Das von Außenministerin Annalena Baerbock angestoßene Notfallprogramm für schutzbedürftige Afghanen gerät ins Stocken. Nach SPIEGEL-Informationen haben die Taliban in den letzten Wochen die in Deutschland aufwendig geplante Ausreise von tausenden früheren Ortskräften deutscher Institutionen, politischen Aktivisten und Künstlern mit immer neuen Schikanen behindert.
Laut internen Zahlen gelang es dem Auswärtigen Amt zwar, im Juli 1044 Afghanen und Afghaninnen nach Deutschland zu bringen. Ursprünglich aber wollte man von Anfang Juli bis Mitte September die Ausreise von 7700 Afghanen ermöglichen. Dieses Ziel scheint angesichts der zunehmend strikteren Kontrollen der Taliban jedoch mittlerweile nicht mehr realistisch.
Außenministerin Baerbock während ihrer Pakistan-Reise im Juni
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Bernd von Jutrczenka / dpa
Baerbock hatte Ende Juni öffentlich angekündigt, sie wolle das Schutzprogramm für gefährdete Afghanen, die unter dem straffen Regime der Taliban Repressionen fürchten müssen, deutlich beschleunigen. Während der Sommermonate, so die Grünenpolitikerin, könnten tausende Afghanen vor allem über Pakistan ausreisen und würden von dort mit Chartermaschinen nach Deutschland gebracht.
Intern hatte man sich damals vorgenommen, im Juli und August rund 3000 Afghanen pro Monat gen Deutschland auszufliegen. Die Prognosen fußten auf Erfahrungen aus dem Frühjahr. So war es im Februar und März gelungen, dass mehr als 3000 Schutzbedürftige gemeinsam mit ihren Angehörigen nach Deutschland ausgeflogen werden konnten.
Im Notfall auch ohne gültige Visa nach Deutschland
Für das Turbo-Programm hat Baerbock hart gearbeitet. In Pakistan handelte Ihr Haus ein entsprechendes Abkommen mit der Regierung aus, damit Afghanen ohne Probleme in das Nachbarland ausreisen und dann rasch nach Deutschland weiterfliegen können. Nach zähen Verhandlungen mit dem Innenministerium in Berlin erreichte das Auswärtige Amt zudem, dass auch Afghanen im Notfall ohne gültige Visa nach Deutschland aufbrechen können und die weiteren Formalien erst nach Ankunft erledigt werden.
Mittlerweile aber ist der Optimismus aus dem Juni in Frust umgeschlagen. Zwar hatte man über informelle Kanäle in Kabul auch mit den neuen Machthabern über die geplante Ausreise von tausenden weiteren Afghanen gesprochen. In der Realität aber hielten sich die Taliban nicht an die losen Vereinbarungen. In internen Berichten heißt es, schon seit Anfang Juli hätten Posten der Radikalislamisten Busse mit Ausreisewilligen an den Landesgrenzen nach Pakistan gestoppt.
Die Verweigerungshaltung eskalierte schrittweise. Zunächst verwehrten die Taliban nur einzelnen Personen die Ausreise. Kurz darauf wurden die Busse mit Ausreisewilligen gar nicht mehr durchgelassen. Im Außenamt macht man sich aktuell wenig Illusionen, dass sich die Lage in den kommenden Wochen ändert. Trotzdem will man weiter nach Lösungen oder Kompromissen suchen.
Ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban
Die Bundesregierung hatte nach der Machtübernahme der Taliban Mitte August 2021 im Eiltempo ein Schutzprogramm für gefährdete Afghanen aufgelegt. Zunächst ging es um tausende sogenannte Ortskräfte, die seit 2001 für die Bundeswehr oder deutsche Institutionen in Afghanistan tätig waren.
Kurz darauf erstellte das Auswärtige Amt aber auch eine sogenannte »Menschrechtsliste« für politische Aktivisten, Journalisten oder Künstler, die ähnlich wie die Ortskräfte Repressionen der Taliban fürchten müssen und gerade in den letzten Monaten vermehrt über Schikanen und Bedrohungen durch die Taliban berichten. Allein über diese Liste wurden Aufnahmezusagen für rund 23.000 Personen erteilt.
Laut internen Statistiken der Bundesregierung warten derzeit noch rund 10.000 Afghaninnen und Afghanen, die bereits eine Aufnahmezusage für Deutschland haben, auf ihre Ausreise aus dem Machtgebiet der Taliban. Hinzu kommen rund 1800 weitere Personen, denen die Bundesregierung in den letzten Monaten die Ausreise in Aussicht stellte.
Da man Ende Juni von einer Beschleunigung des Programms ausging, hatte das Außenamt das Personal an den Botschaften in den Nachbarländern aufgestockt. In Deutschland bereiteten sich die Innenbehörden bereits darauf vor, dass im Juli und August zwischen 3000 und 4000 Afghanen mit Charter-Jets ankommen sollten.
Untersuchungsausschuss nach der Sommerpause
Baerbock hatte Ende Juni eine erste Zwischenbilanz zum sogenannten »Aktionsplan Afghanistan« zur Rettung von schutzbedürftigen Afghanen gezogen, den sie kurz nach ihrem Amtsantritt als Außenministerin angestoßen hatte. Insgesamt waren demnach damals zwei Drittel der Menschen, denen eine Aufnahmezusage erteilt worden sei, in Deutschland. Das seien mehr als 21.000 Afghanen.
Dass sich Baerbock im Frühsommer für eine Beschleunigung der Ausreise von gefährdeten Afghanen einsetzte, ist kein Zufall. Zwar hat die Bundesregierung aufgrund der geschlossenen Botschaft in Kabul kein genaues Lagebild, wie hart die Taliban Repressionen gegen frühere Ortskräfte und Polit-Aktivisten durchsetzen. Gleichwohl ist klar, dass die Lage für exponierte Afghanen, die während der Zeit vor der Machtübernahme politisch aktiv waren, in den letzten Monaten noch mal deutlich gefährlicher geworden ist.
Mit dem Turbo-Programm wollte sich Baerbock erkennbar von der Politik der früheren Bundesregierung absetzen. Nach der Sommerpause wird sich ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss mit der Frage beschäftigen, ob die Bundesregierung unter Führung von Angela Merkel die Rettung der früheren Ortskräfte der Bundeswehr und von politischen Aktivisten im Sommer 2021 zu spät startete.