1. Walk on, talk on
You’ll never walk alone. Wohl kaum ein Song ist so oft gecovert, wenige sind so oft gegrölt worden wie dieser. Zu den bekanntesten Versionen zählen die von Frank Sinatra und von Gerry & the Pacemakers. Aber auch Louis Armstrong, Shirley Bassey und Chris de Burgh haben ihn gesungen, Ray Charles, Johnny Cash, Plácido Domingo, Aretha Franklin, Judy Garland, Tom Jones, Roy Orbison, Elvis Presley, Barbra Streisand, Chris Thompson, die Kelly Family und die Toten Hosen . Die Wikipedia listet noch weitere Interpreten auf, aber noch hat kein Witzbold Olaf Scholz dazugeschrieben.
Dabei hat der Kanzler die Songzeile heute wieder zitiert, als er ankündigte, seine Regierung wolle den Mehrwertsteuersatz auf Erdgas senken, von 19 auf 7 Prozent, befristet bis 2024. So würden die Gaskunden insgesamt deutlich stärker entlastet, als sie durch die staatliche Gasumlage belastet würden. Er erwarte von den Unternehmen, dass sie die Steuersenkung eins zu eins an die Verbraucher weitergäben, sagte Scholz. (Hier das Video.)
Keine gute Idee, findet mein Kollege Claus Hecking aus unserem Wirtschaftsressort (und einige Ökonomen sehen es ähnlich). Er fragt sich, warum die Regierung zuerst eine neue Gasbeschaffungsumlage erhebt – und keine 72 Stunden nach deren Bekanntgabe versucht, sie wieder zu neutralisieren oder gar überzukompensieren: »Dann hätte sie sich diese Umlage gleich sparen können.«
Fraglich sei aber vor allem, warum Scholz und sein Kabinett den Verbrauch von Erdgas künstlich anheizen, indem sie den Stoff erschwinglicher machen. »Seit Monaten predigen sie den Menschen in Deutschland, Gas zu sparen, auf dass es bloß keinen Notstand im Winter gebe und Putins Machtspielchen uns weniger hart treffen«, kommentiert Claus. »Das überzeugendste Argument für Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher, Heizung und Herd herunterzudrehen, sind aber hohe Kosten.« Und wie beim Tankrabatt werden von der Steuersenkung wieder die am meisten profitieren, die am meisten verbrauchen – jetzt etwa Eigentümer großer privater Wohnhäuser, meist Wohlhabende also.
Klar, Arme und Einkommensschwache brauchen Schutz vor explodierenden Gaskosten, findet auch Claus, doch dafür gebe es andere Wege: »Etwa einen Rabatt auf den Grundpreis, ein spezifisches Energiegeld, einen neuerlichen Heizkostenzuschuss für Geringverdiener.« (Ob Sie zu den Gering-, Durchschnitts- oder Gutverdienern gehören, finden Sie mit dem SPIEGEL-Einkommensrechner heraus .)
Der Kanzler hat heute weitere Entlastungen angekündigt, ohne konkret zu werden. »Wie das Paket genau aussieht, besprechen wir vertrauensvoll in der Regierung«, sagte er. Ob es in sich konsistent ist – oder ob jeder Koalitionspartner wieder ein bisschen was durchsetzt (oder sogar beides)? Noch vollkommen unklar. Denn eins haben die Ampel und ihr Kanzler schon mehrfach bewiesen: You’ll never talk alone.
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Lesen Sie hier den ganzen Kommentar: Der Murks mit der Mehrwertsteuer
2. Recht sprechen, mit Recht stechen
Mit der Impfpflicht gegen Corona hat es bekanntermaßen nicht geklappt, aber immerhin die Impfpflicht gegen Masern in Kitas und Schulen bleibt erhalten: Das Bundesverfassungsgericht erklärte sie heute für verfassungskonform – und wies mehrere Klagen von Familien zurück, die ihre Kinder nicht oder noch nicht gegen die hochansteckende Krankheit impfen lassen wollten. (Hier alles, was Sie dazu wissen müssen.)
Schon fordern Kinder- und Jugendärzte, auch noch einmal über den Umgang mit Covid nachzudenken: »Die Corona-Impfpflicht wäre geeignet, uns die aktuellen Debatten über das handwerklich schlecht gemachte Infektionsschutzgesetz mit unübersichtlichen Ausnahmen bei der Maskenpflicht zu ersparen«, sagte Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, der »Rheinischen Post«. Die Ständige Impfkommission wiederum hat heute ihre Empfehlung erweitert: Jede und jeder über 60 sollte sich ein zweites Mal boostern lassen (hier mehr dazu).
Manchmal hat man bei Coronathemen ein Murmeltier-Gefühl. So ging es auch meiner Kollegin Miriam Olbrisch, die jetzt wieder der Frage nachging: Wie sieht es eigentlich aus mit den Luftfiltern an Schulen? In den Hochzeiten der Pandemie kochte die Debatte in schöner Regelmäßigkeit hoch. In Gesprächen hörten sie und ihre Kolleginnen und Kollegen aus unserem Bildungsteam immer die gleichen Fragen und Klagen: Was bringen die Geräte? Wer soll sie bezahlen? Und warum sind die immer noch nicht da? Schulleitungen beschwerten sich über die Bürokratie, die Schulträger über die Kosten und Eltern darüber, warum alles so schrecklich lange dauert. Das ist nun vorbei – der Bund ließ das Förderprogramm für mobile Luftreiniger auslaufen. Auch weil viele Kommunen das bereitgestellte Geld nicht abgerufen haben. Dafür gibt es viel heiße Luft gerade.
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Lesen Sie hier mehr dazu: Kein Geld mehr für mobile Luftfilter an Schulen und Kitas
3. Fünf Ringe der Macht für München?
Irgendwann im Wende-Taumel kam meine Heimatstadt Berlin auf die Idee, sich für Olympia zu bewerben – und war damit noch weniger erfolgreich als später mit dem Neubau eines Flughafens. Die historische Dimension von Mauerfall und Wiedervereinigung überblickte ich als Teenager damals noch nicht vollständig. Ins Gedächtnis brannte sich mir die Ungeheuerlichkeit, dass der Fernseher manchmal schon morgens lief, was meine Eltern sonst immer abgelehnt hatten, egal, wie oft ich es vorschlug. Auch an Details der Olympia-Bewerbung meine ich mich zu erinnern: an ein verkniffenes Bärengesicht auf gelbem Grund als Logo, an einen furchtbaren Song mit der Zeile »Wir sind für Berlin und Olympiaaaaa«.
Aber vielleicht trügt mich mein Gedächtnis, im Internet finde ich keine Aufnahme davon (wenn Sie eine haben, schreiben Sie gern an lageamabend@spiegel.de ). Im Freundes- und Bekanntenkreis meiner Eltern jedenfalls gab es keine zwei Meinungen: Man war dagegen, unterstützte im Zweifel die Gegenkampagne »NOlympia«, feierte, als Sydney den Zuschlag bekam.
Jetzt kursiert wieder die Idee, Olympia noch einmal nach Deutschland zu holen, nach München. Denn die dortigen European Championships, bei denen geturnt, gesprungen, gerudert wird, begeistern viele Leute: »Sie sind ein Happening geworden, ein Quotenbringer für ARD und ZDF, ein Sommermärchen«, wie mein Kollege Peter Ahrens aus unserem Sportressort schreibt . »Und so kann es auch gar nicht anders sein, als dass jetzt die Rufe aufkommen: Wenn das hier so wunderbar klappt – warum dann nicht bald wieder Olympische Spiele in Deutschland?«
Peter hält das für eine ähnlich gute Idee wie meine Eltern damals für Berlin, aber aus anderen Gründen. »München 2022 ist deswegen so erfolgreich, weil es ein übersichtliches, kompaktes, man möchte sagen: sympathisches Format hat«, findet er. Hingegen seien Olympische Spiele so groß geworden, ständig kämen neue, gut vermarktbare Sportarten hinzu, die alten Disziplinen kämpften parallel darum, im Programm zu bleiben – »so wuchert die Veranstaltung weiter«. Als Format einfach nicht mehr zeitgemäß, findet er. München sollte daher nicht noch einmal zur Ringträgerin werden.
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Lesen Sie hier den ganzen Kommentar: München zeigt, warum Olympia nicht mehr geht
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Wetterdienst warnt vor Überflutungen in Teilen Deutschlands: Der ersehnte Regen kommt – teils aber wohl in viel zu großen Mengen: Im Osten Deutschlands wird ein heftiger Niederschlag erwartet. Der Westen geht hingegen nahezu leer aus.
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Wie ein Kolonialherr: Der Brüllauftritt des CSU-Politikers Christian Schmidt in Bosnien und Herzegowina zeigt: Das Amt des Hohen Repräsentanten gehört abgeschafft. Die EU sollte den Balkanstaaten dringend Angebote machen. Sonst profitiert Moskau. Ein Kommentar.
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Scholz telefonierte mit Israels Regierungschef: Olaf Scholz schwieg bei der Eklat-Pressekonferenz mit Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas. In einem Telefonat mit Israels Regierungschef Jair Lapid äußerte sich der Kanzler nun noch einmal deutlich zum Holocaust.
Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine
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»Was ist aus uns geworden?«: Schlecht ausgerüstet, wenig genährt, desillusioniert und von Putin enttäuscht: In einem Tagebuch berichtet ein ehemaliger russischer Soldat von seinem Einsatz in der Ukraine und warum er nicht schweigen konnte.
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Delegation um Linkenchefin Wissler sagt Reise in die Ukraine ab: Eigentlich sollte eine Gruppe prominenter Linker nach Kiew und in andere Orte in der Ukraine fahren. Der Trip wurde nun kurzfristig abgesagt – wegen eines Leaks aus der Partei.
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Warum Indien nicht von Putin abrückt: Indien kauft so viel russisches Öl wie nie zuvor, die Geschäfte laufen prächtig. Dass der Westen irritiert ist, findet man in Neu-Delhi scheinheilig. Die größte Bedrohung sei nicht Putin – sondern China .
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Geberländer immer zurückhaltender mit Hilfszusagen: Die Ukraine erhält aus dem Westen kaum noch neue Hilfszusagen. Vor allem die großen EU-Länder wie Deutschland, Frankreich oder Italien haben im Juli keine nennenswerten Militär- oder Finanzhilfen angekündigt.
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Der Traum vom autarken Haus: Das Gas ist knapp, der Strompreis steigt. Viele Eigentümer liebäugeln deshalb damit, sich weitgehend selbst mit Energie zu versorgen. Wie teuer ist solch ein Umbau?
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Wenn Deutschlands Wirtschaft trockenläuft: Der Rhein gilt als wichtige Lebensader für die heimische Wirtschaft. Die lange Dürre hat die Pegelstände so weit sinken lassen, dass die ohnehin drohende Krise noch schlimmer ausfallen könnte. Kann die Bahn helfen?
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Der Klimaforscher, dessen Haus in Flammen aufging: Hitze und Feuer zerstören Griechenlands Natur – und sind teuer für den Staat. Der führende Klimaexperte Christos Zerefos fordert seit Langem ein radikales Umdenken. Nun wurde auch sein Haus in Athen Opfer der Brände .
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Bekifft soll niemand ans Steuer, nur darin sind sich alle einig: Die Cannabis-Gemeinde blickt auf Goslar: Der Verkehrsgerichtstag will ein neues THC-Limit für die Teilnahme am Straßenverkehr vorschlagen. Welches Drogenlevel ist mit sicherem Fahren noch vereinbar?
Was heute weniger wichtig ist
Party-Sanna: Die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin, 36, hat sich »etwas verärgert« darüber geäußert, dass eine Zeitung ein privates Video veröffentlichte, auf dem sie beim ausgelassenen Feiern mit Freunden zu sehen ist. Zitiert wird sie mit den Worten: »Ich selbst habe weder Drogen noch etwas anderes als Alkohol konsumiert. Ich habe getanzt, gesungen, gefeiert, völlig legale Sachen gemacht.«
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »CDU-Obmann im Cux-Ex-Untersuchungsausschuss«
Cartoon des Tages: Flusspegelnot: Mit etwas gutem Willen…
Illustration: Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
Könnten Sie sich inspirieren lassen von der Klatschmeldung, dass Alexis Bledel, die einst Rory in »Gilmore Girls« spielte, und ihr Mann Vincent Kartheiser, der einst bei »Mad Men« mitmachte, sich scheiden lassen. Nicht, indem Sie Ihre eigene Ehe beenden, sondern indem Sie alle »Gilmore Girls«-Folgen gucken, in denen die Beziehungen von Rory scheitern, zu ihren drei Freunden Dean, Jess und Logan. Wobei in manchen Ehen allein dieser Vorschlag dazu führen könnte, dass ein Partner Reißaus nimmt. Glücklicherweise nicht in allen.
Frei nach Rory: Das ist nicht verrückt, das klingt nur so.
Einen schönen Abend. Morgen schnurrt der Fellwecker wieder. Herzlich
Ihr Oliver Trenkamp
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