Siegen bis zum Untergang?
Heute ist ein Tag der Gipfel, der großen wie der kleinen. Beginnen wir groß. Die G7, die großen Wirtschaftsnationen des Westens, schalten sich zu einer Videokonferenz zusammen, unter dem Vorsitz von Bundeskanzler Olaf Scholz. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nimmt als Gast teil. Ein Thema werden die russischen Raketenangriffe auf Kiew und andere Städte sein.
Wladimir Putin ist als Schattengestalt dabei, diesmal als »cornered rat«, wie es im Englischen heißt. Als in die Ecke gedrängtes Tier, das aus Angst und Verzweiflung zu allem bereit ist. In diesem Fall mutmaßlich: auch zum Atomschlag. Man hat es jetzt mit einer paradoxen Situation zu tun. Je schwächer Putin ist, desto gefährlicher könnte er sein. Siegen bis zum Untergang, dieses Schicksal der Ukraine ist nicht mehr undenkbar.
Für den Westen ist es keine Option, die Ukraine aufzuhalten oder sie weniger zu unterstützen als bislang. Das wäre ein Verrat an der Ukraine und den eigenen Werten. So bitter es ist: Es gibt keine Möglichkeit mehr, sich der Abhängigkeit von Putins irren Entscheidungen zu entziehen.
Mehr Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:
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Das geschah in der Nacht: Der ukrainische Präsident beschwört den Kampfeswillen seines Landes – in einem Video vom Einschlagsort russischer Raketen. Die USA liefern moderne Luftabwehr. Und: Botschafter Melnyk warnt vor Atomschlag. Der Überblick.
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Sie nennen ihn General Armageddon: Der Kreml hat erstmals offiziell einen Kommandeur für alle russischen Truppen in der Ukraine ernannt. General Surowikin gilt als brutal und skrupellos. Die Personalie ist auch ein Signal an die Hardliner in Moskau.
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Biden verspricht Ukraine Luftabwehrsysteme: Die Luftangriffe auf ukrainische Städte sorgen international für Empörung. Joe Biden verspricht, der Ukraine beizustehen, und greift Kremlchef Putin an. Der Kreml reagiert auf die Äußerungen aus Washington.
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Kiews fette Kriegsbeute: Das ukrainische Militär hat Hunderte russische Kampfpanzer erobert – darunter auch moderne Fahrzeuge wie den T-90M. Welche Rolle spielen diese Panzer im Krieg gegen Wladimir Putin?
Schwefel I
In Washington geht das Treffen von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) weiter, ein Gipfel für die Weltwirtschaft, auch ein hohes Fest des Kapitalismus. Der IWF wird heute seine Wachstumsprognose vorstellen. Rosige Zeiten sind nicht zu erwarten.
Börse in New York (Archivbild)
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Richard Drew / picture alliance / AP / dpa
Was der Kapitalismus auch in besseren Zeiten nicht geschafft hat: für Gerechtigkeit zu sorgen. Das hat in den letzten Jahren niemand so deutlich herausgearbeitet wie der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty. In Deutschland erscheint in diesen Tagen sein neues Buch »Eine kurze Geschichte der Gleichheit«, die auch eine lange Geschichte der Ungleichheit ist.
Das liegt unter anderem an der ungleichen Verteilung der Vermögen. Wer viel hat, bekommt oft viel dazu (»Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen«, heißt das schweflig-ökonomische Gesetz, das mein Vater in seinem 90-jährigen Leben tausendmal zitiert hat). Piketty macht einen interessanten Vorschlag, wie das zu ändern wäre, über ein »Minimalerbe«: Jeder bekommt zu seinem 25. Geburtstag vom Staat ein Grundvermögen geschenkt, Piketty nennt 120.000 Euro als Beispiel. Jeder hätte die Chance, diesen kleinen Haufen zu vergrößern.
Finanziert würde das über eine höhere Erbschafts- und eine Vermögensteuer. So hätten die einen weniger Vermögen, die anderen überhaupt eins. Klingt gerecht, finde ich.
Schwefel II
Der dritte Gipfel, über den wir hier reden, ist etwas kleiner, da er auf Deutschland beschränkt ist. Das Thema ist ebenfalls groß. Bundesinnenministerin Nancy Faeser von der SPD empfängt heute Vertreter der kommunalen Spitzenverbände zum Flüchtlingsgipfel in Berlin. Es geht vor allem darum, Migranten besser zu verteilen. An einigen Orten gibt es keinen Platz mehr, auch wegen der vielen Menschen aus der Ukraine.
CDU-Chef Friedrich Merz wollte da schon mit dem schwefligen Wort »Sozialtourismus« gegensteuern. Dafür hat er sich entschuldigt, blieb aber bei der Behauptung, verbesserte Bedingungen für Ukrainer in Deutschland würden zu mehr Migration führen. Faesers Ministerium sieht dafür keine Anzeichen.
Und wenn schon. Dass sich die Bundesregierung mit der Lieferung schwerer Waffen schwertut, kann ich verstehen. Aber eine Folge davon sollte sein, dass man den Menschen, die dem Krieg entkommen wollen, großzügig hilft.
Ambivalentes Ergebnis
Verlassen wir die Gipfel, kommen wir zu den Niederungen von Niedersachsen. Die AfD hat dort am Sonntag 10,9 Prozent geholt, 4,7 Prozentpunkte mehr als bei der letzten Landtagswahl. Ein ambivalentes Ergebnis. Einerseits ist es ungeheuerlich, dass sich jeder zehnte Wähler für eine Partei entscheidet, die sich dem Rechtsextremisten Björn Höcke unterworfen hat.
Wahlplakat der AfD in Hannover
Foto:
Friso Gentsch / dpa
Andererseits ist das eine kleine Zahl, wenn man bedenkt, welche Sorgen derzeit viele Menschen umtreiben und dass sich die AfD diese Sorgen als Protestpartei zunutze machen will. In anderen Länder haben Extremisten weit mehr Erfolg, siehe Italien. Insofern ist das Wahlergebnis von Niedersachsen ein klares Bekenntnis zur liberalen Demokratie.
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Gewinner des Tages…
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Eva Manhart / dpa
…ist Richard Lugner, genannt »Mörtel«, der heute 90 Jahre alt wird. Ein Wiener Original, ein ehemaliger Bauunternehmer, ein vermögender Mann (mein Vater, Lugners Altersgenosse, meinte Leute wie ihn), ein Großschwätzer, der dem Kapitalismus eine eigene Kategorie hinzugefügt hat.
Im Kapitalismus geht es immer darum, etwas zu kaufen oder zu verkaufen, und Lugner kaufte sich vor allem weibliche Celebrities, damit sie ihn beim Wiener Opernball begleiteten. Auf Sex kam es ihm nicht an, eher auf die Ware Aufmerksamkeit. Die hat er bekommen, und Frauen wie Pamela Anderson oder Kim Kardashian werden wissen, warum sie sich an Lugner verkauft haben. In seinen genialen Momenten fügt der Kapitalismus über den Preis zusammen, was zusammengehört.
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Frau von US-Gouverneur Newsom sagt im Prozess gegen Harvey Weinstein als Zeugin aus: In Los Angeles hat der nächste Prozess gegen den verurteilten Sexualstraftäter begonnen. Als Zeugin wird auch die Ehefrau des kalifornischen Gouverneurs aussagen: Sie sei von Weinstein sexuell belästigt worden.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Dirk Kurbjuweit