Die deutsche Debatte über den Ukrainekrieg ist undifferenziert und unstrategisch. Das muss sich ändern.
Auf der einen Seite stehen die »Pazifisten«, die die Unterstützung der Ukraine ablehnen. Hätte die Politik ihren Rat befolgt, wäre die gesamte Ukraine von Russland heute besetzt. Putin hätte sich ermutigt gefühlt, Konflikte mit anderen ehemaligen Sowjetrepubliken anzufangen – mit Georgien etwa oder gar mit den baltischen Staaten.
Das wäre nicht nur schlimm für die betroffenen Menschen, sondern auch aus realpolitischer Sicht eine Katastrophe. Es war deshalb richtig, den Ukrainerinnen und Ukrainern bei ihrem Widerstand gegen die russische Invasion mit Waffen, Aufklärung und Ausbildung zu unterstützen.
Auf der anderen Seite sind vermeintliche »Freiheitskrieger«, die Russland »demütigen« wollen. Sie verneinen das Eskalationspotenzial des Konflikts und weigern sich, irgendeine Lösung zu akzeptieren, die weniger als hundert Prozent der ukrainischen Maximalposition entspricht.
Mehr noch: Sie sträuben sich dagegen, das Ende des Konflikts überhaupt zu thematisieren. Jeder Versuch, darüber zu sprechen, wird mit dem Hinweis gekontert, dies müssten die Ukrainerinnen und Ukrainer selbst entscheiden.
Das klingt wie eine moralisch korrekte Position, ist aber in Wahrheit unverantwortlich. Denn es geht ja in der Ukraine mittlerweile nicht mehr nur – oder ausschließlich – um die territoriale Integrität des Landes, sondern eben auch um eine geopolitische Auseinandersetzung von potenziell enormer Tragweite.
Am deutlichsten hat dies zuletzt der US-amerikanische Präsident zum Ausdruck gebracht. Bei einem Auftritt in New York warnte Joe Biden, dass die Gefahr eines globalen nuklearen »Armageddons« aktuell höher sei als zu irgendeinem Zeitpunkt seit der sogenannten Kubakrise vor sechzig Jahren.
Zielkonflikte und »Off-Ramps«
Wer die Situation nüchtern betrachtet, erkennt schnell, dass es sich sowohl Pazifisten als auch Freiheitskrieger zu einfach machen. In Wirklichkeit haben wir es – wie oftmals in Strategie und Diplomatie – mit einem Zielkonflikt zu tun, der einer Abwägung bedarf.
Einerseits geht es darum, so viel wie möglich an ukrainischer Souveränität wiederherzustellen – der Ukrainer wegen, aber auch, damit Putin (und potenziell China) verstehen, dass sich territoriale Aggression nicht lohnt.
Andererseits gilt es, eine Situation zu vermeiden, in der Putin glaubt, es gebe keine andere Möglichkeit als eine Totaleskalation durch Einsatz einer Atomwaffe.
Schäden nach Raketenangriff auf Saporischschja: Es geht auch um eine geopolitische Auseinandersetzung
Foto: MARINA MOISEYENKO / AFP
Als Wolfgang Ischinger, der ehemalige Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, zu Anfang des Krieges forderte, Putin brauche eine »Off-Ramp« , also eine Art gesichtswahrenden Ausweg, wurde er von »Freiheitskriegern« heftig kritisiert. Dabei tat er nur das, was alle Strategen und erfahrene Diplomaten tun: nämlich, den Konflikt vom Ende her zu denken.
Das hat nichts mit Sympathie für Putin zu tun. Und es geht auch nicht darum, Putin zu »retten«. Doch Putin ist derjenige, der am Schalter sitzt und über den Einsatz von taktischen Atomwaffen entscheidet. Wie viele Russlandexperten meinen , würde er dies in einer »existenziellen Krise« auch tun. Das ist nicht schön, aber es ist politische Realität.
Was ist zu tun?
Strategisch muss es jetzt darum gehen, eine Situation zu schaffen, in der so viel wie möglich an ukrainischer Souveränität wiederhergestellt wird, aber gleichzeitig eine globale Eskalation vermieden wird.
Der erste Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel ist eine viel deutlichere Abschreckung. Der Westen, und ganz besonders die USA müssen Putin noch klarer als bisher die Konsequenzen eines Einsatzes von Atomwaffen vor Augen führen. Mit anderen Worten: Sie müssen noch eindeutiger und lauter sagen, dass dies zu einem sofortigen Kriegseintritt des Westens und unakzeptablem Schaden für Russland führen würde.
Das klingt wie Eskalation, ist es aber nicht. Es ist derselbe Zustand, unter dem die Welt jahrzehntelang während des Kalten Krieges gelebt hat. Der Einsatz von Atomwaffen wurde während dieser Zeit vor allem deshalb zum Tabu, weil jede und jeder wusste, dass er zu einer (nahezu) automatischen Eskalation geführt hätte.
Ukrainischer Präsident Selenskyi: Zu Anfang zu Kompromissen bereit
Foto: IMAGO/Ukrainian Presidential Press Off / IMAGO/ZUMA Wire
Der zweite Schritt ist ein unmissverständliches Signal an die Ukraine, dass der Westen die Wiederherstellung des territorialen Status vor Beginn der russischen Invasion am 24. Februar dieses Jahres unterstützt – aber nicht darüber hinaus.
Zu Anfang des Konflikts hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dies auch akzeptiert, aber durch die neuesten Landgewinne sind er und seine Unterstützer ambitionierter geworden. Das ist verständlich und aus Sicht der Ukraine auch legitim. Aber es wäre für den Rest der Welt unter aktuellen Bedingungen brandgefährlich.
Ein dritter Schritt ist eine internationale Lösung für die Krim. Eine Aufhebung der aktuellen Sanktionen kann es selbst nach einem Rückzug Russlands aus den seit dem 24. Februar besetzten Gebieten nur dann geben, wenn auch der Status für das letzte von Russland annektierte Territorium dauerhaft geregelt ist.
Konflikt vom Ende her denken
Natürlich wäre eine solche Situation für Putin nur schwer als Sieg zu verkaufen. Aber mithilfe seiner Propagandamaschine könnte er eine Erzählung erfinden, wonach er dem vermeintlich aggressiven Treiben des Westens Einhalt geboten und die Ukraine »denazifiziert« hat.
Das ist zwar absurd, aber es sind genau die Parameter, auf deren Basis Putin diesen Krieg begonnen hat. Erfahrene Russlandexperten wie mein früherer Kollege Anatol Lieven glauben, es sei »genug«, um Putin von der nuklearen Option abzubringen.
Der saure Apfel, in den der Westen beißen müsste, wäre, dass Putin dadurch für eine Weile im Amt bleiben würde. Doch was ist die Alternative? Ein Putsch, der noch nationalistischere Kräfte an die Macht bringen würde? Chaos und Staatszerfall?
Natürlich sollte das langfristige Ziel des Westens die Unterstützung eines demokratischen Russlands sein. Aber unter den aktuellen Bedingungen gibt es hierfür keine realistische Chance.
Unsere Priorität muss jetzt sein, den Ukrainerinnen und Ukrainern bei der Wiederherstellung ihrer nationalen Souveränität zu helfen, ohne gleichzeitig eine unkontrollierte Eskalation auszulösen. Das ist schwierig, aber nicht unmöglich. Vor allem aber erfordert es, wogegen sich sowohl »Pazifisten« als auch »Freiheitskrieger« bisher gesträubt haben: den Konflikt vom Ende her zu denken.