Das Risiko ist real
Es wirkt wie ein Akt der Verzweiflung, ein Zeichen der Schwäche: Wladimir Putin mobilisiert Hunderttausende Reservisten, die für ihn in den Krieg gegen die Ukraine ziehen sollen. Einen Krieg, der offiziell nicht einmal nach diesem Schritt so heißen darf.
Wladimir Putin: »Das ist kein Bluff«
Foto: Sergei Bobylev / AP
Dieser Krieg läuft nicht so, wie sich der Kremlherrscher das vorgestellt hat. Mit der nächsten Eskalation will er nun zumindest die vollständige militärische Niederlage abwenden.
Er inszeniert Fake-Referenden in den noch von russischen Truppen besetzten Gebieten, um sie sich dann einverleiben zu können. Putins verquere und zynische Logik dahinter: Wenn die Ukraine versucht, die Regionen im Osten zurückzuerobern, greift sie russisches Staatsgebiet an – das Putin verteidigen muss. Mit allen Mitteln.
Genau hier wird Putins Eingeständnis der Schwäche zur Gefahr. Unverhohlen droht er einmal mehr damit, Atomwaffen einzusetzen, und er betont: »Das ist kein Bluff.«
Man muss den Diktator aus Moskau leider beim Wort nehmen: Das Risiko, dass er auch vor einem Atomschlag nicht zurückschreckt, ist real. Da braucht es keine große Kreml-Psychologie. Am Ende ist es egal, ob Putin zur Bombe greift, weil er den Bezug zur Wirklichkeit vollends verloren hat oder er sich durch die Wirklichkeit in die Enge getrieben sieht.
Niemand im Westen will eine direkte Konfrontation mit Russland. Und doch darf Putins Unberechenbarkeit kein Grund sein zurückzuschrecken. Die Antwort der internationalen Gemeinschaft können nur maximale Geschlossenheit, maximale Hilfe für die Ukraine und maximaler Druck auf Russland sein.
Und wo immer es geht, muss der Westen die Opposition in Russland gegen Putin unterstützen. Die Proteste gegen die Teilmobilisierung, der Run auf Flüge ins Ausland sind Anzeichen, dass viele Menschen Putins Order nicht billigen. Wachsender, spürbarer Widerstand im eigenen Land gegen Putins Eskalationskurs wären in dieser Lage jedenfalls äußerst willkommen.
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Bewegender Auftritt von Selenskyj vor der Uno, Nordkorea will Russen keine Waffen liefern: Mit eindrücklichen Worten hat sich der ukrainische Präsident per Video an die Uno gewandt – es gab stehende Ovationen. Der Bundespräsident fürchtet weitere Eskalationen. Und: Kiew und Moskau tauschen Gefangene aus. Das geschah in der Nacht.
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Grüne und FDP wollen russischen Deserteuren Asyl gewähren: Hunderttausende Russen könnten bald zum Kriegsdienst in der Ukraine gezwungen werden. FDP und Grüne wollen Deserteuren einen Ausweg bieten.
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Russen gehen gegen Teilmobilmachung auf die Straße – mehr als 1300 Festnahmen: Im ganzen Land protestieren Russinnen und Russen gegen Wladimir Putins Kriegsentscheidung. SPIEGEL-Korrespondentin Christina Hebel berichtet von einem harten Durchgreifen der Sicherheitskräfte in Moskau.
Wann wird der Sicherheitsrat endlich reformiert?
Als Putin im Februar die Ukraine überfiel und per TV-Ansprache den Beginn seiner »Militärischen Spezialoperation« verkündete , da saß in New York gerade der Uno-Sicherheitsrat bei einer Dringlichkeitssitzung zusammen. Nun sieht es so aus, als wollte der Kremlherrscher die internationale Gemeinschaft erneut vorführen: Während sich im Hauptquartier der Vereinten Nationen rund 150 Staatenlenker aus aller Welt zur Vollversammlung trafen, verbreitete Putin seine zweite Kriegserklärung – die Teilmobilmachung seiner Truppen.
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen: Seit Jahren blockiert
Foto: IMAGO/Loey Felipe/UN Photo / IMAGO/Xinhua
Die Empörung über die weitere Eskalation ist groß. Vor wenigen Stunden wandte sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in New York per Videobotschaft an die Welt. Er verlangte eine Bestrafung Russlands für den Überfall auf sein Land, dazu gehörten nicht nur Sanktionen, sondern auch die Isolation in internationalen Organisationen: Russland solle – das ist keine neue Forderung – sein Veto-Recht im höchsten Uno-Gremium verlieren, dem Weltsicherheitsrat.
Dieser kommt am Donnerstag in New York zusammen, die Außenminister der Ukraine und Russlands werden dabei sein, auch Annalena Baerbock nimmt teil. Tatsächlich wird die Runde bei dieser Gelegenheit wohl einmal mehr nur ihre Ohnmacht offenbaren. Denn Selenskyj hat ja recht: Solange militärische Aggressoren, solange Kriegsverbrecher per Veto-Recht über ihr eigenes Schicksal mitbestimmen und so Strafen verhindern können, ist der Sicherheitsrat handlungsunfähig.
Neu ist diese Erkenntnis wahrlich nicht, neu sind auch nicht die Rufe nach einer Reform, geführt haben sie bisher zu nichts. Und selbst wenn sich jetzt sogar US-Präsident Joe Biden auf großer Bühne für eine Neuaufstellung des Gremiums ausspricht – mir fehlt der Glaube, dass sich die Selbstblockade ausgerechnet jetzt auflösen lässt und weitere Staaten in den Kreis der Mächtigen aufgenommen werden. Russland gegen seinen Willen das Veto-Recht zu entziehen, ist faktisch nicht möglich.
Arme Trumps, reiche Trumps
Ich muss es leider zugeben, aber Donald Trump ist für uns eine echte Bank: Wann immer wir eine Nachricht über den früheren US-Präsidenten auf der Seite platzieren, avanciert sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit binnen weniger Minuten zur aktuell meistgelesenen Meldung auf SPIEGEL.de. Weil das so ist, müssen wir uns hin und wieder zwingen, nicht jeden Unsinn wiederzukäuen, den der 76-Jährige so von sich gibt (das ist ja gar nicht mal so wenig).
Donald Trump: Betrug im großen Stil?
Foto: GAELEN MORSE / REUTERS
Im aktuellen Fall bestand in Sachen Relevanz keine Gefahr: Die New Yorker Generalstaatsanwältin Letitia James hat nach jahrelangen Ermittlungen und juristischen Rangeleien Zivilklage gegen Trump, sein Unternehmen und seine drei Kinder Donald Junior, Eric und Ivanka eingereicht.
Der Vorwurf: Betrug. Trump und Co. sollen im großen Stil und über Jahre hinweg die Finanzen der Trump Organization manipuliert haben. Mal wurde demnach der Firmenwert aufgebläht, mal kleingerechnet, je nachdem, ob man gerade einen Kredit brauchte oder Steuern zahlen musste.
Mindestens 250 Millionen Dollar Wiedergutmachung sollen die Trumps nach dem Willen der Staatsanwältin zahlen. Zudem will sie verhindern, dass der Ex-Präsident oder seine Kinder je wieder Geschäfte in New York machen, Kredite aufnehmen oder Immobilien kaufen können. Und James hat ihre Ermittlungsergebnisse an die Bundesanwaltschaft und die Steuerbehörde übergeben, für mögliche strafrechtlich Konsequenzen.
Trumps Reaktion war vorhersehbar, er wittert mal wieder eine politisch motivierte »Hexenjagd«.
Die übliche Frage, die sich bei solchen Geschichten im Fall Trump anschließt: Kann ihm das alles gefährlich werden?
Nun, Trumps Konflikte mit der Justiz füllen ganze Bücher, ob nun vor, während oder nach seiner Präsidentschaft. Auch aktuell sind die Betrugsvorwürfe nicht die einzigen, die rechtliche Folgen haben könnten (Sturm auf das Kapitol, Umgang mit geheimen Dokumenten, Wahlbeeinflussung). Nur brauchen all diese Untersuchungen und Verfahren so viel Zeit, dass sie vor der nächsten Präsidentschaftswahl Ende 2024 kaum abgeschlossen sein dürften. Dass sie Trump von einer möglichen erneuten Kandidatur abhalten, ist daher unwahrscheinlich.
Fest steht so oder so: Wir werden Sie, liebe Leserinnen und Leser, noch mit vielen Trump-Meldungen beglücken können. Ziemlich sicher schon heute.
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Rechtliche Schritte gegen den Ex-US-Präsidenten: Was bedeutet die New Yorker Zivilklage gegen Trump?
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Die Startfrage heute: Für welche Stadt in Deutschland steht das Kürzel A auf Kfz-Kennzeichen?
Verlierer des Tages…
…ist Mark Zuckerberg. Die »Bild«-Zeitung hat mich auf den »Bloomberg Billionaires Index« gestoßen, eine Art Weltrangliste der Superreichen. Das Ranking zeigt, wie schlimm es um etliche Multimilliardäre in diesen Zeiten bestellt ist. Viele rote Zahlen sind da zu sehen, was bedeutet: Das Vermögen schrumpft!
Mark Zuckerberg: 71 Milliarden ärmer – aber neue Vaterfreuden
Foto: Eric Risberg / AP
Am übelsten trifft es demnach Mark Zuckerberg. Laut »Bloomberg«-Index hat der Meta-Chef in diesem Jahr bereits 71 Milliarden Dollar verloren, mehr als alle anderen in der Liste. Das ist in der Tat eine Hausnummer, trotzdem müssen sie nicht gleich voller Mitleid nach einem Spendenkonto fragen. Zuckerbergs Vermögen beläuft sich immer noch auf rund 56 Milliarden Dollar. Aber: In den Top 50 liegt er nur noch auf Platz 20.
An der Spitze thront übrigens Elon Musk. Auch der hat zwar in diesem Jahr schon Verluste eingefahren, aber immerhin nur 2,8 Milliarden Dollar – die schreibt der Tesla-Chef aus der Portokasse ab. Musks Nettovermögen liegt laut »Bloomberg« bei fast 270 Milliarden.
Kleiner Trost für Zuckerberg: Er wird zum dritten Mal Vater. Mit seiner Frau Priscilla Chan verkündete er auf seiner Facebook-Seite, dass sie Nachwuchs erwarten. Damit ist Zuckerberg dann zugleich auch ein Gewinner des Tages.
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