Es war ein Stresstest, auf den auch die FDP mit großer Spannung gewartet hatte. Würde Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) die drei verbliebenen deutschen Atomkraftwerke weiterlaufen lassen, um drohende Energieengpässe zu verhindern? Und wenn ja, für wie lange?
Am Montag, einen Tag nach dem Koalitionsausschuss der Ampel, war zumindest eines klar: Habeck will zwei AKWs – in Bayern und Baden-Württemberg – als Notreserve halten und bis zum Frühjahr für die Stromversorgung bereitstellen. Das AKW in Niedersachsen hingegen soll nicht mehr weiterbetrieben werden.
Habeck erschien am späten Montagnachmittag sogar in der FDP-Bundestagsfraktion, um seine Pläne zu erläutern. Immerhin gab es zumindest dort für den Grünen keine Komplettsabsage.
FDP-Fraktionschef Christian Dürr erklärte anschließend vor Journalisten: »Wir sehen erste Bewegung« – und die gehe »in die richtige Richtung«. Gleichwohl blieben »einige Fragen offen«, inbesondere die, wie die Kernkraftwerke nach Jahresende noch Strom einspeisen könnten. Dazu, so Dürr, bedürfe es womöglich der Änderung des Atomgesetzes im Bundestag, denn die »Einspeisung von Leistungsstrom aus Atomkraftwerken« sei vom 31. Dezember an untersagt.
Dürr zog einen plastischen Vergleich: Es könne nicht sein, dass an einem Februarnachmittag, wenn Strom aus einem AKW benötigt werde, der Bundestag erst dann eine gesetzliche Änderung beschließe. Solche schwierigen juristischen Fragen müssten daher in den kommenden Tagen in der Koalition geklärt werden, so der FDP-Fraktionschef. Dürr bekräftigte zugleich den Wunsch seiner Partei, über das Jahresende hinaus die Laufzeiten für alle drei AKWs zu verlängern und dafür auch notfalls neue Brennstäbe zu kaufen.
FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai, der die Grünen in der AKW-Frage seit Wochen immer wieder scharf kritisiert, konzentrierte seine Kritik auf einen anderen Aspekt: In Niedersachsen, wo am 9. Oktober gewählt wird, soll das einzig verbliebene Atomkraftwerk in Lingen nach Habecks Plan nicht in die Notreserve gehen. »Man bekommt leider zwangsläufig das Gefühl, dass die Ergebnisse des Stresstests politisch motiviert sind und dass der Landtagswahlkampf in Niedersachsen hier maßgebend war und nicht das Anliegen, bezahlbare Strompreise und Energiesicherheit in Deutschland zu gewährleisten«, sagte Djir-Sarai am Montagabend dem SPIEGEL.
Zuletzt war in der FDP von einer Betriebsdauer der drei AKWs bis zum Frühjahr 2024 die Rede gewesen. Ein sogenannter Streckbetrieb – der nur bis zum Frühjahr 2023 gehen würde – war von den Freien Demokraten als zu kurz kritisiert worden.
FDP-Fraktionschef Dürr erklärte nun am Montag, wenn er Habeck »richtig verstanden« habe, gehe es bei seinem Vorhaben nicht um einen Streckbetrieb, sondern »um ein Herunterfahren und Bereithalten« von AKWs.
FDP-Wahlkampfthema in Niedersachsen
Bei den Liberalen zeichnet sich nun eine Doppelstrategie ab. Im niedersächsischen Landtagswahlkampf dient der FDP das Thema längst zur Abgrenzung von Grünen und SPD. Am Montagvormittag stellte FDP-Spitzenkandidat Stefan Birkner am Rande der Gremiensitzungen in der Parteizentrale in Berlin ein Plakat mit seinem Konterfei vor: »Atomkraft: Wer FDP wählt, wählt sichere Stromversorgung«, lautet der Slogan. Auf Twitter fordert Birkner den Weiterbetrieb der drei verbliebenen Atomkraftwerke, also auch der Anlage in Lingen in Niedersachsen. Sie soll eigentlich Ende dieses Jahres abgeschaltet und dann zurückgebaut werden.
Birkner sagte dem SPIEGEL am Montagabend zum Ergebnis des Stresstests, Habeck habe sich über den Hinweis der Netzbetreiber auf die positiven Effekte der Kernkraftwerke für die Sicherheit der Stromversorgung »einfach hinweggesetzt«.
Es gehe bei der Forderung nach dem Weiterbetrieb aller noch in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke aber nicht nur um die Sicherheit der Stromversorgung, sondern vor allem darum, angesichts der explodierenden Preise alles zu tun, um für Entspannung zu sorgen.
»Wenn das nicht gelingt, drohen Pleitewellen, Insolvenzen und verschuldete Privathaushalte. Wir müssen deshalb die verfügbaren Stromerzeugungskapazitäten in Deutschland maximieren und nicht aus ideologischen Gründen abschalten«, sagte Birkner. Sollten Habeck und die Grünen diesen Weg weiter ablehnen, »gehen die hohen Preise ab sofort auch auf ihr Konto«. Davon abgesehen sei das Signal an die europäischen Nachbarn fatal: »Solidarität und Übernahme von Verantwortung? Fehlanzeige«, so der Wahlkämpfer.
Niedersächischer FDP-Kandidat Stefan Birkner ist für den Weiterbetrieb von drei AKWs: »Nicht aus ideologischen Gründen abschalten«
Foto: Moritz Frankenberg / dpa
Erst vergangene Woche hatte die FDP-Bundestagsfraktion sich auf einer Klausur in Bremen dafür ausgesprochen, eine zeitlich befristete »Laufzeitverlängerung« für die deutschen Kernkraftwerke »schnellstmöglich« zu beschließen. Die Abgeordneten verlangten auch den Ankauf neuer Brennelemente. Diese Positionen wurden am Montag vom FDP-Präsidium bekräftigt. Allerdings wurde in den FDP-Beschlüssen explizit kein Zeitraum für den Weiterbetrieb erwähnt.
Vor Habecks Entscheidung hatte Lindner am Montag in der »Süddeutschen Zeitung« seine grundsätzliche Position für einen befristeten Weiterbetrieb noch einmal bekräftigt: Es spreche »viel dafür, dass zur Netzstabilität die drei Atomkraftwerke weiterbetrieben werden sollten«. In diesen Zeiten sollten alle Möglichkeiten genutzt werden, den Strompreis für die Menschen und die Betriebe zu reduzieren. Das, so Lindner, sei aus seiner Sicht ein wirtschaftspolitischer Stresstest, der neben dem energiepolitischen Stresstest auch eine Rolle spielen müsse.
FDP-Parteivize Johannes Vogel sah es am Montagabend so: Habecks Notreserve sei ein Schritt, »aber erscheint auch als politischer Notausgang«. Die FDP, twitterte der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, bleibe »dran« und sei für den Weiterbetrieb der drei Kernkraftwerke.