1. Absage an die Umlage?
Es war von Anfang an ein seltsames Instrument, die Gasversorgung in Deutschland kurz- und mittelfristig sicherzustellen: Alle, die mit Gas heizen, sollen zu ihren ohnehin schon hohen Energiekosten einfach noch mehr dazubezahlen. Die Zusatzeinnahmen für die Gashändler sollen sie in die Lage versetzen, den Rohstoff zu höheren Preisen anderswo einkaufen zu können als im kriegslüsternen Russland. Bis zum Beginn des Angriffs auf die Ukraine war das Land Hauptlieferant der Deutschen.
Schon am Tag, als Robert Habeck die sogenannte Gasumlage verkündete, hagelte es Kritik. Und die wird immer lauter und breiter. Wann hat man schon mal erlebt, dass Saskia Esken, Christian Lindner, Anton Hofreiter und der BDI-Chef einer Meinung waren? Zwar wird ein Großteil des Geldes dem Glücksritterunternehmen Uniper zufließen, das tatsächlich ohne die Finanzspritze den Gashahn wohl bald zudrehen müsste. Rund 50 Prozent der Summe soll Deutschlands größter Gashändler mit Sitz in Düsseldorf bekommen. Rund 25 Prozent entfallen auf die ehemalige Gazprom-Tochter in Deutschland, die jetzt Securing Energy for Europe (Sefe) heißt und von der Bundesnetzagentur treuhänderisch verwaltet wird. Gazprom hat keinen so ganz klangvollen Namen mehr. Weiteres Geld geht an deren Partner Wingas und VNG.
Doch auch Händler und Versorger, die es eigentlich nicht nötig hätten, haben juristisch Anspruch auf die Kohle fürs Gas. Habeck hoffte auf den freiwilligen Verzicht jener, deren Geschäfte florieren. Doch das war vielleicht ein bisschen naiv. Robert Lewandowski hat beim FC Barcelona ja auch nicht gesagt, dass ihm die Hälfte des Gehalts genügt, er habe schon genug. Wer kann, nimmt mit, was geht.
Jetzt hat der Wirtschaftsminister eingesehen, dass der Bevölkerung kaum zu vermitteln wäre, warum es möglich ist, Unternehmen unnötigerweise zu pampern, aber nicht möglich, Unternehmen, die vom Krieg profitieren, per Übergewinnsteuer an den Kosten der Krise zu beteiligen. Das sei »natürlich ein politisches Problem«, sagte Habeck bei einem Besuch einer Metall verarbeitenden Firma in Gelsenkirchen. Sein Ministerium will jetzt prüfen, wie man die Gasumlage noch modifizieren kann. Nicht von der Existenz bedrohten Firmen soll der Zugang verwehrt werden. Das dürfte schwierig werden. Denn das Energiesicherungsgesetz sieht nicht vor, dass der Antrag auf die Gasumlage an eine Insolvenzgefahr geknüpft ist. Es gibt bislang drei Bedingungen dafür, an das Geld zu kommen:
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Das Unternehmen muss Erdgas nach Deutschland importieren,
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muss von den Lieferausfällen aus Russland betroffen sein und
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die Verträge vor dem 1. Mai abgeschlossen haben.
Damit kommen auch Konzerne wie der österreichische Versorger OMV an die deutsche Gasumlage, obwohl die Firma ihr operatives Ergebnis im ersten Halbjahr mehr als verdoppelte.
Sollte Habeck doch einen Kniff finden, wird man sehen, wie lange der Bestand hat. Ich tippe auf zwei Tage, dann werden die ersten Klagen formuliert – von Anwälten, die 1500 Euro die Stunde kassieren.
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2. Kommt der Flattrain?
Spricht man von der Gasumlage, ist man ganz schnell beim Thema Entlastungen für die Leute. Vielen wird jetzt noch gar nicht recht bewusst sein, welche Summen sie ab Herbst und Winter zu stemmen haben werden. Denn nicht nur Gas ist teurer geworden, auch die Preise für Strom schießen in die Höhe. Und kommende Woche läuft auch der Tankrabatt aus. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass die Mineralölkonzerne die Spritpreise deutlich über zwei Euro veranschlagen werden. Gleichzeitig sind auch die drei Monate vorbei, in denen man bundesweit den öffentlichen Nahverkehr für pauschal neun Euro pro Monat nutzen konnte.
Es ist ein Wettlauf mit der Zeit: Bekommt es die Regierung hin, ein drittes Entlastungspaket zu verabschieden, geschweige denn, es wirken zu lassen, bevor die Hammerrechnungen in den Briefkästen liegen? SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert rechnet schon »in den nächsten Tagen« damit, dass neue finanzielle Erleichterungen beschlossen würden.
Teil des Pakets könnte tatsächlich eine Fortführung eines pauschalen ÖPNV-Tickets sein – wenn auch zu deutlich höheren Preisen. Nicht mehr neun Euro sind dann im Gespräch, sondern 69 Euro. Bislang sträubte sich die FDP dagegen. Aus solchen Forderungen spreche eine »Gratismentalität à la bedingungsloses Grundeinkommen«, kommentierte Parteichef Christian Lindner. Doch Parteifreund und Verkehrsminister Volker Wissing zeigte sich offen, jetzt schwenkte auch der Beauftragte der Bundesregierung für den Schienenverkehr, der FDP-Politiker Michael Theurer, auf Wissings Linie ein.
Doch wie denken eigentlich die Verkehrsbetriebe darüber? Immerhin haben mehr als 30 Millionen Bundesbürger mit dem 9-Euro-Ticket deren Angebote genutzt. Mein Kollege Alfred Weinzierl hat sich in ganz Deutschland umgehört und die »genaue Evaluation«, die Wissing forderte, exklusiv einsehen können. Demnach kauften 27 Prozent der Nutzerinnen und Nutzer das 9-Euro-Ticket, weil es frisch angeboten wurde. Die tägliche Nutzung des Autos ging von 43 auf 39 Prozent zurück – und bei den öffentlichen Verkehrsmitteln entsprechend nach oben. Mit einem 69-Euro-Ticket für alle Busse, Bahnen und Regionalzüge, dazu bundesweit nutzbar, kämen fast alle Pendler und Dauerkunden günstiger weg als bisher. Es wäre kein Billigabo, wie Linder orakelt, aber ein attraktives Angebot. »Hinter den Flatrate-Gedanken dürfen wir nicht mehr zurückfallen«, sagt einer von Alfreds Gesprächspartnern, der Vorstandschef des Hamburger Verkehrsverbundes, Henrik Falk.
Vielleicht dringt die Erkenntnis ja auch zum Wirtschaftsfachmann Lindner durch, dass Abos und Flatrates bei Unternehmen wie Netflix (8,5 Prozent Umsatzplus im zweiten Quartal 2022 zum Vorjahreszeitraum) oder Spotify (23 Prozent Umsatzplus im dritten Quartal 2022 zum Vorjahreszeitraum) nicht zu deren Niedergang beigetragen haben. Übrigens kann man auch mit einer Flatrate von nur 19,99 Euro monatlich (11,99 Euro für alle unter 30) pauschal alle Angebote des SPIEGEL nutzen. Macht alle schlauer, auch Finanzminister.
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Lesen Sie hier mehr: 9-Euro-Experiment in der Datenanalyse – Wie der Superbilligtarif den Verkehr verändert hat
3. Karl Klabauterbach
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach dringt auf einen breiter angelegten Start für elektronische Rezepte und will dafür auch noch einfachere Wege eröffnen. »Wir müssen das jetzt schnell ausrollen«, so der SPD-Politiker heute. Also, er müsste das jetzt schnell ausrollen. Am Donnerstag sprach er sich für das Coronamedikament Paxlovid neben der Impfung als zweite Säule in der Pandemiebekämpfung aus (hier mehr dazu ). Also, er müsste… Am Mittwoch rechnete der SPD-Mann mit einer baldigen Rückkehr zu regional begrenzten Maskenpflichten im öffentlichen Leben. »Ich persönlich gehe davon aus, dass wir im Oktober Schwierigkeiten bekommen werden.« Am Montag forderte er in Hannover: Pflegekräfte sollten in Heimen impfen dürfen.
Sie erkennen ein Muster, oder? Jeden Tag ein neues Thema, jeden Tag irgendeine Forderung, meist geht es immer irgendwie um Corona. Doch Lauterbach ist nicht Coronaminister, auch wenn ihm der Sachverstand bei der Pandemiebekämpfung erst ins Amt gespült hat.
Viele hielten ihn zuvor für ungeeignet, solch einer Verantwortung gerecht zu werden: nicht teamfähig, zu konfus, zu medienfixiert. Doch nun ist er Gesundheitsminister, und in dieser Funktion hat er weit mehr zu tun, als Corona zu kommentieren. Er tut aber zu wenig. Zu diesem Urteil kommt auch meine Kollegin Milena Hassenkamp in ihrem Leitartikel . Es sei nicht so, dass Lauterbach seine Ambitionen verloren hätte, schreibt Milena. Aber: »Er muss begreifen, dass er als Minister nicht daran gemessen wird, ob er erklärt, wie es richtig ginge. Sondern daran, dass er es macht.«
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Lesen Sie hier mehr: Karl Lauterbach und die Pandemie – Ach, wäre der Besserwisser doch ein Bessermacher
Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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»Kertsch-Brücke, wir haben dich im Blick…« Immer wieder explodieren russische Munitionsdepots auf der Krim: Die ukrainische Armee ist offensichtlich in der Lage, eine der empfindlichsten Stellen des Gegners zu treffen. Und sie nimmt das nächste Ziel ins Visier .
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Wie Putins Agenten Deutschland unterwandern: In einer breit angelegten Offensive greifen Russlands Geheimdienste den Westen an. Sie infiltrieren Computernetze, sie spionieren, agitieren und sabotieren – und morden sogar. Warum ist die Bundesregierung so spät aufgewacht ?
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Russland betreibt mindestens 21 »Filtrationslager« Fehlende Nahrung, Isolation, Foltervorwürfe: Russland betreibt laut einer US-Forschergruppe ein großes Lagersystem für ukrainische Kämpfer und Zivilisten. Ehemalige Insassen berichten von menschenunwürdigen Zuständen.
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Heil will Zuverdienstgrenzen für Frührentner kippen: Wer früher in Rente geht, aber weiter etwas arbeiten will, muss sich bislang an strenge Zuverdienstgrenzen halten. SPD-Arbeitsminister Heil will diese nun ersatzlos streichen. Auch die Liberalen sind dafür.
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Nebenkosten könnten sich in diesem Jahr verdoppeln: Von im Schnitt mehr als 3000 auf knapp 7000 Euro: Mieter müssen einer Hochrechnung zufolge mit deutlich steigenden Nebenkosten rechnen. Am meisten mehr kostet demnach das Heizen – aber auch andere Posten werden teurer.
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Huawei-Chef warnt vor Zusammenbruch seines Konzerns: Ein internes Memo des Chefs des chinesischen Technologiekonzerns Huawei verbreitet sich wie ein Lauffeuer: Ren Zhengfei befürchtet ein »schmerzhaftes Jahrzehnt«. Ungewohnt ist laut Experten, wie drastisch er warnt.
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Macron sieht »ernsthafte Probleme« für britisch-französische Beziehung: Ist Frankreichs Präsident Freund oder Feind Großbritanniens? Liz Truss, möglicherweise nächste britische Premierministerin, wollte sich nicht festlegen. Das stößt nicht nur Emmanuel Macron übel auf.
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Wetterdienst warnt vor Gewittern in Teilen Deutschlands: Blitz, Donner, Starkregen, möglicherweise Hagel: Eine Tiefdruckrinne und schwülwarme Luftmassen sorgen am Wochenende in weiten Teilen des Landes für einen herbstlichen Spätsommer.
Meine Lieblingsgeschichte heute…
The Collins-Boys, 2009: Vorn Matthew (Heute Fußballer), in der Mitte Nicolas (heute Schlagzeuger), hinten Phil (heute Legende)
Foto: A3576 Maurizio Gambarini/ dpa
…war bereits gestern schon auf SPIEGEL.de zu lesen. Sie entstand wie so viele wunderbare Texte in unserer Redaktion: Die Chefinnen und Chefs vom Dienst sowie die Blattmacherinnen und Blattmacher steuern nicht nur die Homepage und das journalistische Angebot des SPIEGEL, sie wachen auch über das weltweite Nachrichtengeschehen, haben wirklich alles im Blick, geben Impulse in die Ressorts. So auch dieser Tage, als CvD Anselm Waldermann (»Mr Check«) folgende Mail verschickte: »Hallo lieber Sport, vielleicht ist es an mir vorbeigegangen: Aber haben wir den Sohn von Phil Collins schon porträtiert, der jetzt in Kürze für Hannover 96 spielt?« Hatten wir noch nicht.
Aber Kollege Peter Ahrens hat – nun ja – den Ball sofort aufgenommen und sich den Collins-Junior mal näher angeschaut. Entstanden ist nicht nur ein Porträt des Sohnes, sondern ganz en passant auch eine Tour d’Horizon durch das musikalische Gesamtwerk des Vaters. Wenn Matthew Collins nun also ebenso kunstvoll kickt, wie Peter seine Texte verfasst und wie Vater Phil trommelt (dessen anderer Sohn Nicolas übrigens auch), dann steht einer großen Karriere nichts mehr im Weg.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Sohn von Popstar Phil Collins spielt jetzt für Hannover 96 – You Can’t Hurry Love
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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»Ein Temperaturschub, der in den vergangenen 2000 Jahren einzigartig war« Mitte des 20. Jahrhunderts heizte billiges Öl den Klimawandel massiv an. Die Folgen spüren wir heute, meint Klimahistoriker Christian Pfister – und sagt, was wir aus historischen Dürren lernen können .
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Plötzlich hat Joe Biden einen Lauf: Der US-Präsident schien bislang vom Pech verfolgt. Doch bei den anstehenden Midtermwahlen zum Kongress könnte seine Partei besser abschneiden als gedacht – auch weil Donald Trump Ängste schürt .
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Heul leise, Party-Sanna!: Die finnische Ministerpräsidentin muss sich für nichts rechtfertigen. Warum tut sie es trotzdem?
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Was hinter dem Einstieg von Audi und Porsche steckt: Nun ist es offiziell: Der VW-Konzern engagiert sich ab 2026 in der Formel 1. Wie das aussehen soll, warum der Autokonzern gleich mit zwei Marken dabei sein will – und was eine umweltschonendere Technik damit zu tun hat .
Was heute weniger wichtig ist
Bildstörung: Seit Monaten hat der Schauspieler Lars Eidinger, 46, auf seinem Instagram-Kanal keine Fotos mehr hochgeladen. Jetzt wissen wir auch, warum. Er fürchtet, es mache ihn krank. Deshalb hat er sich eine radikale Social-Media-Abstinenz verordnet, vor allem bei Instagram. »Ich behaupte, dass es ein toxisches Medium ist; man vergiftet sich da sukzessive«, sagte er der Neuen Osnabrücker Zeitung. Es ist ein Wagnis, denn immerhin hat Eidinger bei Instagram rund 190.000 Follower, ein Mini-Influencer sozusagen. Doch das will er gar nicht sein, Werbeangebote hat er sowieso schon immer abgelehnt. Als Schauspieler brauche man Glaubwürdigkeit, glaubt Eidinger, da könne man sich nicht an den Konsum verkaufen.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: Als der britische Popstar Elton John und der Filmproduzent David Furnish endlich heiraten durften, waren sie schon seit meit mehr als 20 Jahren ein Paar.
Cartoon des Tages: Bibberpelze
Und am Wochenende?
Zwei Meldungen aus dem Kulturbereich ließen diese Woche aufhorchen: Die Helmutschmidtisierung von Udo Lindenberg schreitet voran. Was beim Altkanzler die Zigaretten waren, war bei Lindenberg der Alkohol (und womöglich noch die ein oder andere Substanz mehr). Am 7. September wird er wie Schmidt zum Ehrenbürger der Stadt Hamburg ernannt. Das ist zwar eine große Ehre, hat aber auch ganz pragmatische Vorteile: Ehrenbürger dürfen in Hamburg umsonst S- und U-Bahn fahren, den HVV also ganz ohne 69-Euro-Ticket nutzen. Vielleicht ein Grund für Lindenberg, seinen Porsche zu verschrotten? Anlässlich der Ehrung Lindenbergs könnten Sie mal wieder die alten Klassiker des Panikmachers anhören .
Die zweite erfreuliche Meldung war, dass Lina Beckmann bei einer Umfrage von »Theater heute« zur Schauspielerin des Jahres gekürt wurde. Sie könnten also den Text meiner Kollegin Anke Dürr lesen, in dem sie nicht nur über Beckmann geschrieben hat, sondern generell darüber, wer auf den Bühnen Deutschlands glänzt. Da Beckmann von rund einem Viertel der Befragten für ihre herausragende Leistung dieser Saison gewählt wurde, »ist das eine beeindruckende Mehrheit«, bilanziert Anke. »Wenn man bedenkt, dass bei der jährlichen Umfrage theoretisch jede Schauspielerin auf einer deutschsprachigen Bühne wählbar ist.« Kaufen Sie sich also eine Theaterkarte für Beckmanns gefeierte Vorstellung »Richard the Kid & the King« in Hamburg. Und wenn Sie es nicht nach Hamburg schaffen, schauen Sie sich einfach am Wochenende einen »Polizeiruf 110« in der Mediathek an, in dem sie als Kommissarin Melly Böwe brilliert.
Ich wünsche Ihnen ein vergnügliches Wochenende. Es wird schön! Es regnet!
Herzlich
Ihr Janko Tietz
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