1. Kanonen für den Frieden
Die Ukraine hat ihre Offensive gegen die russischen Invasoren im Nordosten des Landes fortgesetzt. Nach ihrer Niederlage in der Region bei Charkiw ziehen sich Russlands Truppen ukrainischen Angaben zufolge nun auch aus ersten Orten im Nachbargebiet Luhansk zurück. Das ambitionierte und immer realistischer erscheinende Ziel der Ukraine: Die vollständige Befreiung der russisch besetzten Gebiete.
Mithilfe westlicher Waffen will Kiew nun auch die besetzten Teile der angrenzenden Regionen Luhansk und Donezk zurückerobern. In seiner nächtlichen Videobotschaft mahnte Selenskyj, der Westen müsse jetzt die Waffenlieferungen intensivieren. Insbesondere fordert die Ukraine die Lieferung von Kampf- und Schützenpanzern, vor allem aus Deutschland, und nennt dabei konkret den Kampfpanzer Leopard.
Aus dem Arsenal der Ausreden (zu riskant, zu putinprovozierend, zu schwer zu bedienen für die Ukrainer, zu kompliziert über die Grenze zu bringen, zu wichtig für die eigene Landesverteidigung …), mit denen die deutsche Regierung Panzerlieferungen bislang ablehnt, entschied sich Kanzler Olaf Scholz heute für den Evergreen, es dürfe keine Alleingänge Deutschlands geben. Die US-Regierung signalisierte heute aber, der Bundesregierung bei der Lieferung von Waffen freie Hand zu lassen. »Wir wissen die militärische Unterstützung Deutschlands für die Ukraine zu schätzen und werden uns weiterhin eng mit Berlin abstimmen«, schrieb die US-Botschaft in Berlin auf Twitter. Aber: »Die Entscheidung über die Art der Hilfen liegt letztlich bei jedem Land selbst.«
Warum schickt die Bundesregierung nicht wenigstens ausgemusterte Marder-Panzer? Der Rüstungskonzern Rheinmetall hat auf eigene Kosten 16 Marder-Schützenpanzer aus alten Bundeswehrbeständen weitestgehend wiederhergestellt, teilte das Unternehmen auf Anfrage von NDR und ARD-Hauptstadtstudio mit. Sie seien auslieferfähig, doch bislang gebe es für diese keine Ausfuhrgenehmigung durch die Bundesregierung.
Kollege Jörg Römer aus dem SPIEGEL-Wissenschaftsressort urteilt: »Die Argumente, mit denen die Bundesregierung sich weiterhin gegen die Lieferung von Kampfpanzern sperrt, sind technisch, militärstrategisch und politisch schlicht haltlos.« Bei der jüngsten Offensive wurde sehr deutlich, dass westliche Waffen im Kampf gegen das russische Militär technische Lücken füllen können .
-
Lesen Sie hier mehr: Ukraine meldet russischen Abzug aus Stadt in Luhansk
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
-
Der Generaloberst, der den Ukrainern Hoffnung gibt: Der Befehlshaber der ukrainischen Landstreitkräfte Oleksandr Syrskyj gilt als strategischer Kopf hinter der Offensive bei Charkiw. Es ist nicht sein erster Erfolg gegen die Russen .
-
EU-Länder sollen Übergewinne von Stromerzeugern verpflichtend umverteilen: Die Ampel haderte lange damit, die wirtschaftlichen Gewinner der Energiekrise zur Kasse zu bitten. Nun will die EU den Mitgliedstaaten ein Einschreiten verbindlich vorschreiben.
-
Scholz verspricht Unternehmen Hilfen – und empfiehlt Sonderzahlungen für Beschäftigte: Arbeitgeberpräsident Dulger sorgt sich um die deutsche Wirtschaft und verlangt mehr Staatshilfen. Kanzler Scholz verspricht, die Unternehmen stärker zu unterstützen.
-
Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: das News-Update.
2. Mörder ohne Maske
Ziemlich exakt ein Jahr ist es her. Am 18. September feuerte Mario N. aus direkter Nähe einen tödlichen Schuss auf einen Tankstellenmitarbeiter in Idar-Oberstein. Der junge Kassierer Alexander W. hatte ihn aufgefordert, sich an die Vorschriften zu halten und wegen der Coronapandemie eine Maske zu tragen. Heute nun ist der Angeklagte zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Das Landgericht im rheinland-pfälzischen Bad Kreuznach wertete in seinem Urteil die Tat als Mord und folgte damit dem Antrag der Staatsanwaltschaft.
Der Tat liegt dem Gericht zufolge ein politisches Motiv zugrunde, berichtet SPIEGEL-Gerichtsreporterin Julia Jüttner. Mario N. habe sich demnach ab 2015 radikalisiert, die Pandemiemaßnahmen hätten dies verstärkt. Der Staat habe aus Sicht von Mario N. mit der Maskenpflicht Grenzen überschritten. Da er jedoch nicht an Verantwortliche wie die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel oder den damaligen Gesundheitsminister Jens Spahn herangekommen sei, habe er Alexander W. stellvertretend getötet. Dies habe die Kammer als »besonders verwerflich und verachtenswert« bewertet, sagte Gerichtssprecher Daniel Wahn.
Als ich von dem Urteil heute las, wunderte ich mich kurz, dass dieser schreckliche Akt der Gewalt erst ein Jahr zurückliegt. Damals gehörte Masketragen zum Alltag, die bevorstehende Bundestagswahl bestimmte das Nachrichtengeschehen. Es kommt mir alles so unendlich lang her vor – was vermutlich daran liegt, dass sich die Folge von Katastrophen und globalen Krisen seitdem noch beschleunigt hat.
»Lebenslang« bedeutet in Deutschland übrigens mitnichten, dass Verurteilte bis zum Tod im Gefängnis schmoren müssen. Mario N.s Verteidiger Alexander Klein sagte, sein Mandant sei erleichtert, dass das Gericht keine besondere Schwere der Schuld festgestellt habe und das Urteil ihm damit eine Perspektive gelassen habe, nach 15 Jahren aus der Haft entlassen zu werden.
-
Lesen Sie hier mehr: Er plante, er provozierte – und er schoss.
3. Unten ohne
Werbung für Kondome gehört zum Grundrauschen meiner Teenie- und Studentenzeit in den Neunziger und Nullerjahren. Die halbwegs witzigen Warnungen, bloß nie unten ohne Sex zu haben, liefen im Kino, im Fernsehen, prangten in halbwegs cooler Art auf Postkarten oder Probierpackungen, die in Kneipen auslagen. Die Aufklärungsarbeit im Kampf gegen Aids, so mein Eindruck, hat seitdem kontinuierlich abgenommen.
Umso erstaunter war ich daher, als ich heute am Münchner Hauptbahnhof auf dem Weg ins SPIEGEL-Büro ein Plakat entdeckte, das nicht etwa fürs Masketragen in Zügen oder eine Corona-Auffrischungsimpfung warbt, sondern – ganz klassisch – fürs Kondombenutzen. Im Jahr 2023 ist das nicht nur deshalb eine gute Idee, weil in wenigen Tagen zum ersten Mal nach drei Jahren Pause das Oktoberfest wieder stattfindet. Sondern auch deshalb, weil die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche rasant steigt.
Rund 25.600 Frauen haben zwischen April und Juni eine Abtreibung vornehmen lassen, teilte das Statistische Bundesamt heute mit. Das sind 11,5 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Bereits in den ersten drei Monaten 2022 stiegen die Schwangerschaftsabbrüche um 4,8 Prozent – nach Rückgängen im Jahr 2021 um minus 5,4 Prozent und im Jahr 2020 um minus 0,9 Prozent. Ob und wie diese Entwicklung mit dem Verlauf der Coronapandemie zusammenhängt, können die Statistiker nicht sagen.
Vergleicht man die Zahlen der Schwangerschaftsabbrüche mit der Zahl der Geburten im selben Zeitraum, kann man zur Feststellung gelangen, dass jeder achte Fötus in Deutschland abgetrieben wird. Mir kommt das sehr viel vor. Statt nun aber in die Diskussion darüber einzusteigen, ob die Abschaffung des Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche richtig war oder nicht und ob die Streichung des Paragraphen 218, der die Strafbarkeit von Abtreibungen vorsieht, angezeigt wäre oder nicht, schlage ich vor: Hängt mehr Kondom-Werbung auf! Damit ungewollte Schwangerschaften gar nicht erst entstehen.
-
Lesen Sie hier mehr: Zahl der Schwangerschaftsabbrüche erneut gestiegen
(Sie möchten die »Lage am Abend« per Mail bequem in Ihren Posteingang bekommen? Hier bestellen Sie das tägliche Briefing als Newsletter.)
__proto_kicker__
Was heute sonst noch wichtig ist
-
Arbeitszeiterfassung wird in Deutschland zur Pflicht: Unternehmen müssen die Arbeitszeit in Zukunft penibel nachhalten. Das entschied das Bundesarbeitsgericht. Das Urteil ist brisant und setzt den Gesetzgeber unter Zugzwang.
-
SPD und CDU in Niedersachsen nahezu gleichauf: Es ist die letzte Landtagswahl in diesem Jahr: Im Oktober wählt Niedersachsen. Laut Umfrage liefern sich SPD und CDU ein Kopf-an-Kopf-Duell um den Sieg, gleich drei Parteien kämpfen mit der Fünfprozenthürde.
-
Betrüger ködern mit der Energiepreispauschale: Für die Auszahlung der 300 Euro solle man seine Daten bestätigen: Vor solchen SMS und E-Mails, die vermeintlich von Banken und Behörden kommen, warnen jetzt Verbraucherschützer.
-
Linkenpolitiker fordern Rücktritt der Fraktionsspitze: Die Auseinandersetzung um Sahra Wagenknechts Russland-Rede im Bundestag eskaliert. Nun fordert die erste Linkenabgeordnete Konsequenzen für das Führungsteam an der Fraktionsspitze.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
-
Wie gefährlich ist das Atomendlager wirklich? Die Schweiz will unweit der deutschen Grenze ein unterirdisches Endlager für hoch radioaktiven Müll durchsetzen. Die Anwohner befürchten Auswirkungen auf ihr Trinkwasser. So bewerten Experten die Sicherheit des Standorts .
-
Nachruf auf Jean-Luc Godard: Regisseur ohne Regeln – »Lebe gefahrvoll bis zum Schluss« hieß eine Maxime aus seinem großen Film »Außer Atem«. Auf seine Art hat sich der Regisseur und Revoluzzer Godard bis zuletzt daran gehalten .
-
Rettet die Schuldenbremse – setzt sie aus! Außergewöhnliche Notlagen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Das sollte auch der Bundesfinanzminister einsehen .
-
Das Feuer, das Europa veränderte: Vor 100 Jahren ging die osmanische Hafenstadt Smyrna in Flammen auf, Zehntausende Menschen starben. Dem Brand folgten grausame ethnische Vertreibungen, die bis heute nachwirken .
Was heute weniger wichtig ist
-
Der Tod von Elizabeth II. verhilft Netflix zu höheren Abrufzahlen. Ursache ist offenbar die preisgekrönte Serie »The Crown«, die das Leben der Königin über die Jahrzehnte thematisiert. Wie das Branchenblatt »Variety« unter Berufung auf Zahlen des Analyse-Unternehmens Whip Media berichtete , stieg die Zahl der Abrufe in Großbritannien am vergangenen Wochenende deutlich. Von einer ähnlichen Entwicklung berichtete das Magazin in den USA und anderen Ländern. Seit 2016 inszeniert Netflix in seiner preisgekrönten Serie das Leben der britischen Royals. Die beiden ersten Staffeln handeln von den jungen Jahren der Queen zwischen Familienskandalen und politischen Krisen. In der anstehenden fünften Staffel geht es voraussichtlich ab November 2022 um die frühen 1990er-Jahre, in denen sich die Beziehung von Prinz Charles und Lady Diana weiter verschlechterte.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Einer der Journalisten, die diese Woche von zu Hause arbeiten, ist der Putlitzer-Preisträger Nick Confessore«
Cartoon des Tages: Zeit, Mütterchen!… Zeichen an der Wand
Illustration: Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
In der Nacht auf heute wurden in Los Angeles die Emmy Awards, also die Fernsehserien-Oscars, verliehen. Die Preise wurden in diesem Jahr brav demokratisch verteilt, es gab keine Überraschungssieger und auch nicht die eine Serie, die alle anderen überstrahlt hätte.
Für den besseren Überblick hat die SPIEGEL-Kulturredaktion hier eine Auswahl der Gewinner-Serien zusammengestellt , die von der Redaktion im Lauf des vergangenen Jahres besprochen wurden – und einige dazugestellt, die von den Emmy-Juroren sträflich übersehen wurden. »Better call Saul« zum Beispiel, für mich persönlich die beste Serie des Jahres, gewann keine Auszeichnung.
Als Spin-off von »Breaking Bad« ging »Better Call Saul« an den Start, später fanden viele Kritiker, die Weitererzählung sei eigentlich die bessere Serie. Trotzdem: »Ist auch mal gut jetzt«, befand mein Kollege Stefan Kuzmany zur Ausstrahlung der letzten Folge. Seinen Text, in dem er sich grundsätzlich auch als Fan zu erkennen gibt, lesen Sie hier .
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend. Herzlich
Ihre Anna Clauß
Hier können Sie die »Lage am Abend« per Mail bestellen.