1. Gefährlich schwach
Nach der Teilmobilmachung Russlands im Krieg gegen die Ukraine war die AfD bislang die einzige Partei im Bundestag, die direkt von einem drohenden »dritten Weltkrieg« sprach. Nun fand der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil ähnlich drastische Worte. »Wir werden weiter konsequent die Ukraine unterstützen«, sagte Klingbeil dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. »Gleichzeitig ist klar, es gilt, einen dritten Weltkrieg zu verhindern.«
Mich hat diese Wortwahl sehr erschreckt. Gleichzeitig aber auch vor Augen geführt, was für ein Privileg es ist, als 40-Jährige einer Generation anzugehören, die den Zweiten Weltkrieg nur aus dem Geschichtsunterricht, aus Büchern, Filmen und aus Erzählungen meiner Großeltern kennt. Mir macht die Vorstellung Angst, den dritten Weltkrieg als reales Bedrohungsszenario in meinen Wortschatz, in Gespräche mit Freunden oder meine Gedanken vor dem Einschlafen zu integrieren. Dabei ist es ja eine Kleinigkeit, verglichen mit den Zumutungen der Realität, denen die Menschen in der Ukraine oder Russland gegenüberstehen.
Heute haben die Fake-Referenden in den besetzten ukrainischen Regionen begonnen. An den Grenzübergängen unter anderem nach Finnland, Georgien und Kasachstan bilden sich teils lange Warteschlangen, weil viele Russen ihr Land verlassen wollen. Mit der Teilmobilmachung ist der Krieg nun auch mitten in der russischen Gesellschaft angekommen.
Meine Kollegin Christina Hebel, unsere Korrespondentin in Russland, erlebte in Moskau die Panik in vielen Familien. Flüge ins Ausland waren binnen kurzer Zeit ausverkauft. Ihr Eindruck: »Viele Menschen glauben, dass es sich nicht nur um eine Teilmobilmachung handelt, sondern weit mehr als 300.000 Mann eingezogen werden.« Sie ist Teil eines Teams, das diese Woche in Russland und der Ukraine recherchierte, um zu erklären, wie es zu Putins Entscheidung kam und welche Folgen sie haben wird. »Was Putin jetzt riskiert, um sich zu retten« – das ist das Thema der neuen SPIEGEL-Titelstory .
Mit großem Interesse habe ich heute auch das Interview mit dem Außenminister Estlands, Urmas Reinsalu , gelesen. Er vermeidet es zwar, Putins Angriffskrieg auf die Ukraine in die Nähe eines dritten Weltkriegs zu rücken. Er findet das Vorgehen des Kremlchefs allerdings historisch »beispiellos«. Sich mit inszenierten Referenden Territorium einzuverleiben und dieses dann mit Atomwaffen zu verteidigen, das habe es noch nie gegeben. »Die Antwort darauf muss die absolute Einheit des Westens sein. Auch rhetorisch. Vor allem aber praktisch.«
Konkret fordert er, dass Finnland einen Einreisestopp für Russen verhängt. Litauen, Lettland und Polen haben das diese Woche getan. Die einzige offene Landesgrenze mit Russland liege nun in Finnland. Der finnische Grenzschutz hat auf Twitter eine Grafik veröffentlicht , die zeigt, wie viel mehr Russen derzeit einreisen – und dass die gleichzeitige Ausreise Richtung Russland stagniert. Die eingereisten Menschen kehren also nicht zurück, sondern bleiben in Finnland oder reisen weiter.
Reinsalu findet: »Es liegt jetzt an den Russen, sich Gehör zu verschaffen und gegen das Regime und die Teilmobilisierung auf die Straße zu gehen. Wenn alle kritischen Stimmen abhauen, wäre das nur im Interesse Putins. Autoritäre Regime möchten die Bevölkerung durchsieben, damit nur ein loyaler Rest zurückbleibt.«
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Lesen Sie hier die Titelstory: Putins gefährliche Schwäche
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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Warum Russland 108 Asow-Kämpfer freilässt: Der Kreml übergibt ukrainische Gefangene, im Gegenzug kommt unter anderem ein prorussischer Oligarch frei. Hardliner in Moskau schimpfen über die »unfassbare Dummheit«. Doch der Austausch hat eine gewisse Logik .
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»Warum müssen wir in diesen Krieg ziehen?« Tausende Russen treten ihren Militärdienst an, beim Abschied kommt es zu teils dramatischen Szenen. Einige lehnen sich gegen die Einberufung auf. Andere versuchen, Russland so schnell wie möglich zu verlassen.
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Uno-Menschenrechtsrat dokumentiert zahlreiche russische Kriegsverbrechen: Aufgeschlitzte Kehlen, Vergewaltigungen von Kindern, Folter: Die Uno hat Gräueltaten der ersten Kriegswochen in der Ukraine untersucht – und Kriegsverbrechen der Kremltruppen festgestellt.
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Lambrechts Beschaffungsoffensive stockt: Die Bundeswehr soll rasch neue Ausrüstung bekommen. Doch angekündigte Rüstungsvorhaben lassen nach SPIEGEL-Informationen auf sich warten. Die Grünen fordern von Verteidigungsministerin Lambrecht mehr Tempo.
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
2. Am Ende der Sorgenhierarchie
Die Bewegung Fridays for Future hat an diesem Freitag zu einem globalen Klimastreik aufgerufen. In Berlin versammelten sich laut Polizei mehr als 22.000 Menschen nahe dem Regierungsviertel. Auch in Hamburg und anderen großen Städten nahmen Tausende Menschen an Kundgebungen teil. In anderen Städten wollten die Beamten noch keine Angaben zu den Teilnehmerzahlen machen.
Die Klimaaktivistin Luisa Neubauer rief bei der Kundgebung in Berlin: »Wer denkt, dass es keinen Ausweg gibt, dem bleibt nur Verzweiflung. Wer weiß, dass es anders geht, der kann loslegen und handeln. Wir haben das Wissen, also legen wir los.« Annika Rittmann von Fridays for Future in Hamburg ist sich sicher: »Alle Menschen machen sich gerade Sorgen und sehen die Auswirkungen der Klimakrise.«
Alle Menschen? Dass die Bewältigung der Klimakrise gerade keine Hochkonjunktur hat, ist eine gewaltige Untertreibung, findet mein Kollege Kurt Stukenberg, Ressortleiter Wissenschaft. »Im Angesicht des nahenden Winters kann es Politik und Wirtschaft kaum schnell genug gehen mit der Wiederinbetriebnahme oder dem Ausbau fossiler Infrastruktur – sei es zum Heizen oder zur Stromproduktion«, bemerkt er. Die Erhöhung der CO₂-Bepreisung werde vorübergehend ausgesetzt, und sogar übers Fracking werde eifrig diskutiert.
Trotz dieser Lage konnte die Bewegung heute nicht an ihren großen Erfolg beim Klimastreik im Jahr 2019 anknüpfen, bei dem rund 1,5 Millionen Menschen allein in Deutschland auf die Straße gingen. »Dabei wären die oben genannten Umstände Begründung genug«, findet Kurt. »In der Sorgenhierarchie ist die Erderhitzung aber wohl bei nicht wenigen Menschen nach hinten gerutscht.«
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Mehr zum Thema in unserem Daily-Podcast: Warum die Klimabewegung von den Grünen ausgebremst wird
3. Italien = Mordor?
Am Sonntag wählt Italien ein neues Parlament. Heute ist beim Streamingdienst von Amazon eine neue Folge der »Herr der Ringe«-Serie zu sehen. Hat auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun. Allerdings sagt die Neofaschistin Giorgia Meloni, die beste Chancen auf das Ministerpräsidentinnenamt hat, über die Werke Tolkiens: »Ich halte ›Der Herr der Ringe‹ nicht für Fantasy.« Für Meloni sei die Trilogie nicht einfach nur ihre Lieblingsbuchreihe, schreibt die »New York Times« , sondern eine Art heilige Schrift. Dass sich die Politikerin früher gern als Hobbit verkleidete, berichtet auch mein Kollege Frank Hornig, unser Rom-Korrespondent: »Ihre Lieblingsfigur ist Samweis Gamdschie, Frodos treuer Begleiter.« (Hier finden Sie das ganze Porträt. )
Neofaschistin Meloni
Foto: ANDREAS SOLARO / AFP
»Es heißt, Tolkien habe sich immer gegen politische Ausdeutungen seiner Werke verwahrt«, sagt mein Kollege Oliver Trenkamp, »das hat aber Gelehrte wie Laien nicht daran gehindert, es trotzdem zu tun.« Hippies und Ökos fühlen sich in der Agrargesellschaft von Mittelerde, in der sprechende Baumhirten wandeln, ebenso aufgehoben wie Rechtsextreme sich identifizieren können mit dem Abwehrkampf gegen finstere Orks und Dunkelmenschen. Doch in Italien scheint die politische Rechte ein besonderes Faible für Fantasy zu haben, wie die »New York Times« schreibt: »Der Herr der Ringe« sei seit einem halben Jahrhundert eine tragende Säule für die Identität vieler Nachkommen der Postfaschisten. Sie bedienen sich demnach bei den Symbolen, Mythen und Heldengeschichten, ohne faschistische Tabus aufgreifen zu müssen. Die Zeitung zitiert Meloni mit dem Satz: »Tolkien konnte besser ausdrücken, woran Konservative glauben, als wir selbst.«
Unklar, ob Silvio Berlusconi ebenfalls Tolkien-Fan ist. Aber ein Putin-Versteher ist er auf jeden Fall: Der frühere italienische Ministerpräsident redete jetzt in einer Talkshow nicht nur die Kriegsziele des russischen Machthabers klein, sondern sagte auch: »Putin wurde von der russischen Bevölkerung, von einer Partei, von seinen Ministern gedrängt, sich diese Spezialoperation auszudenken.« (Hier mehr dazu.) Berlusconi wird als kommender Staatspräsident Italiens gehandelt. Tolkien würde schreiben: Ein Sturm zieht auf.
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Lesen Sie hier mehr über den drohenden Rechtsruck in Italien: »Die faschistische Propaganda hat sich tief in die Köpfe der Menschen eingeschrieben«
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Gericht verlangt von Trump Beweise für Vorwürfe gegen FBI: Das FBI hat Trumps Anwesen in Florida durchsucht und Geheimdokumente konfisziert – im Anschluss warf der Ex-Präsident der Behörde vor, Unterlagen absichtlich platziert zu haben. Ein Gericht will nun Belege dafür sehen.
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Dax fällt auf tiefsten Stand seit November 2020: Die Konjunkturrisiken sind wegen der Energiekrise und der steigenden Zinsen hoch. Das macht sich auch an der Börse bemerkbar. Der Dax liegt kräftig im Minus, auch der Euro gibt weiter nach.
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Spanien kündigt Reichensteuer ab 2023 an: Eine Steuer, die »nicht mehr als ein Prozent« der Bevölkerung zahlen soll, nämlich Millionäre: Spaniens Regierung will damit die breite Bevölkerung von der Teuerung entlasten. Es gibt aber noch offene Fragen.
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15 Spanierinnen treten per E-Mail aus Fußballnationalteam aus: In einem beispiellosen Akt sind 15 Spielerinnen des spanischen Fußballnationalteams aus Protest gegen ihren Trainer Jorge Vilda zurückgetreten. Der Verband hält zum Trainer und verlangt eine Entschuldigung.
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Bundeskanzler äußert sich erstmals zum Tod der Iranerin Mahsa Amini: Mahsa Amini starb nach ihrer Festnahme durch Irans Sittenpolizei. Olaf Scholz nennt den Fall »schrecklich« – und fordert Aufklärung vom Regime in Teheran. Auch eine Journalistin, die berichtete, wurde nun festgenommen.
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Eine neue Spur setzt den Kanzler unter Druck: In der Cum-ex-Affäre um die Hamburger Warburg-Bank gibt es Hinweise auf ein Treffen, das Olaf Scholz in Erklärungsnot bringen könnte. Mit einer neuen Taktik will das Kanzleramt offenbar unliebsame Fragen ins Leere laufen lassen .
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Deutsches Steuerrecht holt Oligarch Usmanow ein: Er feierte exzessive Partys in seiner Luxusvilla am Tegernsee und galt lange als unantastbar. Doch nun haben deutsche Ermittler einen Kniff gefunden, wie sie den Milliardär Alischer Usmanow belangen können .
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Bolsonaros Freunde mit der Knarre: Hunderttausende Anhänger von Brasiliens Staatschef Bolsonaro haben sich in den vergangenen Jahren eine Schusswaffe besorgt. Stürzen sie das Land ins Chaos, falls er in wenigen Tagen die Präsidentschaftswahl verliert?
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»Da habe ich meine Chance gewittert«: Er wurde völlig überraschend Europameister in München: Hier erzählt Marathonläufer Richard Ringer, wie das gelang, warum man im Rennen nie nach hinten blicken darf – und wie Superstar Eliud Kipchoge zur Ikone wurde .
Was heute weniger wichtig ist
Off: Erst Robert Habeck, 53, dann Kevin Kühnert, 33, nun hat auch Jens Spahn, 42, die Twitter-App gelöscht. Er habe dort bis zu »drei Shitstorms parallel« erlebt – und eine enorme Schieflage zwischen »Twitter-Themen« und der echten Welt wahrgenommen. Er habe Twitter nun nicht mehr auf seinem Handy, sagte der CDU-Politiker im Podcast »Die Wochentester« des »Kölner Stadt-Anzeigers« und des Redaktionsnetzwerks Deutschland. »Es macht schlechte Laune«, so Spahn: »Wenn du halt jedes Mal, wenn du gerade ins Auto steigst, im Aufzug stehst, mal ne ruhige Sekunde hast, als Erstes auf Twitter schaust, das ist fast eine kleine Sucht, und guckst, was ist jetzt wieder los? Unbewusst macht das echt schlechter gelaunt.« Er habe »eine bessere Grundstimmung« gespürt, nachdem er Twitter nicht mehr auf dem Handy hatte.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Von den acht geplanten Blöcken waren fünf in Betrieb, einer davon im Probetrieb.«
Cartoon des Tages: Mehr Soldaten
Illustration: Chappatte
Und heute Abend?
Der Schweizer Tennis-Superstar Roger Federer wird heute Abend sein letztes offizielles Match bestreiten. Beim Laver Cup in London wird er im Doppel mit seinem langjährigen Rivalen und Freund Rafael Nadal gegen das US-Duo Jack Sock und Frances Tiafoe spielen. Falls Ihr Fernseher noch Sender empfängt und nicht nur – so wie meiner – mit Streaminganbietern verbunden ist, könnten Sie um 21.30 Uhr Eurosport einschalten.
Federer räumte ein, nervös zu sein. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich damit klarkomme«, sagte der Schweizer mit Blick auf die sicherlich aufkommenden Emotionen. »Ich war vor großen Matches schon oft nervös, aber das fühlt sich komplett anders an.«
Einen schönen Abend. Herzlich
Ihre Anna Clauß
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