Warten
Ich werde kein Wochenende haben. Jedenfalls kein ganzes, der heutige Samstag wird größtenteils weg sein, das liegt an meinem Job. Das ist kein Jammern und keine Beschwerde, ich habe einen fantastischen, privilegierten Job, zu dem es eben gehört, dass manche Dinge, für die ich irgendwie zuständig bin, am Wochenende passieren. Und an diesem Wochenende, genauer heute, passiert halt der Koalitionsausschuss.
Er soll am Vormittag zusammenkommen und das lang erwartete dritte Entlastungspaket beschließen, was dazu führen wird, dass meine Kinder wieder mit mir schimpfen werden, weil ich ständig das Handy in der Hand habe, um nichts zu verpassen, auf dem Laufenden zu sein, Nachrichten an meine Kolleginnen und Kollegen zu schreiben, an Pressesprecher, Politikerinnen oder Politiker. Allerdings kann ich das alles von zuhause oder von unterwegs aus tun, neben Einkauf, Wäsche und anderem Samstagszeug. Meinem Kollegen Christian Teevs wird das nicht vergönnt sein.
Lungern vor dem Kanzleramt
Foto: Wolfgang Kumm/ dpa
Christian hat heute die Aufgabe, den Koalitionsausschuss zu covern, so nennen wir das gern. Er wird recherchieren, was hinter den Kulissen passiert, er wird sich den Presseauftritt ansehen, falls es einen geben sollte, und er wird seine Informationen zusammen mit den Informationen anderer SPIEGEL-Kollegen zu einem Text verarbeiten, der heute hier auf der Seite erscheinen wird, hoffentlich irgendwann am späten Nachmittag oder frühen Abend. Vorher wird Christian etwas tun müssen, was man als Politikjournalist eigentlich ständig tut: Warten.
Ich glaube, Außenstehende unterschätzen leicht, dass Warten ein zentraler Bestandteil unseres Berufs ist. »Lungern« hat mein früherer Chef dazu immer gesagt. Wir lungern vor Sitzungssälen, in Konferenzräumen, auf zugigen Fluren von Parteizentralen oder, besonders fies, draußen bei miesem Wetter (auch das kein Gejammer, der Job ist – wie gesagt – fantastisch). Das liegt daran, dass die wirklich wichtigen, interessanten Dinge fast immer länger dauern, als vorher geplant und angekündigt war: Koalitionsverhandlungen (einmal habe ich eine Nacht im Willy-Brandt-Haus durchgemacht, das gehörte nicht zu meinen Lebenszielen), Sitzungen von Parteivorständen und Fraktionen, Gipfeltreffen. Und eben Koalitionsausschüsse.
Irgendwann im Lauf der Woche hieß es, gegen Samstagmittag könne es beim Entlastungspaket eine Einigung geben. Gestern hieß es dann, es werde wohl eher Nachmittag. Man weiß es nicht, und für Christian wird das mal wieder heißen: Geduld.
Ich freue mich auf seinen Text, den er mir hoffentlich irgendwann am Nachmittag schicken wird. Oder am frühen Abend. Oder, wenn es blöd läuft, am späten Abend, wenn ich eigentlich längst etwas anderes machen will (er natürlich auch). Bis dahin werde ich warten. Und versuchen, geduldig zu sein. Ich bin darin nicht besonders gut.
-
Vor dem Koalitionsausschuss – Was die SPD jetzt vom Kanzler erwartet
Verabschieden
In Eutin werden heute Mittag Soldatinnen und Soldaten verabschiedet, sie machen sich auf den Weg nach Litauen. Ich habe mir die Bundeswehr-Mission in Litauen schon mal angeschaut, Anfang 2017. Damals war Ursula von der Leyen noch Verteidigungsministerin, und eine russische Aggression schien undenkbar. Beides kann man sich heute nicht mehr so richtig vorstellen.
Damals wurde die Mission im Baltikum auch unter deutschen Verteidigungsexperten ein wenig belächelt. Russland, hieß es, würde doch ohnehin nie einen Angriff wagen, schon gar nicht auf das Nato-Gebiet, und damit die exzellenten Handelsbeziehungen zum Westen aufs Spiel setzen. Die Präsenz an der Nordostflanke des Bündnisgebiets galt als reine Symbolpolitik, zur Beruhigung der baltischen Staaten, die man in Berlin in Wahrheit für etwas übernervös hielt. Aber das müsse man verstehen, sie hätten eben ihre Geschichte mit Russland – solche onkel- und tantenhaften Sätze habe ich damals oft von Politikern und Politikerinnen gehört. Parteiübergreifend. Und ich selbst, das gehört zur Wahrheit, habe das auch nicht wirklich anders gesehen.
Alles vorbei. Es ist noch immer nicht wahrscheinlich, dass es einen Angriff auf das Baltikum geben wird, auf das Nato-Gebiet. Aber was heißt in diesen Zeiten schon wahrscheinlich. Ich habe jedenfalls schon lange keinen Spott mehr über die Mission in Litauen gehört.
-
Bundeswehrsoldat in Litauen – »Wir wissen, wofür wir unterschrieben haben«
Mehr Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:
-
»Mein Team bleibt hier«: Munitionsreste liegen auf dem Gelände des russisch besetzten Atomkraftwerks Saporischschja: Der Einsatz der Experten der Internationalen Atomenergiebehörde ist gefährlich. Trotzdem wollen sie länger bleiben.
-
Ist das der Befreiungsschlag?: Der Ukraine fehlen bei der Gegenoffensive im Süden des Landes Waffen, auch aus Deutschland. Warum den Soldaten ein langer, harter Kampf bevorsteht – und Putin bis zu 15.000 Mann verlieren könnte.
-
Deutschland muss Kiew jetzt helfen, Putin in Cherson zu schlagen: Die Gegenoffensive der Ukraine im Süden könnte den Krieg fundamental verändern. Damit sie Erfolg hat, sollte Olaf Scholz endlich schwere Waffen liefern. Der SPIEGEL-Leitartikel
-
Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
Loslassen
Im Dezember 2019 habe ich einen denkwürdigen Samstagabend erlebt. Ich war in einer Kreuzberger Kneipe namens »Vogt’s Bier-Express«, dort feierten Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, dass sie die Stichwahl um den SPD-Vorsitz gewonnen hatten – gegen Olaf Scholz und Klara Geywitz, den heutigen Bundeskanzler und die heutige Bundesbauministerin (woraus man lernen kann, dass aus Niederlagen auch Gutes entstehen kann).
Es waren ziemlich viele junge Leute da, Esken und Walter-Borjans hatten ihre Kampagne vor allem auf Jusos gestützt. Es war schon ziemlich spät, als eine Jungsozialistin mit einem Tablett Pfefferminzlikör vorbeikam und mir einen anbot. Ich glaube, ich habe ihn genommen, obwohl ich Pfefferminzlikör nicht mag. Die junge Frau hieß (und heißt immer noch) Lilly Blaudszun.
Wir kannten uns, ich hatte ein gutes halbes Jahr vorher über sie geschrieben, in dem Artikel ging es um die Frage, warum junge Leute heute noch in Parteien eintreten. Blaudszun war damals 17, aber schon eine Art Star in der SPD. Sie hatte kein offizielles Amt (na gut, stellvertretende Juso-Vorsitzende in Mecklenburg-Vorpommern), aber sie war bekannt, weil sie (im Gegensatz zu den allermeisten Genossinnen und Genossen) virtuos mit den sozialen Netzwerken umgehen konnte. Sie war eine politische Influencerin, hatte Zehntausende Follower, es gab viele Porträts über sie, Interviews. Dann tauchte sie ab, machte einen Schnitt. Verschwand von der Bildfläche.
Mag (oder mochte) Pfefferminzlikör: Lilly Blaudszun
Foto:
Stephie Braun / DER SPIEGEL
Jetzt ist sie wieder da, zumindest hat sie meinen Kollegen Kevin Hagen und Levin Kubeth ein Interview gegeben. »Politik und Social Media haben seit Schulzeiten mein Leben bestimmt. Das hat mir viel Spaß gemacht, aber das Tempo war dauerhaft zu hoch«, sagt Blaudszun darin – und: »Ich hatte plötzlich wieder viel Zeit für Freunde, meine Familie, alte Hobbys und mein Jurastudium.«
Ich finde, man kann aus diesem Interview viel darüber lernen, wie gefräßig die große Politikmaschine ist und wie schwer es ist, sich ihr zu entziehen, wenn man einmal angefangen hat. Viele schaffen das nicht, Lilly Blaudszun hat es geschafft. Sie hat, das ist der Unterschied zu echten Spitzenpolitikern, kein Amt aufgegeben, keine echte Macht, was noch viel schwieriger ist – aber immerhin Ruhm und Reichweite. Muss man auch erst mal schaffen.
Besonders gut gefallen hat mir übrigens ein Satz von ihr, aus dem die Kollegen ihre Überschrift gemacht haben: »In der SPD herrscht oft eine ziemliche Bratwurststimmung, die nicht gerade anziehend auf junge Menschen wirkt.«
Ich war schon in vielen SPD-Ortsvereinen und kann sagen: Da ist womöglich was dran.
-
Partei-Influencerin Lilly Blaudszun: »In der SPD herrscht oft eine ziemliche Bratwurststimmung«
Hier geht’s zum aktuellen Tagesquiz
Die Startfrage heute: Frank Plasberg gibt nach mehr als 20 Jahren die Moderation von »Hart aber fair« ab. Wer wird sein Nachfolger?
Gewinner des Tages…
…sind die süddeutschen Möpse und Bulldoggen. Sie dürfen heute, vor allem aber morgen, mal so richtig Gas geben. In Wernau (ich habe nachgeschaut, das liegt im Landkreis Esslingen) findet nämlich an diesem Wochenende das »Süddeutsche Mops- und Bulldoggenrennen« statt, und in der Terminvorschau meiner liebsten Nachrichtenagentur steht tatsächlich folgender Satz: »Am Samstag steht nur freies Training im Stadion auf dem Programm.«
Möpse. Bulldoggen. Freies Training. Dieses Land fasziniert mich immer wieder.
-
Haustierdiebstahl in den USA – Achtung, Bulldoggenentführung
Die jüngsten Meldungen aus der Nacht
-
Jane Fonda an Krebs erkrankt: Sie teilte es ihren Fans in einem langen Instagram-Post mit: Bei Jane Fonda ist ein sogenanntes Non-Hodgkin-Lymphom diagnostiziert worden. Die 84-Jährige äußerte sich zuversichtlich.
-
Kardinal Woelki bestreitet Kenntnisse über Missbrauchstäter: Drei katholische Priester haben den Kölner Erzbischof wegen des Verdachts einer falschen eidesstattlichen Versicherung angezeigt. Woelki äußerte sich nun erneut zu dem Missbrauchsfall um einen verstorbenen Sternsinger-Präsidenten.
-
Sri Lankas gescheiterter Präsident kehrt aus Exil zurück: Massenproteste zwangen Sri Lankas Staatschef vor wenigen Wochen zur Flucht ins Ausland. Jetzt ist Gotabaya Rajapaksa wieder nach Colombo geflogen. Der Inselstaat steckt in einer schweren Wirtschaftskrise.
-
Nachfolge für Neun-Euro-Ticket soll Anfang 2023 kommen: Erst blockierte die FDP eine Anschlusslösung für das beliebte Ticket, weil es eine »Gratismentalität« befeuere. Doch nun soll es schnell gehen – bis Ende des Jahres soll über das neue Ticket entschieden werden.
__proto_kicker__
Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute
-
Der Grenzverletzer: Ulrich Seidl soll bei Dreharbeiten in Rumänien Kinder ausgenutzt haben. Der Regisseur ist bekannt für seine Grenzgänge. Welche Verantwortung trägt die Filmförderung?
-
»So einfach, wie Musk sich das ausmalt, wird es nicht werden«: Der Tesla-Chef will bis 2050 eine Million Menschen auf den Mars schicken. Der Berliner Planetenforscher Ulrich Köhler verweist auf die lebensfeindlich Atmosphäre – und eine »Saukälte« von bis zu minus 133 Grad .
-
Heute fühlt sich für ihn alles an wie Krieg: 27 Auslandseinsätze – André Hassan Khan war einer der erfahrensten Spezialisten in der Drohnenausbildung. Nun reicht ein Supermarktbesuch, um eine Panikattacke auszulösen. Wie findet er zurück ins Leben?
-
Als die Ursaurier zu Vegetariern wurden: Sie stellten ihre Ernährung um, gruben weitverzweigte Höhlen, experimentierten mit zweibeinigem Gang: Forscher in Thüringen ergründen anhand von Fossilien, wie Landechsen den uns bekannten Dinos den Weg ebneten .
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Christoph Hickmann