Putins Proseminar
Es war zu erwarten, dass das blame game in eine neue Runde gehen würde. Am Freitag erklärte der russische Präsident Wladimir Putin, wer in seinen Augen für die Unterwasserexplosionen an den beiden Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 verantwortlich ist. Die »Angelsachsen« seien »zu Sabotage übergegangen«, sagte er beim »Festakt« zur Annexion mehrerer ukrainischer Gebiete. Damit hätten sie »faktisch mit der Zerstörung der gemeinsamen europäischen Energie-Infrastruktur begonnen«.
Abgesehen davon, dass es bislang keine belastbaren Beweise oder Indizien gibt, wer für den Anschlag auf die Röhren verantwortlich ist, passt Putins Tätertheorie erstaunlich gut in sein grundsätzliches Narrativ für eine neue Phase dieses Krieges: Der Westen ist der Aggressor, mit dem Ziel, das russische Reich zu vernichten.
Putin und die künftigen Machthaber in den annektierten Gebieten
Foto: Mikhail Metzel / Sputnik / AFP
Man darf davon ausgehen, dass dieses Narrativ fortgeschrieben wird, wenn sich die Ukraine mithilfe westlicher Waffen gegen die Annexion wehrt – in Putins Augen ein Angriff auf die russische Souveränität und damit eine Berechtigung, den Krieg weiter zu eskalieren. Welch düsterer Ausblick!
Mein Kollege Christian Esch, der langjährige Moskau-Korrespondent des SPIEGEL, hat den Vortrag Putins sehr klug analysiert. »Diese Annexionsrede markiert ein neues Stadium in der Ideologisierung seines Regimes«, schreibt er. »Es ist zugleich der Versuch, der nichtwestlichen Welt ein intellektuelles Angebot zu machen, warum sie Russland in seinem Kampf unterstützen sollte. Die Sowjetunion hatte ein solches Narrativ, in Form des Marxismus-Leninismus, den auch der junge Wladimir Putin einst büffeln musste.«
Bemerkenswert an diesem Auftritt war auch, dass Putin die Ukraine an den Verhandlungstisch rief, wobei die frisch angeschlossenen Gebiete selbstverständlich nicht zu verhandeln sein. »Er klang wie jemand, der die Hand zum Frieden ausstreckt, aber vorher noch mal ordentlich reingespuckt hat«, schreibt Christian. Ich bin mir sicher, dass nun auch bei uns die Debatte beginnt, ob man Putins Verhandlungsangebot nicht annehmen sollte. Es wäre wie 2014, als der Westen eine brutale, völkerrechtliche Annexion weitgehend achselzuckend akzeptierte.
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Rede zu Russlands Annexionen: Putin versucht sich als Philosoph
Mehr Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:
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»Die einzige Wahrheit, die aus Russland kommt, ist die Lüge«: Russland wehrt sich vehement gegen Vorwürfe unter anderem aus der Ukraine, verantwortlich für die Explosionen an den Nord-Stream-Pipelines zu sein. Wirtschaftsminister Robert Habeck misstraut der Reaktion aus Moskau.
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»Russland muss eine parlamentarische Republik werden«: Kremlkritiker Alexej Nawalny fordert den Westen in einem »FAS«-Gastbeitrag auf, über ein Nachkriegsrussland nachzudenken. Das politische System müsse sich ändern – das könne auch für Gruppen in Putins Umfeld erstrebenswert sein.
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»Muss verstehen, dass ein Atomkrieg niemals gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf«: Jens Stoltenberg verurteilt die völkerrechtswidrige Annexion ukrainischer Gebiete. Er sieht die Nato-Staaten in Gefahr, wenn man Putin gewähren lässt – und warnt den Kreml.
Die Demo-Republik
Blickt man auf die Ankündigungen für dieses Wochenende, kann man den Eindruck gewinnen, halb Deutschland sei protestierend unterwegs.
Die Friedensbewegung ruft heute zum bundesweiten Aktionstag in mehreren Städten auf, etwa unter dem Motto »Stoppt den Krieg – Verhandeln statt Schießen!« (zum Problem des Verhandelns siehe oben).
Anti-Kriegsplakat auf Demo in Hannover
Foto:
Julian Stratenschulte / dpa
In Lingen findet sich eine interessante Mischung aus »deutschen, niederländischen und russischen Umweltorganisationen« zusammen, um gegen Urangeschäfte mit Russland und für einen »vollständigen Atomausstieg ohne Laufzeitverlängerungen« zu protestieren.
In Berlin gibt’s eine Demo gegen das Regime in Iran, auch in Frankfurt am Main wird für die Solidarität mit der iranischen Bevölkerung protestiert, aber auch gegen die Folgen der Energiekrise und »für menschliche Besuchs- und Arbeitsbedingungen in Krankenanstalten – statt Corona-Maßnahmen-Hysterie«.
Das rechtsextreme Magazin Compact des einst äußerst links stehenden Publizisten Jürgen Elsässer lädt nach Berlin zu einer Veranstaltung ein, die da heißt: »Schluss mit den Sanktionen – Handwerker für den Frieden«.
Im Vorfeld war auf dem Twitter-Account des Magazins zum Beispiel ein Fleischermeister aus Berlin zu sehen, der über seine schwierige Lage spricht. Und als Rednerin ist die Betriebsrätin Peggy Lindemann aus der PCK-Ölraffinerie in Schwedt angekündigt. Hunderte Handwerker werden erwartet.
Es sei nur mal daran erinnert: In Compact stand, dass der Sturm auf das Kapitol in Washington von »großartigen Patrioten« ausgeführt worden sei. Der französische Präsident Emmanuel Macron wurde als »Rothschilds Präsident« bezeichnet. Im März, also kurz nach dem brutalen Angriff Russlands auf seinen Nachbarn, wurde über die »Hintergründe der aktuellen Stimmungsmache« gegen Moskau informiert.
Ob die Handwerker wissen, vor welchen antisemitischen, verhetzenden und putinverharmlosenden Karren sie sich da spannen lassen? Gibt es keinen anderen Karren?
Wenn das Kapern von Protesten so einfach ist, dann wird es auf lange Sicht auch gefährlich.
Lesen Sie zur Debatte über die richtige Russlandpolitik und die unterschiedliche Sichtweise dazu in Ost und West auch ein aufschlussreiches Streitgespräch zwischen Marianne Birthler, der ehemaligen Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, und dem Präsidenten der Handwerkskammer Halle, Thomas Keindorf:
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Streitgespräch: »Die Menschen im Osten wollen sich nicht wieder als Verlierer fühlen« / »Zum Glück sind nicht alle Ostdeutschen so«
Der Ewigfaire
Wenn wir (fast) jeden Montagvormittag einen Gast bei uns in der Redaktion begrüßen, der die aktuelle SPIEGEL-Ausgabe und unsere SPIEGEL-Homepage kritisiert, hören wir sehr oft, wir seien zu düster, zu pessimistisch, auch zu kritisch. Und nach dem Lesen sei man oft schlechter gelaunt als zuvor. Der SPIEGEL als Stimmungstöter.
Ex-Fußballer Lahm
Foto: IMAGO/Julia Rahn / IMAGO/Pressefoto Baumann
Ich empfehle Ihnen im neuen SPIEGEL deshalb vor allem eine Geschichte: das Porträt meines Kollegen Marc Hujer über Philipp Lahm. Der einst vielleicht fairste Fußballer ist heute, fünf Jahre nach dem Ausscheiden aus dem Profisport, Unternehmer und Turnierdirektor für die EM in Deutschland.
Es ist eine schöne, lustige, fein beobachtete Geschichte, es ist auch eine faire Geschichte. Und – versprochen – überhaupt nicht düster.
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Wohlfühlimperium des Ex-Fußballers: Der perfekte Philipp Lahm
Hier geht’s zum aktuellen Tagesquiz
Die Startfrage heute: Welcher Musiker wurde im September 2022 zum Ehrenbürger der Stadt Hamburg ernannt?
Jubilar des Tages ist …
… die ÖDP, die in diesem Jahr 40 Jahre alt wird, was sie gewissermaßen auch zum Verlierer des Tages macht. Innerhalb der letzten vier Jahrzehnte ist es der eher konservativ angehauchte Ökopartei nicht gelungen, sich bei Wahlen aus dem Nulkomma-x-Bereich zu bewegen – obwohl das Klima zum Meta- und Megathema geworden ist.
Wahlplakat der ÖDP (2019)
Foto: Stefan Zeitz / imago images
Heute treffen sich die Delegierten zum Bundesparteitag in Würzburg. Vielleicht eine Chance, endlich auf den Tisch zu hauen und sich ein bisschen interessanter zu machen?
Die jüngsten Meldungen aus der Nacht
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Nordkorea feuert erneut zwei ballistische Raketen ab: Zum vierten Mal innerhalb weniger Tage hat Nordkorea Kurzstreckenraketen gestartet. Zuvor hatten die USA und Südkorea Übungen zur U-Boot-Bekämpfung abgehalten – und US-Vizepräsidentin Harris Nordkorea deutlich kritisiert.
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Scholz sagt Hilfe bei Aufklärung der Pipeline-Lecks zu: Es geht um Informationen, aber auch um Präsenz. Die Bundespolizei sei mit allen verfügbaren Kräften auf See.
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Steigende Corona-Inzidenzen und neue Coronamaßnahmen: Das RKI meldet 73.856 Neuinfektionen – um eine neue Herbst-Winter-Welle einzudämmen, gelten mit dem 1. Oktober diese Regeln.
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»Ich musste als 16-jähriger gegen Schränke mit Vollbart spielen«: Beide haben Opfer für ihre Profikarriere gebracht. Peter Draisaitl war ein erfolgreicher Eishockeyprofi – sein Sohn Leon hat es sogar zum Superstar in Amerika gebracht. Wie groß war der Anteil des Vaters?
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»Das Magische ist: Im Caravan entsteht Nähe«: Die Kollegen nennen ihn »Circus Roncalli«: Ein Manager fährt zu Geschäftsterminen mit dem eigenen Büro vor. 6,5 Tonnen wiegt sein 15 Meter langes Gespann aus Van plus Wohnwagen. Sieht so die Zukunft der Arbeit aus?
Ich wünsche Ihnen ein schönes langes Wochenende!
Ihr Martin Knobbe