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News des Tages: Atomkraft, Krieg in der Ukraine, Fall Schlesinger

1. Ja zum Atom

Drei von vier Deutschen, 78 Prozent, wollen den zum Jahresende geplanten Atomausstieg verschieben und die verbliebenen Atomkraftwerke bis zum nächsten Sommer weiterlaufen lassen. Das ist das Ergebnis einer neuen Umfrage des Online-Befragungsunternehmens Civey für den SPIEGEL. Zwei von drei Deutschen, 67 Prozent, sind sogar dafür, die Meiler für weitere fünf Jahre am Netz zu halten. Und 41 Prozent fordern, mit einem jahrzehntealten Tabu zu brechen: Deutschland solle neue Atomkraftwerke bauen.

Der Meinungsumschwung verschlägt einem fast die Sprache. Da haben sich zwei Generationen vor dem Strahlentod gefürchtet, »Atomkraft, nein danke«-Sticker auf ihre Autos gepappt und Castortransporte blockiert. Atomkritik war Teil deutscher Identität geworden wie Müsli und Mülltrennung. Doch spätestens seit Putins Angriffskrieg kippt auch im linken und grünen Milieu die Stimmung. Mit kaltem Blick wird geprüft, ob Atomkraft verglichen mit Kohlestrom nicht doch das kleinere Übel ist.

Ja, Atomkraft ist teuer und birgt ein Sicherheitsrisiko. Ja, die Endlagerfrage ist weiter ungelöst. Ja, man kann die neue Liebe zum Atom für irrational halten. Aber es hatte ja auch etwas Irrationales, als nach einem Tsunami an der japanischen Küste die Meiler im deutschen Binnenland abgeschaltet wurden.

Ein SPIEGEL-Team ist der Frage nachgegangen , wie die alten Atomgegner auf die neue Kernkraftlust ihrer Landsleute blicken. Sie trafen Familie Hahlbohm aus Lemgow in Niedersachsen, drei Generationen unter einem Dach. Die Großmutter: »Ich bin absolut dagegen, am Ausstieg zu rütteln.« Der Schwiegersohn: Wenn die Brennelemente noch Strom liefern können, solle man überlegen, ob das Sinn macht. Die Enkelin: Ja zu einem begrenzten Weiterbetrieb.

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Die Kollegen haben auch Felix Ruwe, 71, aus Ahaus in Nordrhein-Westfalen getroffen, ein Veteran der örtlichen Bürgerinitiative »Kein Atommüll in Ahaus«. Er klingt frustriert: »Wir sind jetzt alles alte Säcke, das muss man so sagen«, antwortet Ruwe auf die Frage, wer sich heute noch in der Bürgerinitiative engagiere. Junger Nachwuchs für die Fortsetzung des Kampfs sei nicht in Sicht. »Mit uns«, sagt seine Frau Christel, »wird der Widerstand sterben.« 

Muss man Mitleid haben?

2. Treu zu Putin

Als russische Truppen Ende Februar die Ukraine überfielen, hieß es oft: Das sei Putins Krieg, nicht Russlands. Viele konnten nicht glauben, dass das Volk ein solches Verbrechen gutheißt. Kleine Antikriegsdemonstrationen in Moskau galten als Beweis, dass das russische Volk den Frieden liebt.

Inzwischen ist der Eindruck ein anderer. Die Russen scheinen Putin mit großer Mehrheit zu unterstützen. »Er ist das Volk«, heißt die Titelgeschichte  im neuen SPIEGEL.

Mein Kollege Christian Esch lebt seit 14 Jahren in Russland. Seit Kriegsbeginn berichtete er allerdings vor allem aus der Ukraine. Als Christian jetzt nach sechs Monaten wieder nach Moskau kam, war er schockiert. Die Bewohner der Stadt haben sich verändert. Alte Bekannte erkannte er kaum wieder. Auf seiner Lieblingsfrequenz im Radio lief ein neuer Sender, der ihm erklärt, warum man wenig Mitleid mit ukrainischen Zivilisten haben müsse.

Christian schreibt, viele Russen fühlten sich von westlichen Sanktionen darin bestätigt, dass dieser Krieg in Wahrheit nicht ein Angriff Russlands auf die Ukraine sei, sondern ein Kampf mit einem übermächtigen, missgünstigen Westen.

In einem Café traf er den Außenpolitikexperten Dmitrij Trenin, ein kluger, freundlicher Herr mit Schnurrbart, dessen nüchterne Analysen Christian oft geholfen haben, Russlands Politik zu verstehen. Eine Woche vor Putins Überfall hatte Trenin gesagt, ein Krieg sei nie geplant, Putins Truppenaufmarsch sei eine reine Drohgebärde.

Nun klang er völlig anders. Trenin sagte, er unterstütze sogar eine größere Kriegsanstrengung. Russland brauche eine »Selbstreinigung« von Materialismus und anderen falschen Werten, eine neue »russische Idee«.

Christian schreibt: »Der Trenin, den ich fünf Monate später wiedertreffe, ist ein veränderter Mann.« 

Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:

  • Was ist im Gefangenenlager in Oleniwka wirklich passiert? Der Kreml verweigert Zugang zu dem Ort, an dem 50 ukrainische Kriegsgefangene starben – und nährt so den Verdacht auf ein Massaker. Angehörige attackieren auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Warum viele Fragen offenbleiben. 

  • Wie viel Schuld trägt die russische Gesellschaft an Putins Kriegsverbrechen? Viele Russen haben ihr Land zuletzt verlassen. SPIEGEL-Reporter Timofey Neshitov, in Sankt Petersburg geboren und aufgewachsen, hat seine Landsleute im Exil besucht. Eine persönliche Reise zum Ursprung des Bösen .

  • Russland stellt geringere Getreideexporte in Aussicht: Reduzierte russische Gaslieferungen wegen einer angeblich fehlenden Turbine halten Europa seit Wochen in Atem. Nun droht Moskau mit geringeren Getreideexporten – und begründet auch dies mit Teilemangel.

3. Für die ARD untragbar, aber fürs Regionalprogramm reicht’s?

Als ARD-Vorsitzende ist Patricia Schlesinger gestern zurückgetreten. Als RBB-Intendantin will sie offenbar weitermachen. Eine merkwürdige Logik. Fürs Erste ist sie untragbar, aber fürs Regionalprogramm reicht‘s?

Der Vorsitzende des Hauptausschusses im Brandenburger Landtag, Daniel Keller, gibt sich mit Schlesingers Teilrückzug offenbar nicht zufrieden. Der SPD-Politiker forderte heute eine sofortige Klärung der Vorwürfe. Wenn schon absehbar sei, dass ein Fehlverhalten vorliege, müsse die Intendantin auch beim RBB Konsequenzen ziehen.

Tatsächlich haben die Vorwürfe gegen Schlesinger mit ihrem Wirken als Senderchefin zu tun. Es geht um mögliche Vetternwirtschaft bei einem RBB-Immobilienprojekt.  Um die Abrechnung von angeblichen Geschäftsessen in Schlesingers Privatwohnung. Um Schlesingers Gehaltserhöhung um bemerkenswerte 16 Prozent auf 303.000 Euro pro Jahr. Um Schlesingers Mann, der einen gut bezahlten Beraterjob bekam bei der Berliner Messe, deren Aufsichtsratschef zufälligerweise auch Chef des RBB-Verwaltungsrats ist.

Und schließlich geht es um Schlesingers Dienstwagen. Laut Recherchen des Magazins »Business Insider« handelt es sich um einen mondscheinblauen Audi A8 mit 435 PS, Massagesitzen und schalldämpfenden Fenstern, Gesamtwert 145.830 Euro. Recht viel für die Chefin einer öffentlich-rechtlichen Anstalt, die sich vor allem aus Beiträgen finanziert. Weshalb Audi eine Art Presserabatt von fast 70 Prozent gewährte. Offenbar betrachtete man Schlesinger als Markenbotschafterin.

Eine SPIEGEL-Anfrage bei den öffentlich-rechtlichen Sendern ergab heute, dass Schlesingers Dienstwagen unter den Kolleginnen und Kollegen heraussticht. Beim Hessischen Rundfunk fährt die Intendanz im Elektro-BMW, beim Bayerischen Rundfunk einen Plug-in-Hybrid. Bei Radio Bremen gibt es keinen Dienstwagen. Karola Wille vom MDR hingegen hat dasselbe Audi-Modell wie Schlesinger, wenngleich für ein größeres Sendegebiet.

Mich hat am meisten überrascht, wie Schlesinger mit der Sache umgeht. Bei der NDR-Sendung »Panorama« stand sie einst für investigativen Journalismus. Nun empörte sie sich über Durchstechereien (»und dann auch noch zur Springer-Presse«), als hätte »Panorama« stets auf offizielle Pressemitteilungen gewartet. Schon 2003 lief dort übrigens ein kritischer Beitrag zum Thema Presserabatt, Titel: »Shoppen mit Presseausweis – Rabatte für raffgierige Journalisten«. 

Mein Kollege Anton Rainer kommentiert den Fall so: »Gegnern des öffentlich-rechtlichen Systems hat Schlesinger nicht nur Munition geliefert, sondern ein ganzes Arsenal geschenkt.«

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Podcast Cover


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Was heute sonst noch wichtig ist

  • China verhängt Sanktionen gegen Pelosi: Sie habe die Ein-China-Politik »mit Füßen« getreten: Peking hat wegen der Taiwanreise von Nancy Pelosi Strafmaßnahmen gegen die US-Spitzenpolitikerin beschlossen.

  • EnBW kündigt deftige Preiserhöhung an: Der baden-württembergische Energiekonzern EnBW hat für Oktober neue Tarife angekündigt. Das an sich dürfte die wenigsten überraschen – die Höhe des Aufschlags hingegen schon.

  • Experte im Panzer erkundet Grunewald – Sprengplatz noch 700 Grad heiß: Dutzende Tonnen Kampfmittel und Munition lagern am Sprengplatz im Berliner Grunewald, wo Explosionen einen Großbrand auslösten. Ein Sprengmeister der Polizei hat sich nun einen Überblick verschafft.

Meine Lieblingsgeschichte heute: So viel China steckt in einem deutschen Auto

Audi-e-tron-Produktion in Brüssel


Foto:

Francois Lenoir / REUTERS


Deutschland soll unabhängiger von China werden? Meine Kollegen Martin Hesse und Simon Hage sind zu Audi gefahren  und wollten wissen, was das konkret heißt. Am Beispiel eines e-tron, Audis Elektroautobestseller. Sie wollten wissen: Wie viel China steckt in diesem angeblich deutschen Auto?

Ein e-tron besteht aus etwa 6000 Teilen, vom Fahrgestell über das Bordnetz und die Batterie bis zum Antriebsstrang mit dem Elektromotor. Die Teile stammen von Zulieferern an 550 Standorten in 37 Ländern. Audi zählt 149 Teile, die direkt aus China kommen.

Dazu kommen chinesische Vorprodukte, die in den Teilen stecken. Der E-Motor etwa wird in Ungarn produziert, braucht aber Metalle, die oft in einer Mine in Nordchina gewonnen werden. Und die Halbleiter. Martin und Simon haben recherchiert, dass in einem einzigen Audi e-tron mehr als 6000 Computerchips stecken, sogar im Scheibenwischer. Ein wichtiger Chiplieferant für Audi ist die Firma Infineon, das benötigte Silizium und Ferrosilizium kommt in der Regel aus China.

»Die Konzerne versuchen, die wichtigsten Teile der Produktion zurückzuholen«, schreiben die Kollegen . Doch der Blick in das Innenleben des Audi e-tron zeigt: »Autarkie ist in der komplexen Autowelt ein Trugbild.«

Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen

  • Kampf der Besserwisser: Karl Lauterbach und Marco Buschmann haben sich wochenlang über das neue Infektionsschutzgesetz gestritten. Dann schickte der Kanzler einen Aufpasser, nun gibt es einen Entwurf: Wer hat sich durchgesetzt? 

  • Er verehrte ihn wie einen Vater: Als Minderjähriger wurde Georg Menne immer wieder von einem Priester vergewaltigt. Trotzdem arbeitete er sein Leben lang für die Kirche. Jetzt, mit 63, verklagt er sie auf Schmerzensgeld .

  • Sein härtestes Spiel: Er war Welttorhüter und bekannt für seine Ausraster. Jetzt steht Oliver Kahn nach teuren Transfers als Vorstandschef des FC Bayern unter Druck. Porträt eines Mannes, der zu seinem eigenen Aufpasser wurde .


Was heute nicht ganz so wichtig ist

Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: Getreideal mit der Ukraine läuft gerade an

Cartoon des Tages: Taiwan



Und heute Abend?

Sollte Ihnen der Start der Fußball-Bundesliga (Frankfurt gegen Bayern, ab 20.30 Uhr auf Sat.1) genauso egal sein wie der Auftritt von Slipknot beim Wacken-Festival (ab 21.10 Uhr bei Magenta TV), könnten Sie heute Abend damit anfangen, die sechste Staffel von »Better call Saul« auf Netflix  zu sehen, bevor am 15. August das Finale dieser phänomenalen Serie läuft. Mein Kollege Joachim Hentschel hat im neuen SPIEGEL eine Eloge auf den schmierigen Winkeladvokaten Jimmy McGill verfasst. Die letzte Folge werde ein »aufregender, geradezu göttlicher Fernsehmoment sein: die Mondlandung einer der aufregendsten Serien aller Zeiten«.

Ach so, Sie kennen die Serie gar nicht, und auch nicht die mit ihr verbundene »Breaking Bad«-Saga? Dann beneide ich Sie darum, sie jetzt entdecken zu können .

Es hat mir Spaß gemacht, Sie an dieser Stelle durch die Woche zu begleiten. Danke auch für die vielen Reaktionen zu meiner angeblichen Begabung, den Daumen abknicken zu können (Fotos finden Sie hier ).

Schreiben Sie mir gern, wenn Ihnen etwas aufgefallen ist, per E-Mail (alexander.neubacher@spiegel.de ) oder über Twitter (@Alex_Neubacher ). Nächsten Montag begrüßt Sie hier mein Kollege Wolfgang Höbel.

Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend und ein schönes Wochenende.

Herzlich Alexander Neubacher

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