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Europa-Rede von Olaf Scholz in Prag: Diese Chance hat Scholz vertan – Kommentar


Foto: MARTIN DIVISEK / EPA

Nein,Olaf Scholz ist kein Cicero. Auch kein John F. Kennedy oder Martin Luther King. Die leidenschaftliche, aufrüttelnde, mitreißende Rede ist des Kanzlers Sache nicht. Schon der Ton seiner Europa-Grundsatzrede in der Aula der Prager Karls-Universität erinnert eher an ein Wort zum Sonntag . Aber Scholz, das zumindest hatte man vorher gehofft, würde dafür in der Sache etwas wagen – etwa mit einer schonungslosen Analyse des Ist-Zustands der EU. Mit Initiativen, die Europa für die kommenden Monate oder gar Jahre prägen. MIt seiner Vision.

Es kommt leider anders.

Wenn Scholz an diesem Montag in seiner Rede konkrete Vorschläge unterbreitet, geht es eher um taktische Fragen. Sicher, die Schaffung einer europäischen Luftverteidigung oder die Vollmitgliedschaft von Bulgarien, Rumänien und Kroatien im Schengen-Raum sind wichtig. Eine Vision für die Zukunft der EU bilden sie noch nicht.

Auch bei der Problemanalyse ist Scholz zurückhaltend, um es dezent auszudrücken. Als Emmanuel Macron der Nato den »Hirntod« attestierte, konnte man das überzogen finden. Aber Macron löste eine Debatte aus, die etwas bewirkte. Auch der EU könnte man zumindest in einigen Bereichen einen solchen Hirntod attestieren, in der Migrationspolitik oder in der leidigen Debatte um den Rechtsstaats-Abbau in Ungarn und Polen. Zwar ist es gut, dass Scholz sich nicht am Brüssel-Bashing beteiligt. Doch man wünscht es sich für Europas Zukunft, dass Scholz klarer auch diie Defizite benennt, verbunden mit Lösungsangeboten.

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Eine verpasste Chance

Ein Beispiel: Scholz fordert, Zahlungen von EU-Mitteln sollten von der Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien abhängen. Das lässt zunächst aufhorchen. Kritisiert Scholz das autoritäre Treiben von Ungarns Regierungschef Viktor Orbán? Fürchtet er wegen der Justizreform in Polen um das Rechtssystem in der EU? Wird Deutschland künftig EU-Budgets verhindern, wenn daraus Geld an Rechtsstaatssünder fließen soll?

Scholz lässt es offen. Er sagt, dass bereits der aktuelle, bis 2027 geltende EU-Finanzrahmen und der Corona-Wiederaufbaufonds »konsequent« an Rechtsstaatsprinzipien geknüpft sei. Ach ja?

Nur einen Tag vor seiner Rede haben vier Richterverbände beim Europäischen Gerichtshof gegen die Freigabe von EU-Coronamilliarden an Polen geklagt – wegen zu laxer Rechtsstaatsbedingungen. Auch die EU-Fördergelder an Ungarn fließen weiter, obwohl der Rechtsstaat dort auseinandergenommen wird. Dass Scholz die von Orbán verkündete »illiberale Demokratie« als »Widerspruch in sich« geißelte, kann Orbán kalt lassen, solange die Milliarden aus Brüssel kommen.


Ungarns Regierungschef Orbán

Ungarns Regierungschef Orbán


Foto: Bertrand Guay / AP

Ein weiteres Beispiel: Scholz spricht sich dafür aus, die sechs Westbalkan-Länder, die Ukraine, Moldau und »perspektivisch« auch Georgien in die EU aufzunehmen. Doch fast im selben Atemzug betont er, dass die EU sich dafür erst einmal selbst reformieren müsse.

Dass in einer EU mit 36 Mitgliedern wahlweise Chaos drohen würde, wenn jedes Land in der Außen-, Sicherheits- und Finanzpolitik ein Vetorecht hätte, ist klar. Klar ist aber auch, dass die Abschaffung des Einstimmigkeitszwangs ihrerseits einstimmig beschlossen werden müsste. Warum ein Orbán für die eigene Entmachtung stimmen sollte, erklärt Scholz nicht.

Dabei geht es hier um eine entscheidende Frage: Wäre es für Deutschland zwingend erforderlich, dass die EU sich vor einer erneuten Erweiterung erst einmal selbst reformiert? Um eine Antwort hat sich die Bundesregierung bisher herumgedrückt, und Scholz’ Prager Rede schafft heute keine Klarheit. Sein Ja zu Osterweiterung ist deshalb in Wahrheit allenfalls ein »Ja, aber«.

Zudem verpasst der Kanzler den Beitrittskandidaten noch einen Dämpfer, indem er verlangt, man solle das EU-Parlament im Falle einer Erweiterung »nicht aufblähen«, sondern bei seiner bisherigen Größe von 751 Sitzen belassen und ihm eine »neue Balance« geben – damit »jede Wählerstimme in etwa das gleiche Gewicht« hat.


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Das aber würde bedeuten, dass das Gewicht Deutschlands und anderer großer Länder stark steigt, auf Kosten jener kleineren Länder, zu denen auch die neun Beitrittskandidaten mit Ausnahme der Ukraine gehören. Denn derzeit kommen in Deutschland mehr als dreimal so viele Bürger auf einen Europaabgeordneten wie etwa in Slowenien. Scholz’ Vorschlag ist damit eine Steilvorlage für alle, die Berlin vorwerfen, kleinere EU-Staaten kleinhalten zu wollen. Sein Vorhaben, das Einstimmigkeitsprinzip in der Außen- und Finanzpolitik und damit das Vetorecht der Kleinen zu kippen, dürfte dadurch nicht leichter erreichbar werden.

Eine EU, die die politischen, wirtschaftlichen und auch militärischen Mittel hat, sich in der Welt zu behaupten, die in Sachen Klimaschutz globaler Vorreiter ist und die ihre Werte auch nach innen verteidigen kann, wäre ein Gewinn für alle. Es wäre heute Scholz’ Chance gewesen, auf der großen Bühne zu erklären, wie das von ihm regierte Deutschland, immerhin das größte und mächtigste EU-Land, dabei vorangehen will.

Diese Chance hat er vertan.


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