Die Unterstützung für eine Verlängerung der Laufzeit deutscher Kernkraftwerke wächst – doch führende Politikerinnen und Politiker der Grünen bleiben bei ihrer Ablehnung. »Es ist fahrlässig, dass CDU und FDP in der Debatte um die AKW so tun, als würden Sicherheitsfragen keine Rolle spielen. Immerhin handelt es sich um eine Technologie, wo ein nicht erkanntes Problem fatale Konsequenzen haben kann«, sagte Grünenfraktionschefin Katharina Dröge dem SPIEGEL.
»Nach der Katastrophe von Fukushima wurden die deutschen Sicherheitsanforderungen für AKW verschärft. Nach diesem neuen Stand der Technik wurden die verbliebenen AKW nicht geprüft.« Die letzte periodische Sicherheitsüberprüfung habe vor 13 Jahren stattgefunden. Nach der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima 2011 hatte eine Mehrheit der Deutschen den endgültigen Atomausstieg befürwortet, den die damalige Bundesregierung aus CDU, CSU und FDP aus Sicherheitsgründen beschloss.
Fraktionsvorsitzende Katharina Dröge: Warnung vor Risiken der Kernkraft
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Fast vier Fünftel für Weiterbetrieb bis zum Sommer
Nun zeigen Umfragen des Instituts Civey für den SPIEGEL, dass eine große Mehrheit der Deutschen der Kernkraft wieder aufgeschlossen gegenüber steht.
Etwa 78 Prozent der Deutschen befürworten demnach, die drei noch laufenden Meiler – Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2 – bis zum kommenden Sommer zu betreiben. Zwei Drittel sprachen sich dafür aus, die Atomkraftwerke für weitere fünf Jahre am Netz zu lassen. Rund 41 Prozent sind sogar für den Neubau von Atomkraftwerken, die womöglich erst in 20 oder mehr Jahren ans Netz gehen könnten. Vor einigen Jahren befürwortete nur eine winzige Minderheit den Bau neuer Atommeiler.
Davon lassen sich viele Grüne derzeit noch nicht irritieren: »Wenn es nach Umfragen geht, wären wir schon 1986 ausgestiegen und hätten das Problem längst nicht mehr«, sagte Jürgen Trittin, der als Bundesumweltminister den ersten Atomausstieg mitverantwortet hat. »Es war gerade die Idee des Atomkonsenses, Berechenbarkeit zu schaffen. Berechenbarkeit ist weder etwas für Paniker wie Lindner noch für Wendehälse wie Söder – passt aber gut zu den Grünen.«
Bei der politischen Konkurrenz gibt es die klare Forderung, die Kernkraftwerke länger laufen zu lassen. Die Spitzen der Union etwa befürworten einen Betrieb mindestens bis 2024.
Auch unter den Anhängerinnen und Anhängern der Grünen gibt es eine wachsende Offenheit mindestens für den sogenannten Streckbetrieb. Bei diesem Modell würden die drei verbliebenen AKW nicht zum Jahresende wie eigentlich vorgesehen abgeschaltet. Stattdessen würde bis ins neue Jahr hinein die letzte Energie aus den alten Brennstäben erzeugt. Etwa 52 Prozent der Grünenanhängerinnen und -anhänger sind dafür, die drei Akw bis zum Sommer laufen zu lassen. Das ist bemerkenswert für eine Partei, die maßgeblich aus der Antiatomkraftbewegung heraus entstand.
Skepsis in der Fraktion
In der Fraktion und Partei herrscht allerdings auch größere Skepsis als an der Basis. Atomkraft sei unflexibel, teuer, produziere gefährlichen Müll, für den es noch kein Endlager gebe und sei, wie man an Frankreich sehe, auch nicht widerstandsfähig in der Klimakrise, sagte die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Julia Verlinden. In Frankreich ist gerade etwa die Hälfte des Reaktorparks nicht im Einsatz: »Verantwortungsvolle Politik minimiert Gefahren für die Bevölkerung.«
»Die Erneuerbaren können wir viel schneller und günstiger ausbauen. Außerdem können sich an der Bürgerenergiewende viele direkt beteiligen. Auch das ist ein sehr relevanter Vorteil einer dezentralen Energieversorgung«, sagte Verlinden: »Deswegen gibt es seit Jahren stabile Umfragewerte und viel Unterstützung für den Ausbau von Windkraft und Sonnenenergie.«
Als Grund für die Umfrageergebnisse gilt die Sorge vor hohen Energierechnungen und einem möglichen Blackout im Winter, sollte Russland seine Gaslieferungen einstellen. »Die aktuelle Energiekrise ist Ergebnis unserer hohen Abhängigkeit von fossilen Energieträgern, und sie bereitet den Menschen Sorge. Mehr Atomkraft ist darauf aber keine Antwort«, sagte der grüne Wirtschaftspolitiker Dieter Janecek: »Man kann den Teufel nicht mit dem Beelzebub austreiben.«
Analysen zufolge dürfte ein Streckbetrieb bestenfalls ein Prozent des Gases ersetzen. Für viele Anwendungen, die Gas benötigen, etwa Heizungen und Fernwärme, taugt Atomkraft nicht. Doch seit Klimaminister Robert Habeck davon sprach, jede Kilowattstunde helfe, fällt es seinen grünen Parteifreunden schwerer, zu argumentieren, dass es zwingend beim Atomausstieg bleiben müsse.
Die Klimapolitikerin Kathrin Henneberger mahnte dennoch: »Es dürfen jetzt keine Fehler gemacht werden. Wieder auf Atomkraft zu setzen wäre ein schwerwiegender Fehler.« Atomkraft bleibe eine Hochrisikotechnologie. »Wer die Hoffnung hat, hier eine einfache Lösung für die Energiekrise zu finden, der irrt«.