Die Maskenfrage
Eine neue Woche fängt an, für die meisten Menschen dürfte sie mit dem üblichen leichten Montagsblues beginnen. Sie kennen das. Der Bundeskanzler wird sich den nicht leisten können, für ihn beginnt die Woche mit der nächsten Reise. Sie fällt nicht ganz so lang aus wie die Reise davor. Diesmal ist er nur einen Tag unterwegs statt, wie in der vergangenen Woche, drei Tage. Aber das Ziel liegt diesmal auch näher als Kanada. Olaf Scholz fliegt nach Prag.
Da trug er noch Maske: Scholz Ende 2021 auf dem Weg zu seinem Antrittsbesuch in Paris
Foto: Michael Kappeler / picture alliance / dpa
Dort wird er an der Karls-Universität eine Rede halten, eine »europapolitische Standortbestimmung« vornehmen, so hat es sein Regierungssprecher ausgedrückt. Außerdem trifft Scholz den tschechischen Ministerpräsidenten Petr Fiala. Es gibt wichtige Themen, über die sie sprechen könnten: den Zusammenhalt der Europäer in Zeiten von Krieg und Gaskrise, die Sicherheit der Nato-Ostflanke. Wie lange der Krieg wohl noch dauern wird und die Ukraine stärker unterstützt werden kann. Die erste Frage allerdings, die sich viele in Berlin stellen dürften, ist ein bisschen banaler: Fliegt er nun mit oder ohne Maske?
Sie erinnern sich, in der vergangenen Woche gab es erst in Twitter-Deutschland und dann auch im real existierenden Rest der Republik etwas Aufregung, weil Scholz und sein Vizekanzler Robert Habeck ohne Maske nach Kanada geflogen waren. Der Rest der Passagiere im Regierungsjet trug ebenfalls keinen Mund-Nasen-Schutz. Ich auch nicht.
Jetzt ist es raus: Ich war dabei, saß als Journalist in der Maschine, ohne Maske, acht Stunden lang. Ich bin nicht stolz darauf, habe bei der ganzen Sache aber auch eine wichtige Lektion gelernt, die mit Masken nichts zu tun hat. Sondern mit meinem Blick auf Politik.
Es war nämlich so, dass ich über die fehlende Maske überhaupt nicht nachgedacht habe, bis die Empörung aus Deutschland mit leichter Verzögerung mein Bewusstsein erreichte. Bis dahin war der Gedanke, dass es hier ein Problem geben könnte, in meinem Kopf überhaupt nicht aufgetaucht. In den Tagen danach habe ich öfter darüber nachgedacht, warum das so war. Zumal ich bis dahin immer ein eher gewissenhafter Maskenträger war.
Mir sind ein paar Ansätze eingefallen. Ich kam vergleichsweise frisch aus meinem Urlaub in Frankreich, wo weder im Flugzeug noch im Zug oder im Supermarkt noch nennenswert Maske getragen wurde. Das mag dazu beigetragen haben, dass ich die Situation nicht als ungewöhnlich wahrnahm. Außerdem, und auch darauf bin ich nicht stolz: Herdentrieb, so simpel. Weil keiner eine Maske trug, setzte ich auch keine auf. (Ich bin ganz froh, das meine Kinder diese Kolumne nicht lesen, denen ich ständig erzähle, dass Dinge nicht deshalb richtig sind, weil andere sie tun.) Beides befriedigt mich selbst nicht so richtig, aber viel mehr habe ich nicht anzubieten. Daraus ergibt sich die Lektion, die ich gelernt habe.
Ich berichte seit über 15 Jahren über Politik und Politiker. In dieser Zeit habe ich in einer sicherlich dreistelligen Zahl von Redaktionskonferenzen und Kommentaren den Satz formuliert, dass dies oder jenes der Politikerin X oder dem Pressesprecher Y nicht hätte passieren dürfen – schließlich handele es sich um Kommunikationsprofis. Denen müsse doch bewusst sein, welches Signal von diesem Satz oder jener Handlung ausgehe. Ich war da oft ziemlich unerbittlich.
Was soll ich sagen? Es gibt viele Dinge, die ich nicht besonders gut kann, zum Beispiel Kopfrechnen oder Tiere zeichnen. Aber ich fürchte, Kommunikation kann ich, zumindest beruflich. Ich bin da Profi. Aber auch ich habe in der Situation, in der abgeschlossenen Blase der Regierungsmaschine, nicht gesehen, dass die Bilder aus dem Flugzeug ein Problem sein könnten.
Ich werde künftig wohl etwas weniger unerbittlich sein. Dafür ein bisschen demütiger. Vielleicht hat die Sache dann doch noch ihr Gutes.
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Eine Chance für die Chancenlosen
Janine Wissler, die Bundesvorsitzende der Linkspartei, habe ich 2008 kennengelernt. Damals war sie gerade in den hessischen Landtag eingezogen, mit 26 Jahren. Und sie löste, zumindest bei der Sorte journalistischer Kollegen, die mit Einstecktuch durch Wiesbaden spazierten, eine Art wohligen Grusel aus. Die Frau sei Trotzkistin, flüsterte solche Kollegen – da müsse man vorsichtig sein. Ich war nicht ganz so vorsichtig und habe mich mit Wissler getroffen. Gegruselt habe ich mich nicht, ich erlebte sie als misstrauisch, fand sie aber auch klug. Es war damals schon ziemlich klar, dass Wiesbaden für sie nicht die Endstation sein würde.
Gar nicht so gruselig: Linken-Chefin Wissler
Foto: CLEMENS BILAN / POOL / EPA
Deshalb war ich viele Jahre später verwundert, wie schwer sich Wissler nach ihrem Wechsel auf die Bundesebene tat, als Linken-Bundesvorsitzende. Ich hatte ihr da mehr zugetraut, auch wenn die Umstände sicherlich nicht die günstigsten waren. Heute allerdings hat Wissler einen Termin, der mich hat aufhorchen lassen. Sie stellt eine Kampagne mit folgendem Titel vor: »Menschen entlasten. Preise deckeln. Übergewinne besteuern«.
Ich glaube, es ist genau das, was eine linke Oppositionspartei gerade tun muss. Die soziale Frage steht wegen der Inflation und der steigenden Gaspreise riesengroß im Raum. Die SPD kann sie aus Rücksicht auf den Koalitionspartner FDP nicht so entschieden beantworten, wie sie womöglich gern würde. Ich fand es irritierend, wie wenig von der Linken dazu bislang zu hören war.
Ich gestehe, ich hoffe darauf, dass Wissler heute etwas Interessantes, Spannendes vorstellt. Irgendetwas, das über Polemik und Pöbelei hinausgeht. Etwas, das man halbwegs ernst nehmen kann. Das hat nichts damit zu tun, dass ich ein Fan der Linken wäre – aber Demokratie lebt, auch wenn das immer etwas nach Gemeinschaftskunde für Siebtklässler klingt, vom Streit der Ideen. Kein Plan, keine Idee, darf ohne Widerspruch bleiben, nichts ist alternativlos.
Andere Teile der Linken haben zuletzt Dinge von sich gegeben, die ich eher besorgniserregend fand. Wisslers Ko-Vorsitzender Martin Schirdewan kündigt ständig einen »heißen Herbst« der Proteste an, der Abgeordnete Sören Pellmann ruft zu Montagsdemonstrationen auf – wegen der Gasumlage. Es ist schon ziemlich daneben, wenn ein Politiker der Linkspartei, hervorgegangen aus der PDS, den Begriff Montagsdemos in den Mund nimmt, aber es geht hier nicht nur um Stillosigkeiten. Auf der extremen Rechten gibt es ebenfalls Pläne, im Herbst die Wut der Menschen anzufachen, sie gegen das sogenannte System in Stellung zu bringen. Wenn die extreme Rechte und die extreme Linke sich verbünden, kann es gefährlich werden, das weiß man in Deutschland ziemlich genau.
Dann lieber über eine Übergewinnsteuer diskutieren, gern auch einen Gaspreisdeckel. Opposition darf auch populistisch sein, sie sollte nur nicht demagogisch werden. Vielleicht überrascht Janine Wissler mich ja mal positiv?
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Ganz die Alte
Als Ursula von der Leyen noch Verteidigungsministerin war, begleitete ich sie häufiger, wenn sie Bundeswehrstandorte in Deutschland oder deutsche Soldaten im Ausland besuchte. Hin und wieder ging es dabei auch mal um die Soldatinnen und Soldaten, die meiste Zeit ging es um von der Leyen. Oft wirkte es, als bestehe der eigentliche Zweck des Besuchs darin, dass die Ministerin vor dem richtigen Hintergrund etwas in die Kameras sagen konnte. Die Sätze saßen dann meist perfekt.
Perfekte Sätze: Ursula von der Leyen
Foto: John Thys / AFP
Nicht immer ganz so perfekt war von der Leyens Sacharbeit. Ihre Ankündigung etwa, das ineffiziente Rüstungswesen vom Kopf auf die Füße zu stellen, hat sie nie so richtig umgesetzt, am Ende hinterließ sie eine Baustelle. So lief es immer wieder: Die erste Ankündigung fiel noch sehr laut aus, dann wurde es immer leiser. Bevor das groß auffallen konnte, folgte die nächste Ankündigung.
Ich habe deshalb sehr interessiert den Artikel meines Kollegen Ralf Neukirch über von der Leyens Wirken als EU-Kommissionspräsidentin gelesen. Auch hier hatte sie ihren Moment, als Pathos und große Worte gefragt waren, da funktionierte von der Leyen, da war sie gut. Sie sorgte dafür, dass Europa nach Russlands Überfall auf die Ukraine geeint auftrat – aber mittlerweile, so beschreibt es mein Kollege, fällt sie in Muster und Fehler zurück, die man aus Berlin von ihr kennt: Von der Leyen prescht ohne Absprachen vor, schottet sich mit ihrem engsten Kreis von Vertrauten ab, verzettelt sich, liefert nicht das, was sie versprochen hat. Vieles, was ich da las, kam mir ziemlich bekannt vor.
Man sagt ja, Menschen ändern sich von einem bestimmten Alter an nicht mehr. Ursula von der Leyen wird demnächst 64.
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Grundschülerinnen in Deutschland
Foto: AP/Frank Augstein
… sind die Erstklässlerinnen und Erstklässler in Berlin. Sie haben heute, eine Woche nachdem hier für alle anderen die Schule wieder begonnen hat, ihren ersten Schultag. Das ist, wenn man in Berlin zur Schule geht, nicht per se ein Grund zur Freude. Aber immerhin werden die Neuen in den nächsten Wochen sowohl ihre Lehrerinnen und Lehrer als auch ihre Mitschülerinnen und Mitschüler täglich persönlich treffen, werden Freunde finden, sich darum streiten, wer neben wem sitzen darf. Und diesen ganz speziellen Schulgeruch aufnehmen, der sich, davon habe ich mich am Wochenende wieder mal überzeugt, in den letzten Jahrzehnten seltsamerweise nicht verändert hat.
Das ist gut, weil es in der Pandemie Erstklässler gegeben hat, die all das zumindest zeitweise nicht erleben konnten, sondern, weil die Schulen geschlossen waren, vor dem Bildschirm saßen. Wenn es gut lief, die Schule also Digitalunterricht anbot. Wenn es schlecht lief, füllten sie zu Hause Arbeitsblätter aus.
Meine jüngste Tochter ist am Samstag eingeschult worden. Sie hat sich gefreut, es war eine schöne Feier, und in der Mensa der Schule konnte man zwischendurch ein Stück Kuchen essen. Dort stand ein Gerät herum, das ich noch nie gesehen hatte, weiß und etwas unförmig. Es war ein Luftfilter.
Kurz war ich irritiert, weil mich das Gerät daran erinnerte, dass die Pandemie ja immer noch nicht vorbei ist, dass niemand weiß, wie der Herbst und der Winter werden. Dann freute ich mich, weil ich den Fortschritt sah. Vor zwei Jahren gab es so etwas in der Schule noch nicht, zumindest nicht in unserer. Manchmal sind es die kleinen Dinge.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Christoph Hickmann