 2016 verstorbenen Vater. Sie porträtiert ihn als »Boomer, der um alles in der Welt nicht aufgehört hätte, Fleisch zu essen«, als jemanden, der »auf dem Papier« in ihrem Leben »die Rolle des Antagonisten eingenommen hätte«. Da das richtige Leben aber nicht auf dem Papier stattfindet, und Luisa Neubauer das weiß, schreibt sie über ihren Boomer-Vater anrührend und liebevoll.
Mit Luisa Neubauer werde ich übrigens am Samstag auf der Buchmesse von 10.30 bis 11.30 Uhr im Saal Harmonie über ihr neues Werk sprechen. Wenn Sie auch auf der Buchmesse sind, kommen Sie doch gern vorbei. Auf SPIEGEL.de finden Sie in den nächsten Tagen unter SPIEGEL BESTSELLER BUCHWOCHE Beiträge zur Messe.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihre Susanne Beyer