1. Gar verkehrt
Mehr als ein Jahr liegt die Flutkatastrophe im Ahrtal inzwischen zurück. Und noch immer wirkt sie nach. Bei den Menschen, die Angehörige verloren haben – mehr als 130 Todesopfer sind zu beklagen –, bei Betroffenen, deren Zuhause weggespült wurde, in der Politik, die immer noch damit beschäftigt ist, das Fiasko aufzuarbeiten. Fast immer geht es dabei darum, wer wann warum seiner Verantwortung nicht gerecht geworden ist.
Die erste Politikerin, die Konsequenzen zog, war Anne Spiegel (Grüne), die als Bundesfamilienministerin zurücktrat. Bevor sie die bundespolitische Bühne betrat, war sie in Rheinland-Pfalz Familienministerin und ab Mai 2021 in Personalunion auch Umweltministerin in dem Bundesland. Ausgerechnet kurz nach der Flut trat sie Familien-bedingt einen Urlaub an, statt die Folgen der Naturkatastrophe vor Ort zu managen.
Nun hat die Flut einen zweiten Minister das Amt gekostet. Der Innenminister von Rheinland-Pfalz, Roger Lewentz (SPD), wird seinen Posten räumen. Schon lange forderten CDU und AfD in dem Bundesland, dass Lewentz geht. Der Minister soll die falschen Schlüsse aus Polizeiberichten gezogen haben. Aus dem besonders schlimm betroffenen Ort Schuld lagen frühzeitig Bilder vor, auf denen um Hilfe flehende Menschen zu sehen waren. Lewentz urteilte, es sei keine Katastrophenlage erkennbar.
Im Untersuchungsausschuss tauchten dann sogar Bewegtbilder aus Polizeihubschraubern auf, die das Gegenteil zeigten: Mit Taschenlampen in die Nacht gestrahlte Lichtkegel von Häuserdächern, die nur eins signalisierten: Rettet uns! Diese Videos sollen Lewentz angeblich nicht vorgelegen haben. Durch seine Fehleinschätzung wurden zahlreiche Menschen nicht rechtzeitig evakuiert und flussabwärts von der Flut mitgerissen.
Noch bleibt Lewentz im Amt, bis ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin gefunden ist. Ob der Politiker von seinem Amt als Vorsitzender der Landes-SPD zurücktritt, ist noch offen. Klar ist aber: Die erfolgsverwöhnte Partei in Rheinland-Pfalz steht gewaltig unter Druck. Noch ist der Untersuchungsausschuss mit der Arbeit nicht am Ende. Gut möglich, dass das Thema irgendwann auch die Ministerpräsidentin erreicht. Bisher blieb die im Land und auch auf Bundesebene beliebte Malu Dreyer von allzu bohrenden Fragen verschont. Mit dem Rücktritt ihres Lieblingsministers dürfte sich das nun ändern.
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Lesen Sie hier mehr: Rheinland-pfälzischer Innenminister Lewentz tritt zurück – Der Minister, der die Katastrophe nicht bemerkt haben will
2. Gar gekocht
Ein zweiter Prominenter hat sich heute zu seiner Schuld bekannt: Der einstige Starkoch Alfons Schuhbeck steht seit einer Woche wegen Steuerhinterziehung vor dem Landgericht I in München. Zu Beginn des Prozesses ließ er seine Anwälte ausrichten, er sei womöglich selbst Opfer statt Täter. Nun folgte die Wende: »Ich habe einiges falsch gemacht«, sagt er. »Ich habe mir, meinen Freunden und Bekannten und auch meinen Verteidigern bis zuletzt etwas vorgemacht, weil ich nicht wahrhaben wollte, dass ich unternehmerisch gescheitert bin.« Das sei ihm besonders klar geworden, »als ich diesen Saal erstmals betrat«.
Die Staatsanwaltschaft wirft dem 73-Jährigen vor, unter anderem mithilfe eines Computerprogramms Einnahmen am Finanzamt vorbeigeschleust zu haben. Insgesamt geht es um mehr als 2,3 Millionen Euro an Steuern, die Schuhbeck zwischen 2009 und 2016 in seinem Restaurant »Orlando« und den »Südtiroler Stuben« hinterzogen haben soll.
Der heutige Prozesstag war offenbar auch ein kleines Kammerspiel, wie es oft in meiner Lieblingsserie »Liebling Kreuzberg« mit Manfred Krug zur Aufführung kam: Der Angeklagte verrennt sich, die Verteidigung versucht einzufangen, die Richterin garniert die Monologe mit süffisanten Bemerkungen. Schuhbeck referierte ewig die Vorzüge von Kurkuma-Kapseln, Kardamom und Knoblauch, um dann auf seinen IT-Fachmann im Restaurant zu schwenken und den Olaf Scholz zu geben: »Ich kann mich nicht an Einzelheiten erinnern.« Zwar habe er in den Restaurants keine Kassen manipuliert. Ob er am Computer etwas manipuliert habe, wisse er nicht mehr. Es habe dort immer wieder technische Probleme und Schwierigkeiten bei der Übertragung gegeben.
1200 Rechnungsnummern sollen allerdings allein in den »Südtiroler Stuben« verschwunden sein. »Das spricht jetzt nicht dafür, dass andauernd das Kabel geknickt war«, sagt die Vorsitzende Richterin Andrea Wagner. Am Ende kann sich Schuhbeck einen Seitenhieb auf einen ebenfalls verurteilten bayerischen Steuerhinterzieher nicht verkneifen. »Ich habe das Geld nicht für ein Luxusleben verprasst«, so Schuhbeck. »Ich spiele auch nicht«, sagte er in Anspielung auf seinen Kumpel Uli Hoeneß. Auch »andere Laster« habe er nicht. »Ich habe keine ausländischen Konten oder sonst irgendwo etwas vergraben.« Nun stehe er dennoch »vor den Trümmern meines Lebenswerkes«.
Und wie Hoeneß dürfte Schuhbeck wohl im Gefängnis landen. Nach seinem Geständnis führt an einer Verurteilung kein Weg vorbei. Jetzt geht es darum, wie hoch die hinterzogene Steuersumme ist, die dem TV-Koch nachgewiesen werden kann. Ab einer Summe von einer Million Euro an hinterzogener Steuer droht eine Haftstrafe ohne Bewährung.
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Lesen Sie hier mehr: »Ich habe einiges falsch gemacht« – Schuhbeck legt im Prozess wegen Steuerhinterziehung Teilgeständnis ab
3. Gar verrückt
In der Kaskade des Wohlstands gelten Immobilienbesitzer und -besitzerinnen als jene Klientel, die weit oben zu verorten sind. Wer eine eigene Wohnung oder ein eigenes Haus bewohnt, gilt als gut situiert und finanzstark. In den vergangenen Jahren haben sich viele Menschen allerdings das Eigentum nur deshalb leisten können, weil die Zinsen auf einem Tiefststand waren. In der Folge stiegen die Immobilienpreise jedoch ins Unermessliche.
Mein Kollege Michael Brächer zitiert nun aus einer Studie der Großbank UBS, die ein Ende des Immobilienbooms sieht. Die Analysten warnen mit deutlichen Worten vor einem möglichen »Game Over« am Immobilienmarkt. Metropolen wie Frankfurt am Main und München sind besonders betroffen. In Frankfurt am Main lagen die Preise zuletzt 60 Prozent über denen von vor fünf Jahren, in München sei der Markt ebenfalls »stark überhitzt und weist das höchste Preis-Miet-Verhältnis aus«, so die Experten. Da nun das Zinsniveau deutlich angestiegen ist, könnte die Folge sein, dass sich viele Käuferinnen und Käufer die Immobilien nicht mehr leisten können.
Wenn sie dann verkaufen und in eine Mietwohnung ziehen müssen, sind sie allerdings nicht weniger gekniffen. Denn der Mietmarkt ist ebenfalls eine Katastrophe. Bundesweit fehlen Wohnungen, daran wird auch das »Bündnis für bezahlbaren Wohnraum« kaum etwas ändern, das heute seine Maßnahmen vorgestellt hat, wie das Problem in den Griff zu kriegen ist.
Jedenfalls begann die Pressekonferenz von Bundeskanzler Olaf Scholz, Bauministerin Klara Geywitz (beide SPD) sowie Vertretern aus Wirtschaft und Gewerkschaften gleich mit einem Offenbarungseid. 400.000 neue Wohnungen wollte Geywitz jährlich bauen lassen. »Die Konditionen sind schlechter geworden im Vergleich zum Vorjahr, wo wir dann unter 300.000 Wohnungen fertig hatten.« Heißt übersetzt: Es werden dieses Jahr wohl noch weniger.
Überall tritt immer deutlicher zutage, wie kostspielig das Leben in der Bundesrepublik Deutschland geworden ist. Wohnen, Energie, Lebensmittel – immer mehr Menschen kommen finanziell an ihre Grenzen. Wirtschaftsminister Habeck schwor die Bevölkerung heute nach der Konjunkturprognose der Bundesregierung auf »ernste Zeiten« ein. Im kommenden Jahr erwartet er eine Rezession.
Die spürt Imke Georgiew schon heute. Sie leitet in Potsdam die Tafel, eine Institution, die besonders bedürftigen Menschen mit Essen hilft. Meine Kollegin Lisa Duhm hat im Interview mit Georgiew erfahren, dass sie zwischenzeitlich 3500 Menschen als Kundschaft hatte. Viel zu viele, um den Andrang mit den Ehrenamtlichen zu bewältigen. Deshalb verhängte die Tafel in Potsdam einen Aufnahmestopp. »Die Menschen brauchen uns, aber wir müssen ihnen sagen: Wir können dir nicht helfen. Das ist so frustrierend«, so Georgiew.
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Vogelgrippe dezimiert Bestände von Weihnachtsgänsen: In gut zwei Monaten ist Weihnachten – für manch einen also der Moment, das Festessen zu planen. Die Vogelgrippe könnte ein beliebtes Gericht jedoch rarmachen: Die Gans ist bedroht wie noch nie.
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Lauterbach verspricht Sicherheit der Kliniken trotz steigender Kosten: Die Coronazahlen steigen, die Energiepreise auch – und Krankenhäuser warnen vor einer Überlastung. Im Bundestag sicherte Gesundheitsminister Lauterbach den Kliniken nun Zuschüsse aus dem Abwehrschirm der Regierung zu.
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USA wollen Beziehungen zu Saudi-Arabien überdenken: Gegen den Willen der USA will das Ölländer-Kartell Opec+ die Förderung drosseln. Präsident Biden kündigte nun Konsequenzen an: Man werde die Beziehungen zu Saudi-Arabien neu bewerten.
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Gestohlene Tischdecke mit Zeichnungen der Beatles wieder aufgetaucht: Vor ihrem letzten regulären Konzert 1966 verewigten sich die Beatles auf einer Tischdecke. Das Stück wurde einem Caterer gestohlen – und blieb mehr als ein halbes Jahrhundert verschwunden.
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
Meine Lieblingsgeschichte heute:
Ist es Ihnen auch schon so gegangen? Sie bestellen im Café oder beim Bäcker einen Cappuccino und werden immer öfter gefragt: mit Kuhmilch? Die Alternativen sind inzwischen längst aus dem Nischenmarkt herausgekommen.
Ersatzprodukte aus Hafer, Soja oder Mandel sollen dem Klima dienen. Denn Milch von Kühen bedeutet Tierhaltung, Tierhaltung bedeutet Ausstoß von Methan, der wiederum trägt mit bis zu 30 Prozent zur globalen Erwärmung bei. Erderwärmung bedeutet Dürre und Migration. Die ganz große Dimension jedenfalls.
Meine Kollegin Maria Marquart hat sich nun mal etwas genauer mit der Ersatzmilch beschäftigt und geprüft, wie nachhaltig sie tatsächlich ist. Sie kommt zu dem Schluss, dass es vor allem eine große Marketingmaschine ist, die da angeworfen wurde. Eine, die zwar dem Klima nützt, aber auch den Herstellern der Produkte. In einem Hamburger Edeka-Markt werden für einen Liter des ungesüßten Drinks der Marke vly 2,59 Euro verlangt. Die Rohstoffkosten bei Reis- und Haferdrinks liegen eher im Centbereich. Ein Fest für Glücksritter wie die Influencerin Dagi Bee, die jüngst ihre eigene Marke gegründet hat. Man kann aber nicht sagen, sie sei auf diesen Zug aufgesprungen. Im Gegenteil: Mit einem Mercedes samt weißen Ledersitzen fährt sie in einem YouTube-Video durch ihr Reich der Nachhaltigkeit – und demonstriert damit ganz unfreiwillig, wie schmal der Grad zwischen gutem Willen und Verlogenheit ist.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Hohe Preise und geschicktes Marketing – So nachhaltig sind die Milchalternativen aus Hafer, Soja oder Mandeln wirklich
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Die ignorierten Opfer des Holocaust: Kaum jemand kennt die Geschichten der Roma, die in der Ukraine von den Nationalsozialisten verfolgt wurden. Die Überlebenden erfahren immer noch Diskriminierung – und leiden besonders unter Putins Krieg. Ein Besuch .
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»Sie proben für den Ernstfall«: Chinesische Schiffe und Drohnen umkreisen Taiwan immer wieder. Parallel dazu werden soziale Medien mit Propaganda überflutet, warnt der Cybersicherheitsexperte Tzeng Yisuo. So sollen die Bürger zermürbt werden .
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Wie zwei gekappte Kabel den Zugverkehr lahmlegten: Plötzlich herrschte Funkstille bei der Deutschen Bahn: Unbekannte haben am Wochenende den Zugfunk GSM-R sabotiert. Was ist das für ein System, warum funktionierte die Notfalllösung nicht – und welche Technik wird es ablösen?
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Langsam dämmert es der Bundesliga: Die Energiekrise hat auch den deutschen Profifußball erreicht. Die Klubs reagieren mit vorsichtigen Versuchen beim Flutlicht. Vor radikalen Lösungen schreckt die Bundesliga aber noch zurück .
Was heute weniger wichtig ist
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(Bären)starkes Stück: In unserer Besprechung zur aktuellen Nachrichtenlage sagte heute Morgen unser Newsredakteur Jens Witte, es gebe erfreulich viele Meldungen »im bunten Bereich«. Eine davon hat Jens in routinierter und launiger Manier für Sie aufgeschrieben – Abstimmungsskandal in Alaska bei der Wahl zum dicksten Bären! Innerhalb verdächtig kurzer Zeit hätte Bärin 435, auch bekannt als »Holly«, 9000 Stimmen erhalten. Offensichtlich eine Manipulation. In Wahrheit habe Braunbär 747, besser bekannt als »Jumbo-Jet«, viel mehr Lachse gerissen und sei daher der würdige Sieger des »Fat Bear«-Wettbewerbs. Meine sehr geschätzte Kollegin Patricia Dreyer vom SPIEGEL-Newsdesk sagte jüngst, solche Meldungen brauche in Wahrheit kein Mensch, und doch seien sie eine Insel der Entspannung und Zerstreuung nach all dem Krieg und Elend im oberen Drittel von SPIEGEL.de. Dass »Jumbo-Jet« in den Top Ten der meistgelesenen Texte landete, zeigt, wie recht Patricia hat. Und bevor Sie vielleicht denken: Der SPIEGEL ist auch nicht mehr das, was er mal war, wenn er so etwas Irrelevantes meldet: Auch der ehrwürdige »Guardian« , die »New York Times« und die »Washington Post« stiegen in die Berichterstattung ein.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Lauerbach gehe daher ›von einem verantwortungsvollen Handeln‹ der Länder aus.«
Cartoon des Tages: Der Winter naht
Illustration: Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
Könnten Sie, wenn Sie das richtige Kino in Ihrer Nähe haben, »Igor Levit – No Fear« anschauen. Meine Kollegin Anke Dürr hat den Film schon gesehen und sagt, es sei auf den ersten Blick ein Dokumentarfilm über einen Ausnahmepianisten, in Wahrheit aber noch viel mehr: ein grandioser Konzertfilm, ein intimes Künstlerporträt und eine Lehrstunde darüber, wie man die Coronakrise in eine Chance verwandelt.
Die Filmemacherin Regina Schilling hat Igor Levit kurz vor und zu Beginn der Pandemie in seinem Alltag begleitet, als er gerade seine Gesamtaufnahme der Beethoven-Klaviersonaten herausgebracht hatte. Levit, der eigentlich ein Jahr mit 108 Auftritten vor sich hatte, wird jäh ausgebremst – und findet mit seinen digital in alle Welt übertragenen Hauskonzerten eine neue Freiheit. Man sieht und hört in jeder Minute dieses Films, welcher Kraftakt diese Hingabe an die Musik ist, immer wieder – aber auch, wie selig sie machen kann. Am schönsten sind die Momente, in denen Levit sich mit seinem Tonmeister und Produzenten Andreas Neubronner austauscht, wie sie über Takte und Töne eine symbiotische Einheit zu werden scheinen. Sehen Sie hier den Trailer.
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Hier können Sie – falls kein Kino in der Nähe ist – auch ausgewählte Texte über Levit aus dem SPIEGEL lesen.
Pianist Levit und das Corona-Protokoll: »Ich bin doch nicht nur der Trost-Igor«
»Emotionale Grenzerfahrung«: Igor Levit spielt 20-Stunden-Corona-Livekonzert
Pianist Igor Levit im Interview: »Manchmal pikst Beethoven. Und manchmal tritt er zu«
Einen schönen und entspannten Abend.
Herzlich,
Janko Tietz
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