1. Die Forderung russischer Politiker nach der Abwahl von Putin als Staatschef wird ohne Erfolg bleiben – und ist doch eine mutige Geste des Widerstands gegen den Ukrainekrieg
Machen wir kriegsmüden Deutschen uns etwas vor, wenn wir in diesen Tagen darüber sprechen, dass die jüngsten Erfolge der ukrainischen Soldaten ein möglicher Wendepunkt in einem verbrecherischen Krieg sein könnten? Heute hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj das Gebiet besucht, in dem am Wochenende noch gekämpft wurde. In der Stadt Isjum, die größtenteils zerstört ist, ließ sich Selenskyj mit Soldaten seiner Streitkräfte fotografieren.
Während Selenskyj immer wieder seine Siegeszuversicht beteuert, scheint unter westlichen Politikern durchaus umstritten zu sein, was die Rückeroberungen der ukrainischen Truppen für den weiteren Kriegsverlauf bedeuten könnten. Der amerikanische Präsident Joe Biden hat sich gestern auf die Frage, ob die Ukraine eine Wende im Krieg erreicht habe, zu seiner eigenen Ratlosigkeit bekannt: »Die Frage ist nicht zu beantworten. Es ist schwer zu sagen.« Klar sei immerhin, dass die Ukrainer ein paar bedeutende Fortschritte gemacht hätten. »Aber ich denke, es wird noch ein langer Weg sein.«
In Russland fordern inzwischen einige Kommunalabgeordnete wegen des Ukrainekriegs die Abwahl von Wladimir Putin als Staatschef. Meine in Moskau arbeitende Kollegin Christina Hebel hat mit einem von ihnen ein bemerkenswertes Interview geführt . Nikita Juferew, Abgeordneter des Sankt Petersburger Stadtbezirks Smolninskoje, ist Wirtschaftswissenschaftler. Er hat gemeinsam mit anderen Abgeordneten an die Staatsduma geschrieben und gefordert, Wladimir Putin wegen des Kriegs des Amtes zu entheben.
Die staatliche Propaganda versuche den Eindruck zu erwecken, dass ganz Russland für Putin und für die sogenannte Militäroperation in der Ukraine sei, sagt Juferew. »Aber das ist nicht der Fall. Es gibt viele von uns – Leute, die dagegen sind.« Aktionen wie das Schreiben an die Duma seien der Versuch »zu zeigen, dass wir da sind und nicht in Verzweiflung und Mutlosigkeit verfallen«.
Ich bewundere den Mut von Menschen wie Juferew, der Mitte dreißig und Vater zweier Söhne ist. Zweifellos ist es in Putins Russland gefährlich, sich offen gegen den Kriegsherrn an der Staatsspitze zu stellen. Und doch sei es »ein verfassungsmäßiges Verfahren«, das er und seine Mitstreiter gegen Putin anstrengen wollten, sagt Juferew. »Wir sind der Meinung, dass das, was Putin getan hat, alle in einen Abgrund gestürzt hat, auch unser Land Russland.«
Meine Kollegin Christina fragt, wie riskant ein Abwahlantrag wie der der Sankt Petersburger Kommunalpolitiker für sie selbst sei. »Natürlich gibt es Risiken«, so Juferew, in Russland könne jeder Oppositionelle plötzlich auf der Straße mit Drogen »erwischt« werden und für sehr lange Zeit ins Gefängnis kommen. »Aus diesem Grund können wir nie vorhersagen, welche unserer Handlungen zu einer Inhaftierung führen werden und welche nicht.« Zwar seien viele Oppositionelle aus dem Land geflohen, unter den Zurückgebliebenen herrsche Angst, sich öffentlich gegen den Krieg zu äußern. »Doch die Menschen, die geblieben sind, finden ihre Wege, um gegen die Militäroperation zu protestieren.«
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Lesen Sie hier das ganze Interview: »Was Putin getan hat, hat alle in einen Abgrund gestürzt«
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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So lief die ukrainische Gegenoffensive bei Charkiw: Kiews Truppen überrollen die Russen im Nordosten des Landes und erobern strategisch wichtiges Gebiet zurück. Wie gehen die Ukrainer dabei vor? Und was wird Putins Soldaten wohl zum Verhängnis?
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Landkreistag warnt vor Zuständen wie in den Jahren 2015/2016: Die Kapazitäten sind vielerorts erschöpft: Der Deutsche Landkreistag sieht bei der Versorgung ukrainischer Flüchtlinge massive Probleme – und fordert einen Gipfel zu der Problematik.
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»Putin wird scheitern, Europa wird siegen«: In ihrer Rede zur Lage der EU hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen deutliche Worte für Russland gefunden. Sie lobte auch den Mut der Ukrainer und die Solidarität der Europäer mit ihnen.
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
2. Ein Rettungsschirm des Bundes für Stadtwerke wegen steigender Gas- und Strompreise könnte sinnvoll sein – auch um die Energiewende nicht zu sabotieren
Wie bedrohlich die Energiekrise in den nächsten Monaten für viele private Gas- und Stromkunden und Industriebetriebe wirklich wird, ist noch völlig unklar. Die Energielieferanten scheinen sich schon jetzt massiv zu sorgen. Heute hat der Branchenverband der deutschen Stadtwerke gewarnt, dass die stark gestiegenen Kosten für Strom und Gas und die Zahlungsunfähigkeit vieler Kunden zu Insolvenzen einzelner Stadtwerke führen könnte.
»Wir brauchen eine Verständigung von Bund und Ländern, was die Liquiditätsprobleme der Stadtwerke und den Aufbau eines Rettungsschirms betrifft«, so Ingbert Liebing, der Hauptgeschäftsführer des Verbandes kommunaler Unternehmen (VKU).
Der Verband vertritt die Interessen von mehr als 1500 Unternehmen, darunter vor allem Stadtwerke. Die Energiebranche ist in Aufruhr. Die Kürzung der Gaslieferungen durch Russland haben in den vergangenen Monaten die Preise stark ansteigen lassen. Große Gasimporteure wie Uniper oder die Leipziger VNG werden bereits mit Milliardensummen gestützt, weil sie die Ausfälle Russlands mit hohen Verlusten am teuren Spotmarkt decken müssen.
Das Unternehmen Uniper hat heute mitgeteilt, dass man mit dem Bund über eine direkte Kapitalerhöhung spreche. Das heißt: Der Bund erwägt offenbar eine Verstaatlichung von Uniper.
In einer sogenannten Pflichtmitteilung für die Börse heißt es, die Bundesregierung, der finnische Mutterkonzern Fortum und Uniper prüften aufgrund der gestiegenen Unsicherheiten »eine direkte Kapitalerhöhung, die zu einer signifikanten Mehrheitsbeteiligung des Bundes an Uniper führen würde«. Es seien aber noch keine Entscheidungen getroffen worden.
Manche Stadtwerke, so sagt deren Verbandssprecher, müssten für den Gaseinkauf jetzt das Zwölffache von dem bezahlen, was in der Vergangenheit üblich gewesen sei. Und wenn die Stadtwerke nun riesige Summen für den Handel bräuchten, bleibe kein Spielraum mehr für Investitionen in die Energiewende. Dass schwer strapazierte Wort »Rettungsschirm« scheint mir im Zusammenhang mit den Problemen der Energieversorgung ausnahmsweise mal wirklich berechtigt zu sein – in letzter Konsequenz geht es hier tatsächlich um Fragen der Rettung des Planeten.
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Lesen Sie hier mehr: Stadtwerke rufen nach Rettungsschirm
3. Luisa Neubauer hat Geld vom Konto eines Internet-Haters pfänden lassen – und beweist damit, dass die juristische Gegenwehr gegen Hass im Netz funktioniert
Die Klimaaktivistin Luisa Neubauer hat rund 10.000 Euro vom Konto des rechtspopulistischen Autors Akif Pirinçci pfänden lassen, so berichtet heute mein SPIEGEL-Kollege Max Hoppenstedt. Zu der Geldzahlung war Pirinçci vom Landgericht Frankfurt am Main verurteilt worden, weil er Neubauer mit einem sexistischen, erniedrigenden Kommentar auf Facebook angegriffen hatte.
Nachdem Pirinçci das Geld offenbar nicht freiwillig bezahlen wollte, entschieden sich die Anwälte von Neubauer, den Betrag durch eine Kontopfändung zu besorgen. »Herr Pirinçci hat vielleicht gedacht, dass uns die Zwangsvollstreckung zu mühsam ist, aber wir sind da hartnäckig«, erklärte Anwalt Severin Riemenschneider von der Media Kanzlei, die Neubauer vor Gericht vertreten hatte.
In dem gepfändeten Betrag seien unter anderem die Verfahrenskosten enthalten, außerdem 6000 Euro, die das Gericht als Entschädigungszahlung in seinem Urteil festgelegt hatte. Diese Summe würde direkt an die Betroffenenorganisation Hate Aid gehen, um deren Arbeit zu unterstützen, so der Anwalt.
Ich finde die Konsequenz, mit der Neubauer und ihr Anwalt gegen einen prominenten Hassverbreiter vorgehen, vorbildlich. »Dieser Fall zeigt, dass es durchaus möglich ist, sich gegen Sexismus, Misogynie und andere Formen von Hetze im Netz zu wehren«, hat Neubauer dem Kollegen Max in einem SPIEGEL-Interview zum Urteil gegen Pirinçci gesagt . Es gehe ihr nicht nur darum aufzuzeigen, was im Netz abgeht. »Sondern vor allem darum aufzuzeigen, wie und dass sich gewehrt werden kann.«
Ein Teil des Problems sei, dass Frauen oft gefragt würden: »Oh, was macht ihr damit und was macht dieser Hass mit euch?« Viel zu selten dagegen werde gefragt: »Woher kommt dieser Hass?« Es gehe nicht um einen Konflikt zwischen ihr und einem Hater, so Neubauer, »sondern um strukturellen Frauenhass, Sexismus und Misogynie, die überall und immer radikaler zum Ausdruck gebracht werden«.
Der Betroffenenorganisation Hate Aid gelinge es immer wieder auf zivilrechtlichem Wege, Entschädigungszahlungen für die Opfer von Beleidigungen und Hetze zu erstreiten, sagt mein Kollege Max. »Diese Möglichkeit steht zwar theoretisch allen Betroffenen offen, aber praktisch ist es recht aufwendig und zäh, wie dieser Fall wieder zeigt.« Wichtiger für die im Netz Attackierten sei, dass die Strafverfolgungsbehörden noch konsequenter ermitteln und dass Gerichte und Polizisten auch außerhalb spezialisierter Stellen in Onlineermittlungen geschult werden. Seit Februar hat eine neue Zentralstelle beim Bundeskriminalamt dazu ihre Arbeit aufgenommen, aber weil die Techkonzerne nicht mitspielen, operiert das BKA nur mit einem reduzierten »Alternativszenario«. (Mehr dazu lesen Sie hier .)
Prominente Verfahren wie das von Neubauer gegen Pirinçci bringen dennoch etwas, findet Max. »Erstens spendet Neubauer das Geld an Hate Aid, die damit ihre Arbeit für Betroffene insgesamt finanzieren. Und zweitens sorgt es für Aufmerksamkeit auf ein Thema, das für zu viele Menschen im Netz zum Alltag gehört und im schlimmsten Fall auch in Gewalt oder Enthemmung auf der Straße eskalieren kann.«
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Luisa Neubauer lässt Konto von rechtem Autor Pirinçci pfänden
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Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Ein offener Brief dreier ostdeutscher Linkenpolitikerin mit dem Titel ›Es reicht‹ kritisiert, Wagenknecht habe dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in die Hände gespielt und ›die Redezeit für rechtsoffene populistische Plattitüden verschwendet‹.«
Cartoon des Tages: Deutschland im Herbst
Illustration: Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
Könnten Sie sich einen Film des gestern gestorbenen Kino-Großmeisters Jean-Luc Godard ansehen. In seinen Werken präsentierte er sich als »Avantgardist, Provokateur, Nervensäge«, wie schon die Überschrift der Godard-Filmtipps verrät, die meine Kolleginnen und Kollegen und ich zusammengestellt haben.
Mir selbst unbedingt ansehen will ich den Film »Pierrot le fou« aus dem Jahr 1965, über den mein Kollege Andreas Borcholte schreibt, es sei ein »in knallige Mondrian-Farben getünchtes Pop-Art-Kunstwerk mit Jean-Paul Belmondo und Anna Karina« und ein Meilenstein in Godards Schaffen.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Wolfgang Höbel
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