Man spricht Deutsch
Klausuren in der Politik folgen ihrer ganz eigenen Dramaturgie. Der letzte Tag ist der Tag der Verkündung, der Präsentation, und weil der zweite Tag der Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg auch schon der letzte ist, werden heute Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner vor die Presse treten, um zu verkünden, was es zu verkünden gibt. Weil alle drei etwas sagen wollen, könnte das eine längere Angelegenheit werden.
Meseberg im Mai: Habeck, Scholz, Lindner.
Foto: JOHN MACDOUGALL / AFP
Ich muss gestehen, dass ich bei solchen Pressekonferenzen schnell ungeduldig werde, weil ich irgendwann das Gefühl habe, dass eigentlich alles gesagt ist, nur eben noch nicht von allen. Das ist für meinen Job nicht optimal, weil ich dann manchmal etwas unaufmerksam werde und es auch schon mal verpasse, wenn im letzten Drittel noch irgendwas Wichtiges gesagt wird. Ich würde wahrscheinlich sogar Rücktritte überhören, wenn sie erst im Schlussteil einer Pressekonferenz ausgesprochen würden. Seit letzter Woche allerdings bin ich vor allem froh, in einem Land mit lediglich einer Amtssprache zu leben. Wenn Scholz, Habeck und Lindner heute vor die Presse treten, werden sie Deutsch sprechen. Und das ist schon mal von Vorteil.
Als ich letzte Woche in Kanada war (ja, ich weiß, ich habe das jetzt an dieser Stelle ein paarmal erwähnt und verspreche hiermit, es ab morgen nicht mehr zu tun!), sah ich mir dort mehrere Auftritte von Scholz und Justin Trudeau an, dem kanadischen Premier. Trudeau sagte auf all diesen Pressekonferenzen letztlich das Gleiche, nämlich dass Deutschland ein toller Partner sei und man zusammen eine großartige Zukunft bauen werde. Aber er sagte das jedesmal aufs Neue so charmant und beinah ergreifend, dass es nicht einmal mich störte. Das Problem war bloß, dass er jedesmal, wenn man dachte, jetzt wäre es vorbei, die englische Antwort nochmal auf Französisch hinterherschob, was dann irgendwie noch charmanter klang, aber nichts daran änderte, dass dadurch jede Pressekonferenz lange dauerte. Sehr lange. Womöglich ist Trudeau während einer dieser Pressekonferenzen sogar zurückgetreten, und ich habe es nicht gemerkt (ich habe gerade noch mal nachgeschaut, ist er nicht).
In Meseberg wird das nicht das Problem sein, allerdings ist Habeck dabei. Der braucht für sehr, sehr lange Antworten keine zweite Sprache. Kriegt er auch auf Deutsch hin.
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Ampelklausur in Meseberg: Die Neidgenossenschaft
Michail Gorbatschow ist tot
Michail Gorbatschow
Foto: Jörg Carstensen / dpa
Er galt als Totengräber der Sowjetunion – und wurde dafür geliebt wie gehasst: Der frühere sowjetische Staatspräsident und Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow ist im Alter von 91 Jahren gestorben.
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Nachruf – ein politischer Romantiker: Als er 1985 an die Macht kam, wollte er das erstarrte Sowjetsystem reformieren. Doch den Zerfall des Riesenreichs konnte Gorbatschow nicht aufhalten. Im Westen hochgeachtet, blieb er im neuen Russland isoliert.
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Reaktionen – »Ein einzigartiger Staatsmann, der den Lauf der Geschichte verändert hat«: Politikerinnen und Politiker weltweit trauern um Michail Gorbatschow und erinnern an das Vermächtnis des Friedensnobelpreisträgers. Die Reaktionen – von Wladimir Putin über EU und Uno bis nach Deutschland.
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Porträt – der Sterbehelfer der UdSSR: Gorbatschow wollte den maroden Unionsstaat modernisieren. Dann verlor er die Kontrolle. Lesen Sie ein Porträt aus SPIEGEL Geschichte aus dem Jahr 2016.
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Das letzte SPIEGEL-Interview – »Es war unmöglich, so weiterzuleben wie zuvor«: Im Jahr 2019 schilderte der frühere sowjetische Staatschef Gorbatschow, wie er die Wendezeit erlebte – und erklärte, warum Lenin dabei für ihn ein Vorbild war.
Quoten und andere Fragen
Ich habe mich gestern gefragt, wie es Friedrich Merz eigentlich so geht. Was er macht, was er denkt, wie er die Lage sieht (seltsamerweise habe ich mich auch kurz gefragt, wie es seinem Flugzeug wohl geht, aber wie soll es dem schon gehen?). Ich habe dann die Meldungen der Nachrichtenagenturen nach ihm durchsucht (nach Merz, nicht nach dem Flugzeug) und bin darauf gestoßen, dass er (Merz) im Morgenmagazin war (das ich leider nicht gesehen hatte). Dort sagte Merz, man solle Robert Habeck die Zuständigkeit für die Energiepolitik entziehen und diese Zuständigkeit stattdessen in einen »Energiesicherheitsrat« im Kanzleramt verlagern. Ich bin nicht sicher, ob das den Deutschen ihre Angst vor dem Winter nehmen würde, aber gut. Immerhin ein Vorschlag.
Vorbild für Merz? Gabriel bei seiner Dresdner Rede
Foto: Z1008 Ralf Hirschberger/ dpa
Und sonst? Ende nächster Woche trifft sich die CDU in Hannover zum Parteitag. Was ich davon bislang wahrgenommen habe, ist die Tatsache, dass es dort um eine Frauenquote für die Partei gehen wird, um die Frage, ob man sich nun eine gibt oder nicht. Das ist sicherlich eine wichtige Frage, erst recht wenn man bedenkt, dass sich weder für die Nachfolge von Annegret Kramp-Karrenbauer noch von Armin Laschet an der CDU-Spitze auch nur eine einzige Frau beworben hat. Es gibt da offenkundig ein Problem. Die Frage ist nur, ob es dieser Tage nicht noch andere, größere Probleme da draußen in der Welt gibt, zu denen man gern mal etwas von der CDU hören würde – und zwar etwas, das über die Feststellung hinausgeht, dass die Ampel mal wieder alles falsch macht. Ich denke: Ja, würde man schon gern.
Ich erinnere mich noch gut an den November 2009. Damals traf sich die SPD in Dresden zum Bundesparteitag. Die Sozialdemokratie lag am Boden, bei der Wahl war sie auf 23 Prozent abgestürzt. Sigmar Gabriel, der dann bis 2017 Parteichef bleiben sollte, hielt dort, in Dresden, wahrscheinlich die Rede seines Lebens. Es gelang ihm, diese in sich selbst erschütterte Partei wieder aufzurichten, ihr zumindest den Ansatz eines neuen Selbstbewusstseins zu vermitteln. Er forderte die SPD auf, wieder raus ins Leben zu gehen, wo es laut sei und brodele, wo es rieche, gelegentlich stinke. Ich musste an Kanalisation denken, aber es klang trotzdem gut. Den Saal hatte Gabriel damit jedenfalls, die Genossen tobten.
Vielleicht ist das Problem von Merz, dass er eine solche Rede gar nicht halten muss, weil es der CDU dafür nicht schlecht genug geht. In den Umfragen steht sie passabel da, und die Ampel fällt derzeit eher durch Gegifte als durch souveränes Regieren auf. Womöglich richten sich im Konrad-Adenauer-Haus die Ersten schon wieder darauf ein, in drei Jahren zurück ins Kanzleramt zu ziehen, das sie ohnehin für ihr natürliches Habitat halten. Aber so läuft das in der Demokratie eher nicht.
Im Herbst 2025 werden Olaf Scholz und Robert Habeck, wenn aus ihrer Sicht alles gut läuft, vier Jahre lang regiert haben. Sie werden, auch davon darf man ausgehen, nicht alles schlecht gemacht, sondern die Republik durch die eine oder andere Krise geführt haben. Weshalb die Deutschen sich dann die Frage stellen dürften, warum genau sie jetzt eigentlich einem fast 70-Jährigen ohne jede Regierungserfahrung das Land anvertrauen sollten.
Nach allem, was man hört, wird die Spitze der Unionsfraktion zum Ende der Woche ein Papier mit Antworten auf die Zeit und ihre Krisen präsentieren. Außerdem will Merz wohl nächste Woche im Bundestag eine wegweisende Rede halten. Ich bin ja mal gespannt.
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Wie CDU-Chef Merz an seinem Profil arbeitet: Herzlich, Dein Friedrich
Zwei Meinungen und ein blaues Auge
Ich gebe zu, ich bin in manchen Dingen etwas langsam. Ich bin nicht besonders schnell zu Fuß, esse erstaunlich schleppend, und ich brauche oft (für mich selbst) ermüdend lang, mir eine Meinung zu bilden.
Bei manchen Themen schwanke ich regelrecht hin und her, höre hier ein Argument, das mich überzeugt und dann ein Argument für die Gegenposition, das ich ebenfalls einleuchtend finde. Das führt irgendwann dazu, dass ich zwar eine Tendenz habe, einen Drang in eine Richtung, aber keine Meinung, die ich jederzeit gegen alles und jeden verteidigen würde. Das ist nicht bei jedem Thema so, aber bei manchen.
Ein Beispiel für diese zweite Sorte ist das Thema Cancel Culture, Sie werden schon davon gehört haben. Es geht dabei um die Annahme, man könne bestimmte Dinge nicht mehr sagen, weil sonst ein Sturm der Entrüstung über einen hinwegfegen könne, der Karrieren zerstöre und Personen zu Unpersonen mache. Mein Kollege René Pfister hat über diesen ganzen Komplex ein Buch geschrieben, es heißt: »Ein falsches Wort. Wie eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht«. Im SPIEGEL der vergangenen Woche ist daraus eine längere Passage erschienen, darin schreibt René, selbst vielen fortschrittlich eingestellten Menschen werde »langsam unheimlich, wenn sie sehen, wie schnell man in Ungnade fallen kann.«
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Angriff auf die Meinungsfreiheit: Ein falsches Wort
Das konnte ich so erst mal unterschreiben. Ich war und bin nicht komplett Renés Meinung, fand aber in seinem Text überzeugende Punkte und Argumente. Dann las ich einen Text meines Kollegen Jonas Schaible zum selben Thema. Er war unabhängig von Renés Text entstanden, bildete aber ziemlich genau die Gegenposition ab. Ein Kernsatz darin lautet: »Das, was ›Cancel Culture‹ angeblich ist, existiert nicht. Aber es gibt Gründe, warum es vielen so vorkommt.« Jonas argumentiert das dann, wie ich finde, ziemlich gut durch. Auch in seinem Text haben mich Argumente überzeugt, womöglich noch ein paar mehr.
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Kampf um die Meinungsfreiheit: Warum wir den Begriff »Cancel Culture« canceln sollten
Mache ich es mir damit jetzt einfach? Natürlich irgendwie schon, indem ich Ihnen einfach beide Texte ans Herz lege. Aber vielleicht geht es Ihnen ja wie mir, und Sie finden es auch bereichernd, erst mal zwei Seiten zu hören beziehungsweise zu lesen, ohne eine davon gleich von vorn bis hinten in Grund und Boden verdammen zu müssen. Vielleicht hilft es ja manchmal auch, nicht gleich zu allem eine Meinung zu haben.
Jonas läuft übrigens derzeit mit einem blauen Auge durch die Redaktion. Er sagt, René habe damit nichts zu tun. Es sei beim Basketball passiert.
Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine
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Das geschah in der Nacht: Russland setzt der Internationalen Atomenergiebehörde eine Frist. Selenskyj bittet die Krim-Bewohner um Hinweise über die Besatzer. Durch Nord Stream 1 kommt vorerst kein Gas mehr nach Deutschland. Der Überblick.
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»Wir sind in der Falle, wir sind am Arsch!«: An einzelnen Stellen um die Stadt Cherson herum durchbricht das ukrainische Militär wohl russische Verteidigungslinien. Ist das der Auftakt zu einer Gegenoffensive im Süden des Landes?
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»Diesmal schossen sie auch mit Haubitzen«: Wie gefährlich ist die Lage am umkämpften AKW Saporischschja? Internationale Experten sollen das prüfen. Der SPIEGEL konnte mit einem verzweifelten Kraftwerksmitarbeiter chatten.
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Plötzlich Besuch vom FSB: Der russische Staat überwacht offenbar Auslandsüberweisungen seiner Bürger. Wer an unliebsame Organisationen spendet, bekommt es mit dem Geheimdienst zu tun.
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Die Startfrage heute: Wie viel Wasser verbraucht man ungefähr bei fünf Minuten Duschen mit einem herkömmlichen Duschkopf?
Gewinner des Tages…
… sind die Autofahrer im Berliner Westen. Zwischen 7.30 und 16 Uhr ist heute die Autobahn 115 gesperrt, auch als Avus bekannt, weil nach einem Brand im Grunewald nun Munition gesprengt werden soll. Bevor Sie sich jetzt fragen, ob Sie sich in die Lokalnachrichten verirrt haben, erzähle ich Ihnen natürlich noch, warum ich das erzähle. Und warum die Autofahrer meiner Meinung nach heute trotzdem die Gewinner sind.
Heute mal leerer: die Avus
Foto: Michael Kappeler/ dpa
Ich weiß, wie sehr es nerven kann, wenn man die Kinder nicht in die Schule und sich selbst nicht ins Büro bringen kann, zum Beispiel weil sich irgendwelche Leute auf der Straße festgeklebt haben (was mir noch nicht passiert ist, da sich auf Berliner Radwegen eher selten jemand festklebt). Andererseits ist das Hindernis, also die gesperrte Avus, diesmal ja bekannt, die Sache ist planbar, deshalb hoffe ich für alle, die es können, dass sie an diesem Tag mal eine andere Möglichkeit entdecken, in die Stadt zu kommen. Vielleicht mit dem Rad, vielleicht mit der S-Bahn. Es gibt da durchaus Möglichkeiten.
Man kann übrigens sogar parallel zur Avus radfahren, kilometerlang, auf einem wunderbar glatten Weg, den ausschließlich Fußgänger, Radfahrer und Skater benutzen. Ruckzuck ist man in Potsdam, so schnell kann man gar nicht gucken.
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Explosion auf Sprengplatz: Feuerwehr bekämpft Großbrand im Grunewald, Autobahn gesperrt
Die jüngsten Meldungen aus der Nacht
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Stadtwerke rechnen mit bis zu 15 Prozent Zahlungsausfällen: Die Kosten für Strom und Gas steigen rapide – das wird wohl auch für die Stadtwerke zum Problem: Sie gehen von einer wachsenden Zahl von Kunden aus, die Rechnungen nicht mehr begleichen können.
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Punks müssen Protestcamp auf Sylt räumen: Noch bis Oktober wollten sie für mehr soziale Gerechtigkeit demonstrieren, doch nun muss eine Gruppe von Punks das Zentrum in Westerland räumen. Begründung: Die Protestierer hätten ihr eigentliches Ziel erreicht.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Christoph Hickmann