1. Robert Habeck, der Notstrom-Minister
Nachdem Robert Habeck gestern Abend verkündet hat, zwei von drei Atomkraftwerken als Notreserve am Netz halten zu wollen, ging heute der Streit darüber los. Seit dem Debakel mit der Gasumlage gibt es ja verstärkte Zweifel, ob Habecks Pläne der Realität standhalten .
Der Union geht alles nicht weit genug. CDU-Chef Friedrich Merz warf dem Minister vor, die Energieversorgung weiter zu gefährden, er fordere Bundeskanzler Olaf Scholz auf, »diesen Irrsinn zu beenden«. Alexander Dobrindt, Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag, nannte die Grünen eine »Anti-Atomkraft-Sekte«.
Auch vom Koalitionspartner FDP kommt Kritik. Fraktionschef Christian Dürr erklärte, er sehe eine Bewegung in die richtige Richtung. Seine Partei sei aber dafür, alle drei noch verbliebenen deutschen Meiler zu erhalten und notfalls auch neue Brennstäbe zu kaufen. Habeck lehnt das bisher ab.
In Niedersachsen machen die Liberalen die Atomkraft zum Thema für die Landtagswahl am 9. Oktober. FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai sagte meinem Kollegen Severin Weiland: »Man bekommt leider zwangsläufig das Gefühl, dass die Ergebnisse des Stresstests politisch motiviert sind.«
Skeptisch über den Habeck-Plan äußerte sich der Geschäftsführer des TÜV-Verbandes in der »Bild«: Als Notreserve seien die Atomkraftwerke unbrauchbar, da das Anfahren aus dem Kaltbetrieb mehrere Tage benötige. Man brauche aber Kraftwerke, die bei schwankender Wind- und Solarstromerzeugung kurzfristig einspringen und das Netz stabil halten.
Mit seinem Vorschlag für einen Notbetrieb hat Habeck die Debatte jedenfalls nicht beendet, im Gegenteil. Die Landtagswahlen in Niedersachsen könnten zur Abstimmung über längere Laufzeiten werden. Laut Umfragen ist eine große Mehrheit der Deutschen dafür, den Betrieb der Meiler zu strecken. Gleichzeitig sitzt Habeck die in Gorleben gestählte grüne Parteibasis im Nacken, die beim Atomthema keine Gefangenen macht.
Falls sich die Energiekrise weiter zuspitzt, wird der grüne Minister wohl noch mehr unter Druck geraten. Er geht persönlich ins Risiko. Sollte es zu einem Stromausfall in Deutschland kommen, wäre der Notstrom-Minister Habeck politisch erledigt.
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Lesen Sie hier mehr: Was bringt Habecks Atomplan?
2. Wird Porsche das deutsche Ferrari?
Der VW-Konzern will tatsächlich den Sportwagenhersteller Porsche an die Börse bringen, trotz Energiekrise, Rezessionsgefahr und abstürzender Aktienkurse. Bei einem Unternehmenswert von 60 bis 85 Milliarden Euro wäre es der größte Börsengang in Europa seit mehr als 20 Jahren. Der neue VW-Chef Oliver Blume wird viel Überzeugungskraft brauchen, um in den nächsten Wochen die Investoren zu überzeugen. Und dann sind da ja auch noch mehr als 35.000 Porsche-Beschäftigte.
Geht der Plan auf? Meine Kollegen Tim Bartz und Simon Hage schreiben, die Chancen seien nicht schlecht . Porsche habe mit Umsatz- und Gewinnrekorden in den vergangenen Jahren mehrfach Krisenresistenz bewiesen. Sie zitieren einen Investmentbanker, der Porsche weniger für eine Auto- denn für eine Luxusmarke hält. Und Luxusgüter würden fast immer gekauft, nahezu unabhängig von der aktuellen Marktlage, das mache die Aktie zu einem Investment mit überschaubarem Risiko.
Tim und Simon verweisen auf den italienischen Autobauer Ferrari, der 2015 an die Börse ging und seinen Wert seither fast vervierfacht hat. Wer die beiden Hersteller wie beim Autoquartett gegeneinander stellt, erkennt: Porsche baut fast 30-mal so viele Fahrzeuge wie Ferrari, hat also Größenvorteile. Dafür ist Ferrari exklusiver, das dient dem Luxusimage. Außerdem ist Ferrari autonom, während bei Porsche auch künftig der VW-Konzern mitbestimmt. Ob das ein Vor- oder Nachteil ist, muss die Zukunft zeigen.
Die Kollegen sprachen mit Blume, der an seiner Doppelrolle als VW- und als Porsche-Chef festhalten möchte. Wie unabhängig wird Porsche sein? Nach SPIEGEL-Informationen soll der VW-Konzern keine Weisungsbefugnisse gegenüber seiner Sportwagentochter mehr haben. Durch den Börsengang würden sie zu »getrennten Unternehmen«. Unter anderem soll Porsche frei entscheiden, welche Bauteile aus dem Konzernbaukasten sie in Stuttgart benutzen und welche nicht.
Wirklich? Meine Kollegen sehen hier Konflikte voraus: »Als VW-Boss hat Blume ein Interesse daran, einzelne Teile in die Fahrzeuge möglichst vieler Marken einzusetzen, um Kosten zu sparen. Die Gleichteilestrategie hat bei VW eine lange Tradition. Als Porsche-Chef jedoch ist Blume aber eher an Differenzierung interessiert.«
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3. Wutrede gegen die Hoodie-Boomer
Schlechte Nachricht für alle, die zwischen Mitte der Fünfzigerjahre und, wie ich, Ende der Sechziger geboren wurden: Wir sind einfach nur noch peinlich . Sagt die Kolumnistin Anna Dreussi, 24. Sie schreibt über uns: »Mit ernster Miene tippt ihr Google-Restaurant-Bewertungen ein und zieht vier Sterne ab, weil die Bedienung vergessen hat, die Ketchup-Flasche zu bringen. Während die Mieten steigen und die Temperaturen und der Meeresspiegel, trauert ihr dem generischen Maskulinum hinterher. Bei all dem fühlt ihr euch unfassbar wichtig.«
Doch es gebe noch etwas Unangenehmeres als selbstgerechte Mittfünfziger, schreibt Dreussi. Und zwar Mittfünfziger, die sich bei der jungen Generation anbiederten. Die Hoodie-Boomer.
Dreussi schreibt: »Ich kenne euch. Eure Hoodies sollen eure Schultern kaschieren, die ihr zu schmal findet, als dass sie eurem veralteten Männlichkeitsbild entsprechen könnten. Fein säuberlich drapiert ihr eure Haare auf der Stirn, die wächst wie eure Selbstzweifel oder das Risiko, in eine späte Midlife-Crisis gewirbelt zu werden. Das Knarzen eurer Rücken versucht ihr mit Rap zu übertönen, dessen Texte ihr nicht versteht und dessen Kultur ohnehin nicht. Was ihr für cool haltet, wirkt verzweifelt. Was ihr uns als Rebellion verkauft, ist getarnte Nostalgie.«
Ich habe mich natürlich gefragt, inwieweit diese Beschreibung auf mich zutrifft. Meine Kinder würden wahrscheinlich sagen: Ja, könnte halbwegs hinkommen. Eine interessante Erfahrung. Früher haben sich unsere Eltern für uns geschämt, heute schämen sich unsere Kinder. So gesehen sind wir uns immerhin treu geblieben.
Das war’s dann allerdings mit der Taschengelderhöhung, liebe Kinder. Von wegen Anbiederei.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Hört bitte endlich auf, cool sein zu wollen
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Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine
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Russland nimmt mehr mit Energie ein, als es für den Krieg ausgibt: Noch immer erzielt Russland laut einer neuen Analyse Rekorderlöse mit fossilen Brennstoffen, welche die Kosten des Ukrainekriegs deutlich übersteigen. Ganz vorne dabei als Abnehmer ist Deutschland.
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Scholz lehnt offenbar Bitte der Ukraine um mehr schwere Waffen ab: Ein Rüstungskonzern wollte Leopard-2-Panzer an die Ukraine liefern. Bundeskanzler Scholz sagte den Export laut einem Medienbericht aber nicht zu – trotz einer Bitte des ukrainischen Ministerpräsidenten.
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Hacker tricksten russische Soldaten angeblich mit Frauenfotos aus: Russische Soldaten ließen sich laut einem Medienbericht von gefälschten Social-Media-Profilen attraktiver Frauen ködern. Die Standortdaten gelangten so an das ukrainische Militär, kurz darauf folgten Artillerieschläge.
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
Was heute sonst noch wichtig ist
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Liz Truss ist neue britische Premierministerin: Die frühere Außenministerin Liz Truss hat von Königin Elizabeth II. den Auftrag erhalten, eine neue Regierung zu bilden. Damit ist sie offiziell Premierministerin Großbritanniens.
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Streik bei der Lufthansa ist abgewendet: Ab Mittwoch sollten die meisten Flugzeuge am Boden bleiben – nun haben sich Lufthansa und Piloten doch noch geeinigt.
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Papierhersteller beklagen Gaspreis-Notstand: Hakle ist pleite – und bald könnte es anderen Papierherstellern ähnlich gehen. Vor allem die Produktion von Küchen- und Toilettenpapier verbraucht sehr viel Gas.
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NDR-Rechercheteam belastet eigene Landesfunkhausdirektorin: Erneut gibt es Berichte über Vetternwirtschaft im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Beim NDR in Hamburg soll eine Führungskraft Kunden der PR-Agentur ihrer Tochter begünstigt haben. Vorwürfe kommen auch aus dem Sender selbst.
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Warum viele junge Frauen Vorbehalte gegen MINT-Berufe haben: Klingt interessant, machen wir aber trotzdem nicht: So blicken viele junge Frauen auf Ausbildung oder Studium in Mathe, Informatik, Natur- und Technikwissenschaften. Eine neue Studie zeigt, woran das liegt.
Meine Lieblingsgeschichte heute: Business Bullshit und die Folgen
Vor einigen Tagen wurde in unserem Intranet ein neues Strategiepapier veröffentlicht. Ich hoffe, ich plaudere hier keine Betriebsgeheimnisse aus, wenn ich folgenden Satz zitiere: »Wir wollen Vorzüge eines Abos dynamisch kommunizieren, möglichst optimal über den ganzen Kundenlebenszyklus hinweg und auch mit Gamification-Ansätzen – zum Beispiel mit smarten UX-Rückmeldungen, die spielerisch das Engagement steigern, etwa zu App-Aktivitäten oder generell zur möglichst umfassenden Nutzung des Abos.«
Ja, liebe Leserinnen und Leser in der Blüte Ihres Kundenlebenszyklus, da staunen Sie! Leider weiß ich von einer ganzen Reihe Kolleginnen und Kollegen, die bis heute rätseln, was mit diesem Satz genau gemeint sein könnte.
In unserem Schwesterblatt »Harvard Business manager« habe ich nun gelesen, dass Forscher in den USA eine sogenannte Organizational Bullshit Perception Scale entwickelt haben. Sie misst, wie Vorgesetzte ihre Leute mitunter zur Verzweiflung treiben, wenn sie mit Fach- und Modebegriffen jonglieren; ich sage nur: »agiles Mindset«.
»Fachjargon ist in heutigen Unternehmen notwendig«, sagt der Unternehmensberater Alexander Elia im Interview mit meinem Kollegen Ingmar Höhmann . »Er reduziert Komplexität, präzisiert die Sprache. Das Problem entsteht, wenn wir nicht mehr verstehen, was unser Gegenüber meint. Das verkompliziert die Kommunikation.«
Wie man es besser mache, zeige etwa Tesla-Chef Elon Musk, so Elia: »Musk fiel auf, dass in seinem Unternehmen SpaceX so viele Akronyme im Umlauf waren, dass sich in Meetings viele Teilnehmer nicht mehr trauten, nachzufragen, wenn sie etwas nicht verstanden hatten. Musk schrieb dann eine Rundmail an die gesamte Belegschaft und forderte dazu auf, Akronyme zu vermeiden.«
Interessante Lektüre! Wie wir intern jetzt sagen: Danke für die Insights, ich habe guten Impact mitgenommen. Oder sagt man’s umgekehrt?
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Lesen Sie hier das ganze Interview: Wie leere Phrasen dem Betriebsklima schaden
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Wenn das Pflegeheim unbezahlbar wird: In der Altenpflege wird endlich nach Tarif entlohnt. Doch bezahlen müssen das vor allem die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen – und weitere Kostensteigerungen sind sicher. Was nun auf Betroffene zukommt .
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»Es reicht! Wir Juden beten immer nur. Wir müssen uns wehren!«: Bevor ein Terrorkommando elf Sportler und Trainer ermordete, begleitete unser Autor Israels Olympiateam. Er war 15, ein freiwilliger Helfer. Sein Vater organisierte eine Demo – und gab ihm eine Lektion fürs Leben mit .
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Das sind die besten Teams Europas: Wird Real Madrid die Titelverteidigung gelingen? Wer ist der Geheimtipp? Wie stark ist der FC Barcelona mit Robert Lewandowski – und die Bayern ohne ihren Ex-Star? Das große SPIEGEL-Ranking mit allen 32 Teilnehmern .
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»Schlicht zu kurz gegriffen«: Die Ampel will einen Nachfolger für das 9-Euro-Ticket einführen. Dafür ist sie allerdings auf die Zustimmung der Bundesländer angewiesen. Und die proben bereits den Aufstand .
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»Es gibt eine Menge Wein, dessen Selbstzweck es ist, teuer zu sein«: Wenig abenteuerlustig, aber total verunsichert – so stehen die meisten Menschen vor dem Weinregal, beobachtet Margaret Rand, Chefin des erfolgreichsten Weinführers der Welt. Wie sich das leicht ändern ließe .
Was heute weniger wichtig ist
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Streichkonzert: Stargeiger David Garrett, 41, hat sich kurz vor seinem Geburtstag an diesem Sonntag ein besonderes Geschenk gemacht: Er kaufte eine seltene Geige des italienischen Geigenbauers Guarneri del Gesù, wie der Musiker der »Bild« sagte: »Ich habe mir damit einen Lebenstraum erfüllt.« Das Instrument aus dem Jahr 1736 habe er bei einem Pariser Auktionshaus für 3,5 Millionen Euro ersteigert. »Für die Summe werde ich mich von einer meiner Immobilien trennen müssen und eine Wohnung in New York verkaufen. Aber diese Geige ist es mir wert!« Dass er den Zuschlag bekam, sei für ihn wie ein Sechser im Lotto gewesen, so Garrett: An der Versteigerung habe er von einem Frankfurter Hotel aus teilgenommen. Der Empfang sei so schlecht gewesen, dass er zum Telefonieren in den Innenhof gegangen sei: »Ich habe mich noch nie neben Mülltonnen und Essensresten so glamourös gefühlt.«
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Themen wie Bandenkrimininalität und Einwanderungspolitik sind besonders sensibel«
Cartoon des Tages: Entlastungspaket
Illustration: Klaus Stuttmann
Und heute Abend: Zocken bei Netflix
Bei Netflix können Abonnenten seit einiger Zeit auch auf Spiele zugreifen; knapp 30 hat der Streamingdienst im Angebot. Ich habe die Spiele nicht gewürdigt, bis ich den Text meines Kollegen Jörg Breithut las; er schreibt: »Mittlerweile kann sich Netflix’ Games-Paket sehen lassen. In der App-Bibliothek verbergen sich einige Topspiele, darunter ein erstklassiges Motorsportspiel, ein cleveres Robo-Strategiespiel und zwei emotionale Erzählabenteuer.«
Mitspielen dürfen, analog zum Videopaket, nur Abonnenten. Ob sich das lohnt, mag jeder selbst entscheiden; die Preise sind ja recht happig. Dafür kommen die Spiele bislang ohne nervige In-App-Käufe und Werbeclips daher.
Ich habe das Rennspiel »Asphalt Xtreme« ausprobiert. Man rast mit einem Monstertruck durch Matsch, Wüsten, Dschungel und verbrennt nach Herzenslust virtuelles Benzin. Das hat Spaß gemacht.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.
Herzlich
Ihr Alexander Neubacher
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