Es ist ein ikonografisches Foto aus der Zeit der deutschen Wiedervereinigung: der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow im Kaukasus an einem rustikalen Holztisch mit Kanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher am 15. Juli 1990. Wenige Monate vor der deutschen Einheit, die dort vorbereitet wurde. Im Hintergrund, neben Gorbatschows Ehefrau Raissa, ist der damalige Finanzminister Theo Waigel zu sehen.
Waigel, heute CSU-Ehrenvorsitzender, hat den Kontakt zu Gorbatschow auch nach dem Ende der Sowjetunion 1991 gehalten – über viele Jahrzehnte hinweg. Noch vor zwei Jahren standen sie brieflich in Kontakt, berichtet der 83-Jährige. Damals, im Dezember 2020, habe er das letzte Schreiben von ihm erhalten.
Gorbatschows Tod nun bewegt Waigel. Er denke an einen wunderbaren Menschen, den er gern noch einmal umarmt und dankbar die Hand gedrückt hätte, schrieb er jetzt in der »Süddeutschen Zeitung«. Für Waigel ist klar: Das vereinigte Deutschland sollte dem früheren Staatschef der UdSSR eine würdige Gedenkveranstaltung ausrichten, auch unter Teilnahme des Staatsoberhaupts Frank-Walter Steinmeier. »Der Deutsche Bundestag sollte eine Trauerveranstaltung durchführen, und der Bundespräsident sollte die Gedenkrede halten«, sagte Waigel dem SPIEGEL.
Doch ob es dazu am Ende kommt? Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD), so hieß es am Donnerstagnachmittag aus der Presestelle des Bundestags, werde das herausragende Lebenswerk des früheren sowjetischen Präsidenten Gorbatschow vor Beginn der Generaldebatte im Bundestag am kommenden Mittwoch würdigen. Es werde auch eine Gedenkminute zu Ehren des Verstorbenen geben, das Reichstagsgebäude ganztägig halbmast beflaggt. »Einzelheiten befinden sich derzeit in der Abstimmung«, hieß es weiter aus der Pressestelle des Bundestags.
Theo Waigel, hier im September 2021 in Nürnberg
Foto: Frank hoermann / Sven Simon / IMAGO
Offen ist weiterhin, ob eine Reise deutscher Staatsrepräsentanten nach Moskau stattfindet. CSU-Politiker Waigel, gefragt, ob er vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine dies für denkbar, ja überhaupt wünschenswert halte? »Im Augenblick würde ich davon abraten, sich der Willkür Putins auszusetzen«, so Waigel zum SPIEGEL. Eine eigene Reise zur Beerdigung, als Privatperson oder als CSU-Ehrenvorsitzender, will er deshalb auch nicht unternehmen. »Nein, weil ich die politische Lage in Moskau auch für eine persönliche Reise für zu problematisch halte.«
Ob überhaupt und in welcher Form die Bundesrepublik an der Beerdigung teilnimmt, ist noch unklar. Viele Flugverbindungen sind gekappt, eine Einreise per Flugzeug müsste womöglich über die Türkei erfolgen. Denkbar könnte auch eine abgestufte Variante einer deutschen Teilnahme sein, die schon einmal im Frühjahr 2015 angewendet wurde: Alt-Bundespräsident Christian Wulf hatte damals in Riad den damaligen Amtsinhaber Joachim Gauck an der Trauerfeier für den saudischen König Abdullah vertreten.
Die Trauerfeier für Gorbatschow soll am Samstag im Säulensaal im »Haus der Gewerkschaften« unweit des Kremls stattfinden und offen für alle sein. Die war traditionell ein Ort der Trauerfeiern für die Staatschefs in der früheren Sowjetunion. So wurden hier unter anderem die Leichname von Sowjetgründer Lenin und seinem Nachfolger Stalin aufgebahrt, damit das Volk von ihnen Abschied nehmen konnte. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde erst 2015 mit dem russischen Ex-Premier Jewgenij Primakow wieder ein hochrangiger Politiker im Säulensaal aufgebahrt.
Nach der Trauerfeier im Gewerkschaftshaus soll Gorbatschow auf dem Neujungfrauenfriedhof für Prominente beerdigt werden, neben seiner Frau Raissa, die schon 1999 gestorben war.
Russlands Präsident Wladimir Putin am 1. September 2022 im Zentralklinikum von Moskau am Sarg von Michail Gorbatschow
Foto: Uncredited / dpa
Russlands Präsident Wladimir Putin wird an der Würdigung des ehemaligen sowjetischen Staats- und Parteichefs jedoch nicht teilnehmen. Das teilte der Kreml in Moskau mit. Offizieller Grund: Überschneidungen im Terminkalender Putins, so Kremlsprecher Dmitrij Peskow.
Laut Peskow habe Putin dem Verstorbenen bereits die letzte Ehre erwiesen. Demnach sei er am Donnerstagmorgen im Moskauer Zentralkrankenhaus gewesen, wo Gorbatschow am Dienstag verstarb. Russische Agenturen verbreiteten ein Bild, das Putin am offenen Sarg des Verstorbenem zeigt.
Linkenpolitiker und Grüne für Gedenken
Am Mittwoch hatten sich gegenüber dem SPIEGEL bereits die Linkenpolitiker Gregor Gysi und Dietmar Bartsch für Gedenkveranstaltungen in Deutschland ausgesprochen – ebenso Vize-Bundestagspräsidentin Katrin Göring-Eckardt von den Grünen.
»Es sollte ein besonderes Gedenken geben, weil Michail Gorbatschow einen wichtigen Beitrag zu Frieden, Abrüstung und der deutschen Einheit geleistet hat«, sagte Gysi dem SPIEGEL. Auf jeden Fall könne es eine Gedenkveranstaltung geben, »auf der man den Unterschied zwischen Putin und Gorbatschow deutlich macht, damit die scharfe Kritik an Putin nicht zu einer Ablehnung von Gesamtrussland führt«, so der Linkenpolitiker.
Bartsch erklärte: »Deutschland sollte in jedem Fall eine eigene Würdigung von Gorbatschow vornehmen. Ohne ihn hätte es die deutsche Wiedervereinigung so nicht gegeben.« Und weiter: »Denkbar wäre auch eine Feierstunde im Bundestag.«
Dahingehend äußerte sich auch Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: »Unser Land hat Michail Gorbatschow viel zu verdanken. Ich unterstütze es, dass sein Verdienst für Frieden und die Wiedervereinigung im Deutschen Bundestag gewürdigt wird.« In welchem Format an Gorbatschow im Bundestag gedacht werden könnte, sagte Göring-Eckardt nicht.