Laufzeiten, steckengeblieben
Nein, es hat über Nacht keine Einigung gegeben. Sie haben nichts verpasst. Es ist auch kein Traum, sondern traurige Realität, dass Grüne und FDP sich nach Monaten der Streiterei und zuletzt drei Krisengesprächen binnen weniger Tage nicht einigen konnten, wie lange die deutschen Atomkraftwerke noch laufen sollen.
Olaf Scholz, Robert Habeck, Christian Lindner (v.l.)
Foto: CHRISTIAN MANG / REUTERS
Die Grünen haben ihre Position soeben auf dem Parteitag zementiert: Nur zwei der drei AKW sollen länger laufen, und nur bis zum 15. April 2023. Damit hat sich Robert Habeck auf angenehmste Art selbst gefesselt. Schau mal, kann er zu FDP-Chef Christian Lindner sagen, ich ziehe hier, zerre dort, aber da ist kein Spielraum für Kompromisse. Lindners Partei hat wiederum gerade mit dem Atomthema auf Wahlplakaten in Niedersachsen verloren. Und Lindner scheint daraus ebenfalls den Zwang abzuleiten, hart bleiben und Laufzeiten mindestens bis 2024 verlangen zu müssen. Derweil fallen die Blätter von den Bäumen, der Herbst ist da, der Russe liefert kein Gas, die Sorgen wachsen.
Theoretisch gibt es einen Mann an der Spitze der Bundesregierung, der die Richtlinienkompetenz und damit die Macht hätte, eine Lösung durchzusetzen. Man vergisst ihn leicht, weil er zum Atomthema keine klare Position bezieht. Doch Olaf Scholz ist noch Bundeskanzler. In der größten Energiekrise der deutschen Geschichte sollte die AKW-Frage nur ein Problem von der Größe einer Blindschleiche sein, verglichen mit der Klapperschlange Gasversorgung. Doch weil Scholz den Moment für einen gesichtswahrenden Kompromiss verstreichen ließ, baut sich dieser Konflikt nun wie eine Schwarze Mamba vor der Koalition auf.
Wie will die Ampel diese Gefahr bannen? Angesichts von Habecks Fesseln liegt es nahe, für die FDP eine Kompensation zu suchen. Vielleicht Gasbohrungen in der Nordsee? Oder Fracking in Nordhessen? Oder ein völlig anderes Thema? Vielleicht wachen wir morgen mit einer Antwort auf. Sicher ist es nicht.
Deutschlands Speicher
Eine gute Nachricht gab es ja kürzlich: Die deutschen Gasspeicher füllen sich schneller, als geplant. Das hat die Ampelkoalition gut hinbekommen, sei hier einmal festgehalten. Es bleibt die Frage: Wie lange hält der Vorrat? Mein Kollege Holger Dambeck hat sich an einer Modellrechnung versucht, aber es ist eine Rechnung mit vielen Unbekannten. Denn es ist unklar, wie sparsam die Privatleute in diesem Winter heizen, oder wie verlässlich weitere Gaslieferungen sein werden. Dambeck hat daher mit Szenarien gearbeitet, und die Ergebnisse sind nicht restlos entmutigend, um es vorsichtig zu sagen.
Erdgasanlage in Niedersachsen
Foto: Sina Schuldt / dpa
Sollte es gelingen, den deutschen Gaskonsum um zehn oder gar 20 Prozent zu drosseln, dann »sollten die Vorräte reichen, um grundsätzlich gut durch den Winter zu kommen«, schreibt der Kollege. »Dies setzt jedoch einen nicht zu kalten Winter sowie eine stabile Liefersituation voraus.« Und wie verwundbar die Gasinfrastruktur in unserem Land ist, das hätten zuletzt die Angriffe auf die Nord-Stream-Pipelines gezeigt. Und LNG-Tanker könnten auch havarieren.
Fest steht: Sollte Deutschland in diesem Winter im Schnitt so viel Gas verbrauchen wie in den Vorjahren, wäre »ein Gasnotstand kaum zu vermeiden«, so Dambecks Fazit. »Die Speicher wären dann wohl im April komplett geleert.« Seinen Bericht finden Sie heute auf SPIEGEL.de.
Lauterbachs Löcher
In Berlin tagt seit gestern der World Health Summit. Das ist eine internationale Gesundheitskonferenz, auf der, Sie ahnen es, Gesundheitsminister Karl Lauterbach heute sprechen wird. Er wird referieren zu der Frage, mit welcher gesundheitspolitischen »Architektur« sich künftige Pandemien besser managen lassen.
Karl Lauterbach
Foto: via www.imago-images.de / imago images/Political-Moments
Leider hat Lauterbachs Fokus auf die Pandemie, manche nennen es Obsession, dazu geführt, dass die Architektur des restlichen Gesundheitssystems in Deutschland instabil ist. So drohen den Versicherten nächstes Jahr höhere Krankenkassenbeiträge, weil im System ein zweistelliges Milliardenloch klafft, wie unser Wirtschaftsteam im neuen SPIEGEL berichtete. Auch die Lage der Krankenhäuser ist dramatisch. Der Grünen-Politiker Janosch Dahmen warnt im SPIEGEL: »Vielerorts sind insbesondere die Notaufnahmen und der Rettungsdienst völlig überlastet. Sie können ihre Patienten im Notfall nur noch schwer einer geeigneten Klinik zuweisen oder auf weiterversorgende Stationen verlegen.«
Doch auf der Gesundheitskonferenz, wird Lauterbach unter Leuten sein, die das Coronavirus noch so ernst nehmen wie er. Im Rest Deutschlands ist die Disziplin für Masken, Tests und Abstandsregeln stark gesunken, und das gilt auch für die Autorin dieser Zeilen.
Auch die meisten Delegierten der Grünen tanzten ausgelassen und ohne Maske auf der Party ihres Bundesparteitags. Kein Wunder: Der DJ und Grünen-Chef Omid Nouripour spielte echte Party-Klassiker aus den 90er Jahren, wie »Jump around« von House of Pain.
Seither hat Nouripour doppelt Ärger, nicht nur wegen der Masken. Der Text von »Jump around« sei sexistisch und gewaltverherrlichend, heißt es, da würden Polizisten beleidigt und Waffen bejubelt (wobei letzteres für Grüne ja neuerdings ok ist, je nach Weltregion). So ein Song bei den Grünen, das sei Doppelmoral, rufen die Kritiker. Was sind das wohl für Leute, die sich an Wochenenden hinsetzen und amerikanische Songtexte der 90er Jahre ins Hochdeutsche übersetzen und auf Grünen-Tauglichkeit prüfen? Wo doch klar sein müsste, dass grüne Partymäuse im Zweifel eh nur die Worte »Jump! Jump!!!!« erkennen und mitgrölen? Dieser Song soll ein Beleg dafür sein, dass Nouripour oder gar sämtliche Grüne es nicht ernst meinen mit den Frauenrechten? Was würden die Rapper von House of Pain wohl dazu sagen? Vermutlich so etwas wie: »Bitch, please!« Aber in seriösen Newslettern verbieten sich solche Worte.
Liberale Aggression
Demo sogenannter Querdenker in Leipzig (2021)
Foto: STRINGER / AFP
Wie denken eigentlich die sogenannten Querdenker? SPIEGEL-Autor Arno Frank stellt Ihnen heute das neue Buch der Soziologen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey vor, die sich unter dem Titel »Gekränkte Freiheit« mit der Denkwelt dieser Szene befasst haben. Dabei stießen sie auf eine Haltung, die sie »libertären Autoritarismus« nennen. Libertär und autoritär zugleich zu sein, geht das überhaupt?
Amlinger und Nachtwey haben bei den Querdenkern Menschen mit einem »radikalen Freiheitsverständnis« entdeckt, die für grenzenlose Freiheit von äußeren Zwängen und ein absolut gesetztes Ideal der Selbstbestimmung eintreten. Wer diesen Menschen Grenzen setzen will, sei es durch Coronamaßnahmen oder nur durch die Verwendung gendersensibler Sprache, müsse mit Ablehnung, aggressivem Widerstand, gar Hass rechnen.
Als ehemalige AfD-Reporterin überrascht mich nicht, was Amlinger und Nachtwey herausgearbeitet haben. Es passt zu meinen Erlebnissen mit Teilen dieser Partei und selbsterklärten Liberalen wie Beatrix von Storch. »Im AfD-Milieu wird ein paradoxes Verständnis von Freiheit gepflegt, nämlich ein im Kern unfreies, intolerantes und autoritäres«, schrieb ich 2017. »Es ist ein ausgrenzender Vulgärliberalismus, der ganze Wissenschaftszweige wie die Klimaforschung mit einem Handstreich vom Tisch fegt. Wer sich gegen deftige Sprüche nicht behaupten kann, heißt es in der AfD, sei der Meinungsfreiheit eben nicht gewachsen.«
Umgekehrt ist in diesen Kreisen das Wehklagen über »Redeverbot« oder »Zensur« groß, wenn sie allzu entschiedene Gegenwehr gegen ihre Positionen spüren, oder gar eine der seltenen Einschränkungen in sozialen Medien. Solche »Liberale« sind wie die Männer, die Herbert Grönemeyer besingt: »Außen hart und innen ganz weich.«
Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:
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Selenskyj ruft Bevölkerung zum Stromsparen auf, Belarus teilt Waffen aus: Zahlreiche Städte im Osten der Ukraine stehen unter russischem Beschuss. Kiew appelliert, den Stromverbrauch zu senken. Und: Soll sich die Ukraine westliche Waffen ausleihen? Das geschah in der Nacht.
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»Wir wissen nicht, wofür wir kämpfen sollen, aber jetzt müssen wir es eben«: Mehr als 220.000 Russen sind für den Krieg in der Ukraine bereits eingezogen worden, erste Reservisten an der Front gefallen. Die Mobilmachung läuft chaotisch – und dennoch haben sich viele mit der Lage arrangiert.
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Wie Russland die Augen vor seiner Kolonialgeschichte verschließt: Russland hat jahrhundertelang andere Länder und Völker unterdrückt. Warum fällt es vielen Russen so schwer, sich das einzugestehen? Am verworrensten ist ihre Beziehung zur Ukraine.
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»Liebe deutsche Freunde, danke für alles«: In seiner Position als ukrainischer Botschafter hat Andrij Melnyk unerbittlich für sein Land gekämpft. Nun ist er in die Ukraine zurückgekehrt. Auf seine Zeit in Deutschland blickt er auch mit Stolz.
Hier geht’s zum aktuellen Tagesquiz
Die Startfrage heute: Welche Partei gründete der spätere französische Präsident Emmanuel Macron im Jahr 2016?
Gewinnerin des Tages…
… ist Martina Rosenberg. Nie gehört? Nicht Ihre Schuld, denn die Geheimnistuerei gehört zu Rosenbergs Aufgabenbeschreibung: Sie leitet den Militärischen Abschirmdienst (MAD), also den militärischen Geheimdienst des Landes, als erste Frau in dieser Position.
Martina Rosenberg (2018)
Foto: Cornelia Riedel / Bundeswehr / dpa
Heute kann man sie live und in Farbe sehen, denn das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestags wird heute drei Stunden lang die Chefs von Bundesnachrichtendienst, Bundesamt für Verfassungsschutz und eben MAD in einer öffentlichen Sitzung befragen, die auf der Internetseite des Bundestags übertragen wird. Meine in Geheimdienstfragen bewanderten Kollegen erwarten sich inhaltlich nicht allzu viel von der Sitzung – wie sollte man auch öffentlich über sensible Sicherheitsfragen verhandeln? Und doch ist es eine Chance für Rosenberg, im Amt seit November 2020, sich und ihren Dienst zu präsentieren.
Dass es übrigens gar nicht so wenige Frauen im Geheimdienst- und Spionagegeschäft gab und gibt, dass manche auf ihren Missionen sogar Weltgeschichte geschrieben haben, das haben Ann-Katrin Müller und Maik Baumgärtner aus unserer Redaktion in ihrem Buch »Die Unsichtbaren« beschrieben, das in wenigen Tagen erscheint. Ich bin sehr gespannt auf die Lektüre.
Die jüngsten Meldungen aus der Nacht
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Mehrheit der Deutschen geht trotz Krankheit zur Arbeit – auch mit Corona: Krankheiten oder Beschwerden richtig auskurieren? Das kommt laut einer Umfrage für viele Deutsche nicht infrage – sie schleppen sich an den Arbeitsplatz. Daran hat offenbar auch die Pandemie wenig geändert.
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US-Präsident Biden kritisiert Steuerpläne von britischer Premierministerin als »Fehler«: Derartige Aussagen über die Innenpolitik eines verbündeten Landes sind eher ungewöhnlich: US-Präsident Joe Biden hat das inzwischen eingestampfte Steuerkonzept von Liz Truss kritisiert.
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Esken fordert Ende der Atomgespräche mit Iran: »Bis hierher und nicht weiter«: SPD-Chefin Saskia Esken plädiert für mehr Härte im Umgang mit Teheran und will einen Schlussstrich unter die internationalen Atomgespräche ziehen. Die EU plant derweil neue Sanktionen.
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Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute
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Interview mit der über die Farben des Universums: Hier spricht die Astrophysikerin Suzanna Randall über die rätselhaftesten Phänomene des Universums. Warum weiße Löcher eine große Überraschung wären – und sie blaue Unterzwergsterne so faszinierend findet.
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Jarvis Cocker und die Kammer des Entdeckens: Der britische Musiker sammelt seit seiner Kindheit Objekte, die ihm etwas bedeuten. Jetzt hat Cocker daraus das Buch »Good Pop, Bad Pop« gemacht. Eine Inventur seines Lebens.
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Gefangen in Kambodschas Scam-Fabriken: Der Taiwaner Wu Yu-fan hoffte, in einem Callcenter in Kambodscha viel Geld zu verdienen. Doch dort wurde er eingesperrt und zu Online-Betrug gezwungen. Als er entkommen wollte, erfuhr er, wozu die mächtigen Hinterleute bereit sind.
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Sie wollen regieren – und sie wollen sich selbst dabei nicht stören: Streit bei den Grünen? Ach was. Mit dem Zauberwort »Verantwortung« versucht die Führung, jede Zumutung für die Basis erträglich zu machen. Im Atomstreit mit der FDP könnte das noch problematisch werden.
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihre Melanie Amann