1. Schauspiel in Schwarz
Die Welt hat heute Abschied genommen von der Queen. In Deutschland wehten die Fahnen auf halbmast, die Pariser Metro benannte eine Station auf der Prachtstraße Champs-Elysées in »Elizabeth II. 1926-2022« um – und in Großbritannien schwiegen die Leute zwei Minuten lang. Schulen und Universitäten sowie Geschäfte und Pubs blieben geschlossen. An der Trauerfeier in der Westminster Abbey am Mittag nahmen Staats- und Regierungschefs, gekrönte Häupter und Würdenträger aus aller Welt teil. Polizei, Geheimdienste und Anti-Terror-Einheiten koordinieren die wohl größte Sicherheitsoperation, die London je erlebt hat. (Hier ein kommentiertes Protokoll des Tages.)
Während unter den Klängen der Dudelsäcke der Sarg mit der Monarchin durch Londons Prachtstraßen zu schweben schien, war die Meinung in unserem Newsroom einhellig, wie meine Kollegin Patricia Dreyer im Liveblog zur Queen-Beisetzung schrieb: »Das sind die Gänsehautmomente, die der britischen Monarchie bis heute eine Sonderstellung verschaffen.«
Für Menschen wie mich, die aus großer Distanz allem Monarchischem gegenüber ohne Taschentücher durch den Tag kamen, boten Arno Franks Liveblog-Kommentare willkommene Abwechslung zum Schauspiel in Schwarz. An einer Stelle fragte er: »Seit wann produziert Rolls-Royce eigentlich so entsetzlich hässliche Automobile?« Ein Leser, offenbar ein genervter Engländer, forderte wenig später seine fristlose Entlassung.
Was die Briten in diesen Tagen so nostalgisch feiern, ist die Würde und Zurückgenommenheit, mit der Elizabeth II. ihre Rolle ausfüllte. Ihre geräuschlose Art, Politik zu machen, hatte aber auch Schattenseiten. »De mortuis nihil nisi bene, sagt der Bildungsbürger, über Tote erzählt man nichts Schlechtes«, erinnert Nikolaus Blome in seiner heutigen Kolumne. »Aber eines muss man doch loswerden: Die Queen hätte den Brexit verhindern können. Doch sie hat es nicht getan.«
Die Queen habe jene große politische »Kings Speech« verpasst, die ihr Vater gehalten hat, als es auf ganz andere Weise um die Insel ging. Was mag da in ihr überwogen haben, fragt Blome: »Die Sorge, die pro-Brexit-Hälfte des Landes gegen sich aufzubringen? Die Idee, dass eine Monarchin kein profan-politisches Risiko eingehen dürfe? Oder war sie etwa für den Brexit und selbst keine überzeugte Europäerin – aber wollte das nicht öffentlich herzeigen? Die Antworten auf diese Fragen nimmt sie mit ins Grab. Eine schon jetzt historische Persönlichkeit, die sich gleichwohl weigerte, Geschichte zu schreiben: Ich verstehe das bis heute nicht.«
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Alles zur Beisetzung der Queen finden Sie hier
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Und hier lesen Sie, wie Englands gekrönte Häupter bisher unter die Erde kamen
2. Wasser predigen, Bier trinken?
Achteinhalb Stunden lang übertrug die ARD die Beisetzung der Queen live im Fernsehen. Zu Beginn sprach der Kommentator mit getragener Stimme: »Heute steht die Welt still. Oder sie bewegt sich zumindest deutlich langsamer.« Das stimmt natürlich nur so halb. Auf dem Münchner Oktoberfest zum Beispiel drehen sich Riesenrad, Kettenkarussell und Ochsenspieß sicher genauso schnell wie die Tage zuvor. Ich werde mir heute Abend persönlich ein Bild machen können, wenn ich zum ersten Mal nach zweieinhalb Jahren Pandemiepause die Wiesn besuche, und ein Prosit der Gemütlichkeit anstimme – zu Ehren der Queen, von mir aus!
Lange habe ich überlegt, ob ich überhaupt hingehen soll. Goldene Nase für den Wiesnwirt, Corona für den Rest? Die Vernunft spricht klar gegen einen Oktoberfestbesuch. Man sollte sich aber langsam abgewöhnen, immer auf sie zu hören, finde ich. Manchmal kommt es mir so vor, als ob wir nach der Erfahrung der letzten zwei Krisenjahre hinter jeder Ecke die nächste Katastrophe witterten. Die Unvernunft steht in Zeiten knapper werdender Ressourcen unter Generalverdacht.
Gelegenheiten, dem Gegenüber ein »I mog di« zuzurufen, werden weniger. Wir verteilen Likes statt Lebkuchenherzen. Oder setzen wütende Tweets ins Netz. SPD-General Kühnert hat seinen Twitteraccount deaktiviert, weil es ihm »jetzt einfach zu blöde« geworden sei, sich weiter digitale Wortgefechte zu liefern. Verständlich, dass er lieber im Bierzelt Rede und Antwort steht und am Eröffnungswochenende das Oktoberfest besucht hat, so wie viele andere Politikerinnen und Politiker. Auch solche, deren Parteien in der Vergangenheit eher zum Team Vorsicht gehörten.
Meine Kollegin Anna Reimann aus dem unserem Hauptstadtbüro findet: »Die Gaudi sei allen gegönnt. Aber dass Politiker, die besorgt um eine Verschlimmerung der Coronalage sind, am Münchner Superspreader-Event teilnehmen, ist unpassend – und unfair gegenüber den Schwächsten .«
Familienministerin Lisa Paus (Grüne) hat jüngst erklärt: »Das neue Infektionsschutzgesetz gibt den Ländern die Möglichkeit, in den Schulen von der Maskenpflicht Gebrauch zu machen. Mein Appell an die Länder ist: Nutzt diese Möglichkeit in den Schulen, wenn es nötig ist!« Ein richtiger Appell an Politikerinnen ihrer Partei wäre gewesen, findet Anna Reimann: »Nutzt eure Möglichkeit, die Pandemie nicht mit anzutreiben, bevor wieder die Kinder als Treiber der Pandemie gelten.«
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Lesen Sie hier den Kommentar: Vor Corona warnen, aber dann auf die Wiesn gehen – das passt nicht zusammen
3. Revolution im Bildungsföderalismus
Nach unverbrauchten großen Worten muss man in diesen Tagen ein wenig suchen. »Zeitenwende« zum Beispiel ist schon besetzt. Olaf Köller greift deshalb zu: »Transformation«. Köller leitet die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK), eine Art wissenschaftlicher Beirat der Kultusministerkonferenz (KMK). Sein Gremium hat ein 189-seitiges Gutachten mit Empfehlungen zur Digitalisierung im Bildungssystem vorgelegt, über das meine Kollegin Miriam Olbrisch aus unserem Bildungsteam heute berichtet .
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben 14 sehr konkrete Empfehlungen formuliert, die die gesamte Bildungsbiografie eines Kindes betreffen. Schon im Kindergarten sollten zum Beispiel »Digitale Medienbildung« und »Elementarinformatik« vermittelt werden. Für die Schule sollten zwei länderübergreifende Zentren digitale Lehr- und Lernmaterialien entwickeln, lautet eine weitere Empfehlung. »Länderübergreifend« – allein das riecht im Bildungsföderalismus nach Revolution, schreibt Miriam.
In der beruflichen Bildung sollen Prüfungen laut dem Gutachten zunehmend digital laufen. Ein weiterer Kernpunkt des Papiers: Die Einführung eines Pflichtfachs Informatik ab der Mittelstufe – samt entsprechender Ausbildung der Lehrkräfte. So sollen Kinder und Jugendliche befähigt werden, in einer zunehmend digitalisierten Welt zu bestehen.
Es sind hehre Ziele, denn es müssen ja nicht nur Lehrpläne bundesweit umgestellt werden, sondern auch Lehrer bereit und geschult für die Digitalisierung sein. Ties Rabe (SPD, Schulsenator in Hamburg) gibt zu bedenken, man müsse »knapp 800.000 Lehrkräfte wachküssen«.
Wir Deutschen sind ein sehr fortschrittsskeptisches Volk. Das findet jedenfalls der Kabarettist Vince Ebert, der heute in einem Gastbeitrag für den SPIEGEL schreibt: »Die wichtigste Ressource steckt in unseren Köpfen. Wenn wir nur Verzagtheit, Risikovermeidung und Verzicht propagieren und nicht auch Optimismus, Technologieoffenheit und Fortschrittsbegeisterung, geht die nächste gesellschaftliche und industrielle Revolution einfach an uns vorbei.«
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Lesen Sie hier mehr: So soll die Digitalisierung an Schulen endlich gelingen
Hier Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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»Ein paar Hundert Meter, und wir wären in einer ganz anderen Realität aufgewacht«: Eine Rakete schlug in der Nähe des AKW Piwdennoukrajinsk ein. Betreiber Energoatom spricht von »Atomterrorismus«. Selenskyj wirft Russland vor, die ganze Welt zu bedrohen. Was passiert ist – und was beschädigt wurde.
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So wollen die Ukrainer die Russen im Süden schlagen: Im Nordosten der Ukraine ziehen sich Russlands Truppen zurück. Im Süden haben es die ukrainischen Soldaten deutlich schwerer. Eine Spezialeinheit versucht, die Besatzer aufzureiben – mit Drohnen und präziser Artillerie .
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Kiew sieht zurzeit keinen Sinn in direkten Gesprächen mit Putin: Die Chancen für ein Treffen von Selenskyj und Putin stehen schlecht. Die Ukraine misstraut dem Kreml: Putin habe keine Dialogbereitschaft gezeigt – und würde Verhandlungen wohl nur als Atempause für sein Militär nutzen.
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Polizei dementiert Festnahme ukrainischer Waffenhändler: Ein Video soll zeigen, dass Ukrainer vom Westen gelieferte Panzerabwehrraketen auf dem Schwarzmarkt verkaufen wollten. Doch es ist ein Fake, der auch von russischen Offiziellen verbreitet wurde.
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Regierung rechnet mit Lieferverträgen für Flüssiggas: Bundeskanzler Olaf Scholz reist am Wochenende auf die arabische Halbinsel. Wirtschaftsminister Robert Habeck erwartet dabei Fortschritte im Kampf gegen die Energiekrise.
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Baubranche sorgt sich wegen Auftragsabsagen: In der Baubranche wächst die Sorge vor einem deutlichen Abschwung. Laut Ifo-Institut gibt es einen Anstieg bei den Auftragsstornierungen: »Mit Blick auf die künftige Entwicklung greift die Angst um sich.«
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Weniger als 15 Prozent der Singlehits in Deutschland haben Urheberinnen: Nicht nur auf den Festivalbühnen, auch in der Musikproduktion ist der Frauenanteil niedrig. Das zeigt eine Studie der MaLisa-Stiftung von Maria und Elisabeth Furtwängler. Quoten könnten helfen, sagen sie.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Ein ganz klein bisschen schuldig: Wegen ihres freizügigen Tinder-Auftritts bekam die transsexuelle Kommandeurin Anastasia Biefang einen Verweis. Nach juristischen Niederlagen will sie nun Verfassungsbeschwerde einreichen .
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Zwei Euro für eine Mahlzeit – »das reicht niemals«: In Hamburg leben rund 2000 Menschen auf der Straße, viele davon hungern. Freiwillige Helfer kaufen ein, kochen und verteilen Essen. Doch die Preise für Lebensmittel schießen in die Höhe. Wie lange geht das gut?
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»Wir haben Basketball ein bisschen sexyer gemacht«: Der erfolgreiche Abschluss der EM hat die Mannschaft selbst euphorisiert: Das Team scheint gefestigt und hat Luft nach oben. Das liegt natürlich an Kapitän Dennis Schröder – aber nicht nur .
Was heute weniger wichtig ist
Apple im Ohrfeigen-Dilemma: 120 Millionen Dollar hat der Technologiekonzern für das Sklaverei-Drama »Emancipation« bezahlt. Dann wurde dessen Star Will Smith, 53, handgreiflich. Bei der letzten Oscarverleihung ohrfeigte er Moderator Chris Rock, 57, auf der Bühne, weil der einen geschmacklosen Witz über die Frisur vom Smiths Frau gerissen hatte. Die Oscar-Academy schloss daraufhin Smith für zehn Jahre von den Verleihungen und ihren anderen Veranstaltungen aus. »Emancipation« ist nun fertig und soll auch stark sein. Doch das Fachmagazin »Variety« will nun erfahren haben, dass man bei Apple eigentlich »Emancipation« für die nächste Oscar-Kampagne eingeplant habe, nun aber beschlossen habe, dass der Film erst 2023 auf der Streamingplattform laufen soll. Der Filmprofessor Stephen Galloway, den die »New York Times« zum Thema befragt hat, sagt: Wenn Apple den Film zurückhalte, könne das den Ruf der Firma ankratzen. Wenn sie den Film rausbringt, könne das aber ebenfalls schädlich für Apple sein. »Hollywood liebt Win-win-Situationen«, erklärt Professor Galloway. »Dies hier ist eine Lose-lose-Situation«.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Über Victoria hört man Hubschreiber kreisen.«
Cartoon des Tages: Schatz und Bürde
Illustration: Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
Aus der Koch-Kolumne von Verena Lugert habe ich heute erfahren, dass die Queen auf ihrer letzten Reise in die königliche Gruft der Saint George’s Chapel auf Schloss Windsor nur ein paar Perlohrringe trug. Und den schlichten Ehering aus walisischem Gold, mit dem auch Prince Philip vergangenes Jahr bestattet worden war.
Lugert empfiehlt, als eine Art letzten Gruß an die Queen, ein Rezept zur Zubereitung von »Juwelenreis«. Das Gericht passt sicher besser zu diesem von Trauer geprägten Tag als Riesenbrezel und Wiesnhendl. Es ist ein Essen, das »schon farblich wärmt in diesen ersten kalten Herbsttagen«. Im Juwelenreis stecken neben Mandeln, viel Butter und den süßsäuerlichen Berberitzen auch Safran, Zimt und Kardamom. Der ist nicht nur gut für die Verdauung – er hebt auch die Stimmung.
Einen schönen Abend. Herzlich
Ihre Anna Clauß
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