Vor fast sieben Monaten marschierte Russland in die Ukraine ein, die Reaktionen in der deutschen Politik waren nahezu einhellig. Die Ampelkoalition verhängte Sanktionen, versprach Waffenlieferungen, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach von einer »Zeitenwende«. Der Tenor der Politikerinnen und Politiker damals: Was Russland macht, ist ein Akt der Ungeheuerlichkeit. Die Sorge vor einer Ausweitung des Krieges war enorm.
Nun ist etwas geschehen, das dieser Sorge neue Nahrung gibt: Kremlchef Wladimir Putin hat eine Teilmobilmachung angeordnet. Schrittweise sollen insgesamt 300.000 Reservisten einberufen werden (eine Analyse dazu lesen Sie hier .)
Regierungsvertreter in Deutschland bewerten Putins Ankündigung vorrangig als Zeichen der Schwäche angesichts der jüngsten militärischen Rückschläge für die Invasoren. Unterschiedliche Bewertungen von Putins Rede kamen hingegen vor allem aus der Opposition.
Die Reaktionen aus Berlin zeigen, wie sehr sich der Blick der deutschen Politik auf die russische Invasion seit Februar gewandelt hat.
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Bundeskanzler Olaf Scholz nannte die Ankündigung des russischen Präsidenten einen »Akt der Verzweiflung«. Russland könne »diesen verbrecherischen Krieg nicht gewinnen«, sagte er am Rande der Uno-Vollversammlung in New York. Mit den jüngsten Entscheidungen zur Teilmobilisierung und Abhaltung von Scheinreferenden in besetzten ukrainischen Gebieten mache Putin die Situation »noch viel schlimmer«.
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Auch Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) sprach von einer »weiteren Eskalation dieses völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen die Ukraine«. Die Mobilisierung der russischen Reservisten sei ein »schlimmer und falscher Schritt aus Russland«. FDP-Chef Christian Lindner wertete Putins Schritt als »Zeichen der Schwäche«. Allerdings: Der Schritt zeige, »dass wir mit einem langen Konflikt rechnen müssen«.
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Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) sprach von einem »Zeichen der militärischen und politischen Schwäche«. Putin versuche nicht nur, die Ukraine zu zerstören, sondern er ruiniere auch sein eigenes Land. »Skrupellos und brutal schickt er erneut Tausende junger Menschen in einen sinnlosen Tod in diesem brutalen und verbrecherischen Krieg«, sagte die SPD-Politikerin. »Russland sollte sich jedoch nicht täuschen: Wir werden in unserer Unterstützung für den mutigen Abwehrkampf der Ukraine nicht nachlassen.«
»Dinge, die dazu geeignet sein sollen, die Weltgemeinschaft zu erschrecken«
In vielen Aussagen schwingt jedoch auch Sorge vor einer weiteren Eskalation des Krieges mit. Die Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion, Katja Mast, sagte, die Teilmobilmachung zeige, dass Putin gewillt sei, auch weitere Schritte zu gehen. Putin versuche nach militärischen Misserfolgen, »psychologische Hürden« aufzubauen bis hin zur Drohung mit Atomwaffen, sagte der FDP-Außenexperte Alexander Graf Lambsdorff auf Welt TV. »Das sind Dinge, die dazu geeignet sein sollen, die Weltgemeinschaft zu erschrecken.«
Lambsdorff warf zudem die Frage auf, ob Putins Schritt nun auch zu einem möglichen Stimmungsumschwung in Russland führen könne. »Das ist schon für die russische Gesellschaft eine ganz schöne Veränderung, weil der Krieg damit auch in den großen Metropolen ankommt«, so der FDP-Politiker. Putin könne »die immensen Opfer des Krieges auch im eigenen Land nicht mehr mit noch so viel Propaganda weglügen«, sagte auch die Grünen-Vizefraktionschefin Agnieszka Brugger.
Streit über Panzerlieferungen
In der Opposition fielen die Reaktionen unterschiedlicher aus: Die CDU/CSU-Fraktion nutzte Putins Ankündigung, um erneut Druck auf die Ampel bei der Frage von Panzerlieferungen an die Ukraine auszuüben.
So sagte Unionsfraktionsvize Johann Wadephul (CDU), dass Putin endgültig die Maske fallen lasse. »Die Ukraine hat die Möglichkeit, das eigene Land erfolgreich zu verteidigen und von Russland besetzte Gebiete zu befreien.« Doch dafür brauche es mehr als zuletzt substanzielle Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft in Form von schweren Waffen. »Es ist höchste Zeit, dass Deutschland endlich den entscheidenden Schritt geht und Kampf- und Schützenpanzer westlicher Bauart liefert«, sagte Wadephul.
Die Co-Parteichefin der Linken, Janine Wissler, forderte eine Aufnahme von Flüchtlingen aus Russland. »Menschen, die jetzt aus Russland fliehen, weil sie den Krieg ablehnen und nicht als Reservisten eingezogen werden wollen, brauchen Schutz und Asyl. Deutschland muss schnelle und unkomplizierte Aufnahmemöglichkeiten garantieren«, sagte sie »t-online«. Menschenleben würden immer mehr zum »Verschleißmaterial eines verbrecherischen Krieges Putins«.
AfD raunt von »drittem Weltkrieg«
AfD-Co-Chef Tino Chrupalla warnte: »Der dritte Weltkrieg droht, und Deutschland wäre wegen der Eskalationsstrategie der Ampel direkte Kriegspartei.« Waffenlieferungen an die Ukraine führten zur Eskalation und zögen Deutschland in den Krieg hinein. Die Bundesregierung müsse sich für Friedensverhandlungen einsetzen »und eine atomare Konfrontation abwenden«. Deutschland habe im Ukrainekrieg nichts zu gewinnen, »aber alles zu verlieren«.
Die Bundesregierung selbst sieht die Gefahr eines Nuklearkrieges als gering an. Trotz Putins Ankündigung sieht sie keinen Anlass, die Einschätzung der atomaren Bedrohungslage zu ändern. »Wir haben derzeit keine Kenntnisse darüber, bekommen keine Nachrichten darüber, dass seitens Russlands die Bereitschaft der Nuklearkräfte hochgefahren würde«, sagte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums.
In der Frage nach neuen Waffenlieferungen bleibt die Ampel zerstritten. In FDP und bei den Grünen gibt es Stimmen, die für die Lieferung von Kampfpanzern plädieren. Dazu zählt etwa Anton Hofreiter (Grüne), der erneut die Lieferung von Schützen- und Kampfpanzern forderte: »Da, wo es nötig ist, müssen wir unsere Unterstützung noch ausbauen.«
»Wir wollen die Ukraine ertüchtigen, sich zu verteidigen«, sagte hingegen Vizeregierungssprecher Wolfgang Büchner. »Aber es geht nicht darum, Waffen zu liefern, mit denen Russland angegriffen werden kann.« Die Bundesregierung lehnt bislang die von der Ukraine gewünschte Lieferung westlicher Kampfpanzer ab; hier gebe es trotz der nun angekündigten Teilmobilisierung keine neue Linie, hieß es aus dem Verteidigungsministerium.