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Luisa Neubauer und Ulrich Schneider: Das Märchen vom unsozialen Klimaschutz – Gastbeitrag

Luisa Neubauer und Ulrich Schneider


Foto: Christoph Soeder / dpa / Xander Heinl / photothek / IMAGO

Jede Krise ist eine Chance? Schön wär’s. Coronapandemie, Klimakrise, Energiekrise, wachsende Armut; die Krisen überschlagen sich, ein Ende ist nicht in Sicht. Menschen werden von Sorgen erdrückt.

»Wie soll ich meine Heizrechnung noch bezahlen?«, fragen sich die einen. »Muss ich meinen Betrieb aufgeben?«, die anderen. Und man fragt sich, was denn noch kommen soll. Zwar will die Bundesregierung Menschen finanziell entlasten. Das passiert allerdings nicht umfassend und zielgerichtet genug.

Während die Klimakrise in der öffentlichen Wahrnehmung gerade eine Art Pause macht, dreht sie in Wahrheit auf: Zuletzt verloren 30 Millionen Menschen in Pakistan durch Fluten ihr Zuhause, Europa erlebte im Sommer historische Dürren, der Rhein trocknete aus, in Brandenburg zwangen Waldbrände Ortschaften zur Evakuierung. Das alles in einer 1,2 Grad heißeren Welt. In wenigen Generationen könnte die Welt bei plus drei Grad Erhitzung angekommen sein.

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Wer einen den Umständen entsprechenden radikalen Klimaschutz einfordert, dem wird erklärt, dass man sich erst um die aktuellen Entlastungen kümmert müsse. Keine Zeit für Klimaschutz. Man drückt sich natürlich anders aus, man sagt: »Wir machen doch schon«. Doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache.

Zuletzt wurde eine Überprüfung der Klimaschutzbemühungen im Verkehrssektor abgebrochen, weil es vor lauter Stillstand nicht genug zu prüfen gab. Wer wiederum feststellt, dass die Entlastungen nicht annähernd reichen, um der Not der Menschen gerecht zu werden, dem wird eine Gratismentalität vorgeworfen.

Von der Vision einer solidarischen Gesellschaft, die sich der Klimakrise entgegenstellt und soziale Sicherheit schafft, entfernen wir uns immer weiter. Ausgerechnet eine von Sozialdemokraten und Grünen angeführte Regierung bleibt bei Klima und sozialer Gerechtigkeit deutlich unter ihren Möglichkeiten.

All das wird begleitet von den Märchen derjenigen, die weder an sozialem Ausgleich noch an Klimaschutz interessiert sind. Sie haben es geschafft, ein »oder« zwischen »Klima« und »Soziales« zu setzen. Klimaschutz wird als unsozial und zu teuer dargestellt, Armut wiederum als Naturgesetz. Mit diesem »oder« erklären politische Kräfte, man müsse sich zwischen sozialem Ausgleich und Klimaschutz entscheiden, beides zusammen gehe nicht, schon gar nicht jetzt.


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Das zweite Märchen ist die Geschichte von der finanziellen Knappheit: Man müsse sich zwischen Entlastungen für die Menschen heute und Investitionen in Klimaschutz für die Welt von morgen entscheiden. Die schwarze Null ist in diesem Märchen wichtiger als die Würde der Menschen am Existenzminimum oder der Sicherung der ökologischen Lebensgrundlagen. Reichtum lässt sich angeblich nicht umverteilen: Wer hat, hat’s verdient, und wer arm ist ebenso. So lassen sich ausbleibende Hilfen und ausbleibende Klimainvestitionen rechtfertigen, ohne allzu unmenschlich zu wirken.

Aber es ginge auch anders. Man stelle sich vor, es würde eine andere Geschichte erzählt von einer Gesellschaft, die versucht, aus den Krisen herauszukommen, sozial gerecht und ökologisch nachhaltig. Das wäre kein Märchen, denn es ist möglich.

Die Wurzeln der Energiekrise und der Klimakrise sind dieselben: Abhängigkeit von fossilen Energien und fossilen Energiekonzernen und eine Politik, durch die Gewinne privatisiert und Verluste kollektiviert werden. Im ersten Halbjahr wuchsen die Gewinne des Energiekonzerns RWE auf deutlich mehr als zwei Milliarden Euro, möglich gemacht durch eine kriegsbedingte Knappheit und bezahlt von Menschen, für die die Nebenkostenabrechnung am Ende des Monats zum Abgrund geworden ist.

Damit dieser Winter der letzte ist, in dem sich die Menschen vor der Gasrechnung fürchten, müssen wir von den fossilen Energien, ihren Autokraten und Megakonzernen loskommen. Das ginge mit einer nie dagewesenen Beschleunigung der Energiewende und einem radikalen Ausbau von Wind und Solarkraft. Niemals zuvor war es so offensichtlich, dass Klimaschutz und Soziales nicht zu trennen sind.

Fridays for Future hat einen Sonderfonds in Höhe von 100 Milliarden vorgeschlagen, der diese Transformation in ihren Anfängen finanzieren und vor allem beschleunigen kann. Das würde heißen, im Jahr 2023 die Schuldenbremse zu lockern. Ja, das belastet den Haushalt, schützt aber vor deutlich größeren Belastungen. Je weniger wir jetzt investieren, um uns vor der Klimakatastrophe zu schützen, umso höher werden die Klimaschäden der nächsten Hochwasser, Brände, Ernteausfälle.

Die Krisen treffen alle, aber nicht alle gleich. Klimaschäden spüren zuerst die Ärmsten. Etwa 30 Milliarden Euro dürfte die Flut im Ahrtal allein finanziell gekostet haben; was hätte man mit dem Geld alles für Arme, für Bildung und Gesundheit tun können?

Soziale Sicherheit gibt es nicht ohne Klimaschutz

Auf der anderen Seite hängt erfolgreicher Klimaschutz von sozialer Sicherheit ab. Wer heute in Sorge vor der Nebenkostenabrechnung und steigenden Lebensmittelpreisen lebt, dem fehlt es an Geld und Zeit für das, was man »ökologische Teilhabe« nennen kann. Es fehlt an Möglichkeiten, den Kampf gegen die Klimakrise mitzugestalten und sich einzumischen. Ohne ökologische Teilhabe für alle wird die Transformation absehbar ungerecht und bestimmt nicht nachhaltig – weil genau die Perspektiven fehlen, die den Ausschlag geben sollten. Es ist im Interesse aller, dass alle Menschen die Möglichkeiten haben, an Lösungen mitzuwirken.


Mit zielgerichteten, substanziellen Entlastungen für die Ärmsten ließe sich Not lindern. Die unverdienten Übergewinne der Stromkonzerne sollten genutzt werden, um die Stromrechnungen des ärmeren Teils der Bevölkerung zu begleichen. Mit der Schuldenbremse 2023 sollte es vorbei sein. Soziale Ungleichheiten und kollabierte Ökosysteme wiegen schwerer als Schulden.

Das Märchen vom Widerspruch zwischen sozialer Gerechtigkeit und Klimagerechtigkeit nützt wenigen und schadet vielen. Also gehen wir gemeinsam für soziale Sicherheit und Klimagerechtigkeit auf die Straße und geben der Regierung ein deutliches Zeichen, dass wir uns nicht gegeneinander ausspielen lassen.


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