1. Das Ende grüner Gewissheiten
Ein altes Steinkohlekraftwerk steht vor dem Neustart. Es handelt sich um das Kraftwerk Mehrum im niedersächsischen Hohenhameln zwischen Hannover und Braunschweig. 2018 erzeugte es so viel Strom, dass damit theoretisch mehr als eine halbe Million Musterhaushalte versorgt werden konnten. Seit Ende letzten Jahres stand es still. Nun soll es zurück ans Netz, um an anderer Stelle wertvolles Erdgas einzusparen, das für den kommenden Winter zum Heizen gebraucht wird.
Comeback für die Steinkohle: So viel zum Thema Klimaschutz in Deutschland. So viel zur angeblichen Energiewende. Und so viel zur Behauptung der grünen Umweltministerin Steffi Lemke, Deutschland habe kein Strom-, sondern ein Wärmeproblem.
Andere als die Ministerin sind da weiter. Deutschland, das Stammland der Strahlenangst, ist dabei, seine grünen Gewissheiten über die Atomkraftwerke zu überdenken. Der Ausstiegstermin am 31. Dezember wackelt. »Führende Grüne wie der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Wirtschaftsminister Robert Habeck sind von ihrem kategorischen Nein zu einer Laufzeitverlängerung bereits abgerückt, die Parteiführung schweigt zum Münchner Beschluss, zu Isar 2. Das darf man als Zustimmung werten«, analysiert unser Hauptstadtbüro im akuellen SPIEGEL .
Jüngste Umfragen zeigen, dass eine deutliche Mehrheit der Deutschen es richtig fände, die drei verbliebenen Meiler über das Jahresende hinaus laufen zu lassen. Auch die Klimaaktivistin Luisa Neubauer von Fridays for Future sagte heute dem »Tagesspiegel«, ein Streckbetrieb für einige Monate, also ohne die Beschaffung neuer Brennstäbe, wäre für sie kein Problem.
Ich glaube, dass die Bedenken gegen Atomkraft in Deutschland weiterhin groß sind. Doch im Zweifrontenkampf gegen die Energienot und den Klimawandel scheinen die Sorgen in den Hintergrund zu treten. Das Atom ist jetzt unser Freund, zumindest auf Zeit.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Plötzlich können die Grünen sogar mit Kernkraft leben
2. Fährt ein Schiff durchs Minenfeld
Zum ersten Mal seit Kriegsbeginn hat heute ein Frachtschiff den Hafen von Odessa verlassen. Um 8.19 Uhr stach die »Razoni« in See. Morgen Abend soll sie mit ihrer Ladung, 26.000 Tonnen Mais, im libanesischen Tripoli eintreffen – wenn alles gut geht .
Gelingt es dem Kapitän der »Razoni«, sein 186 Meter langes Schiff unbeschadet an den vielen Seeminen vorbeizusteuern? Werden die russischen Kriegsschiffe den Frachter passieren lassen? Man kann nur ahnen, wie angespannt die Stimmung an Bord beim Auslaufen war und vermutlich immer noch ist.
Für viele Menschen ist die Fahrt durchs Minenfeld aber auch ein Hoffnungsschimmer, schreiben Alexander Epp und Lina Verschwele. Mehr als 20 Millionen Tonnen Getreide lagern noch in ukrainischen Häfen. Staaten wie Eritrea, Somalia und der Libanon sind dringend auf die Ware angewiesen, um eine Hungersnot abzuwenden. Die Ukraine wiederum braucht das Geld aus dem Exportgeschäft; es geht um fast eine Milliarde Euro. Weitere 16 Frachtschiffe aus dem Hafen in Odessa könnten der »Razoni« rasch folgen, sagte heute der ukrainische Minister für Infrastruktur. Allerdings nur, wenn der »Razoni« die Überfahrt unbeschadet gelingt.
»Es bleibt abzuwarten, ob die russische Armee den Korridor wirklich respektiert, durch den die Getreideschiffe fahren sollen«, schreiben Alexander und Lina in ihrer Analyse. Seit Kriegsbeginn sind zwei Seeleute getötet worden, sieben Frachtschiffe wurden bei Beschuss getroffen, zwei sanken. Obwohl Russland am 22. Juli einem Waffenstillstand für Getreidetransporte zugestimmt hat, wurde der Hafen von Odessa beschossen. Und der Hafen von Chornomorsk ist weiter blockiert.
Ein Kremlsprecher äußerte sich nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur Interfax heute so: »Wir wollen hoffen, dass die Vereinbarungen von allen Seiten erfüllt werden.«
Auf SPIEGEL.de halten wir Sie auf dem Laufenden, wie die »Razoni« auf ihrer Fahrt vorankommt.
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Lesen Sie hier mehr: Dieser Frachter muss durchs Minenfeld
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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Selenskyj kündigt Vergeltung für »brutalste Bombenangriffe auf Mykolajiw« an: Nach dem schweren Beschuss auf die südliche Region Mykolajiw droht der ukrainische Präsident Selenskyj mit einer Reaktion seiner Armee. Außerdem berichtet er von russischen Truppenbewegungen im Süden.
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»Weniger Waffen bedeutet mehr Gewalt – gegen Ukrainer, täglich«: Andrej Kurkow ist einer der wichtigsten ukrainischen Schriftsteller, aber seine Bücher verfasst er auf Russisch. Hier erläutert er, was er von offenen Briefen zu deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine hält .
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
3. Krisengebiet Kassel
Die Stadt Kassel und das Land Hessen haben heute ein Expertengremium benannt, das den Skandal um judenfeindliche Bilder bei der Documenta aufarbeiten soll. Den Vorsitz übernimmt Nicole Deitelhoff vom Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, kurz HSFK. Normalerweise beschäftigt sie sich dort mit gewaltsamen, internationalen Konflikten, mit Bürgerkriegen, Genoziden. Nun bekommt sie es mit Kunst zu tun. Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll.
Ein Auftrag an Deitelhoffs Gremium lautet, es solle »bei der Analyse möglicher weiterer antisemitischer Bildsprache und Sprache sowie bereits als antisemitisch identifizierten Werken beraten«. Tatsächlich scheint man in Kassel hier ein Wahrnehmungsproblem zu haben, nachdem nicht mal das Bild eines vampir-ähnlichen Mannes mit Schläfenlocken, Kippa, SS-Runen und Reißzähnen als judenfeindlich erkannt wurde. Vor einigen Tagen tauchten weitere Zeichnungen auf, die eindeutig antisemitische Klischees bedienen, etwa ein Soldat mit Hakennase und Davidstern, der ein Kind züchtigt. Doch auch der neue Interimsgeschäftsführer der Documenta, Alexander Fahrenholz, findet: Kein Grund zur Aufregung, ist doch halb so wild.
Bemerkenswert ist, wie hartnäckig die politisch Verantwortlichen der Horrorshow von Kassel behaupten, sie hätten ja keine Ahnung gehabt, was auf sie zukommt. Als dann das Banner mit den Schweineköpfen, Davidsternen und dem Juden mit blutunterlaufenen Augen und Raffzähnen enthüllt wurde, sei das »eine furchtbare Enttäuschung« gewesen, sagte die grüne Kulturstaatsministerin Claudia Roth .
Nun ja. Im Gegensatz zu Roth habe ich beruflich nur selten mit Kulturschaffenden zu tun. Doch schon am 17. Juni, also einen Tag vor der offiziellen Eröffnung mit Roth und dem Bundespräsidenten, wunderte ich mich hier an dieser Stelle darüber, dass Israelfeinde Deutschlands wichtigste Kunstausstellung gestalten dürfen. Und ich war beileibe nicht der Erste, dem das seltsam vorkam. Mit ein paar Telefonaten und etwas Internetrecherche hätte auch Roth frühzeitig herausfinden können, welche Klappskallis bei der Documenta ihr Unwesen treiben.
Ich wünsche der Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff viel Erfolg bei ihrer Arbeit. Und sollte sie scheitern: Am 25. September ist der Spuk in Kassel zum Glück vorbei.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Hat Claudia Roth den Judenhass unterschätzt?
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Pelosi will offenbar bereits am Dienstag nach Taipeh reisen: China wertet einen möglichen Besuch Nancy Pelosis in Taiwan als Provokation. Doch die US-Demokratin will ihre umstrittene Reise wohl durchsetzen – trotz erheblicher Sicherheitsbedenken.
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Früherer Kremlberater liegt offenbar mit Nervenkrankheit auf der Intensivstation: Bis März diente Anatolij Tschubais als Sonderbeauftragter Wladimir Putins, dann trat er zurück. Nun liegt er auf einer italienischen Intensivstation. Gerüchte, er sei vergiftet worden, weist er laut Berichten zurück.
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Serben entfernen Barrikaden an zwei Grenzübergängen: Um gegen neue Modalitäten bei den Grenzkontrollen zu protestieren, hatten kosovarische Serben Zufahrtsstraßen blockiert. Nun entspannt sich die Lage. In Deutschland blickt man dennoch mit Sorge auf die Region.
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Deutlich mehr Lohn für Bodenpersonal an mehreren Flughäfen: Mit einzelnen Flughafen-Dienstleistern gebe es »sehr gute« Tarifergebnisse, heiß es von Ver.di. Verhandlungen mit anderen Unternehmen stehen derweil aus – bei Lufthansa geht es bereits in die dritte Runde.
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30 Prozent mehr Anfragen an Netzagentur wegen steigender Energiepreise: Wegen der gestiegenen Energiekosten wenden sich deutlich mehr Menschen an die Bundesnetzagentur. Die Zahl der Beschwerden über nervige Werbeanrufe dagegen ist gesunken.
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Nach Tod von 14-Jähriger – Polizei nimmt Verdächtigen fest: Mehr als eine Woche lang galt Ayleen A. als vermisst. Dann bestätigte die Polizei den Tod der 14-Jährigen. Nun haben die Einsatzkräfte einen mutmaßlichen Täter festgenommen.
Meine Lieblingsgeschichte heute: Vorbild DDR
Meine Kollegin Frauke Hunfeld hat neulich versucht, einen Handwerker für ihre kaputte Wärmepumpe zu finden. Natürlich vergeblich. »Wir haben 20 oder 30 Firmen abtelefoniert«, schreibt sie in ihrem Protokoll des Leidens. »Wenn überhaupt jemand ranging, wurden wir vertröstet, abgewiesen oder ausgelacht. Einer sagte: Sie können sich erst wieder ab nächster Woche für einen Termin bewerben. Ich fragte, ob das Bewerbungsfoto in Farbe oder Schwarz-Weiß sein soll, aber die Frage wurde nicht als Galgenhumor identifiziert. Niemand hatte für uns Zeit.«
Wie lässt sich das Problem lösen? Frauke schlägt vor, zu einer Tauschwirtschaft zurückzukehren, so ähnlich wie früher in der DDR. Sie schreibt: »Jeder kann doch irgendwas, jeder hat doch irgendwas, jeder kennt doch irgendwen.« Sie selbst zum Beispiel könne kleine Texte verfassen, Geburtstagsreden, Jubiläumsbriefe. Sie könne auch Hunde, Katzen und Kinder hüten, komplizierte Formulare ausfüllen, Marmelade kochen, bietet Frauke an. Und sie habe einen Freund, der Zahnarzt ist. Und einen Garten voller Gurken und Brombeeren.
Ich glaube, da sollte sich etwas machen lassen. Können Sie vielleicht Wärmepumpen reparieren? Oder Holzzäune bauen, Dimmer für Deckenlampen installieren, Sanitäranlagen warten? Dann schreiben Sie an: frauke.hunfeld@spiegel.de
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Wie mich meine Wärmepumpe in den Wahnsinn trieb
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Vier Lehren aus der EM in England: Frauen sind schwache Torhüterinnen? Die Fußball-EM hat das Gegenteil bewiesen. In anderen Bereichen aber war das Niveau nicht ganz so stark. Die wichtigsten Erkenntnisse des Turniers .
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Steht der Irak erneut vor einem Bürgerkrieg? Neun Monate nach der Wahl hat Gewinner Muqtada al-Sadr es nicht geschafft, die Mehrheit im Parlament hinter sich zu vereinen. Dann entschloss er sich zu einem dramatischen Schritt – jetzt könnten die Waffen sprechen .
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»…dann zieht vielleicht irgendwann auch mal ein Linker in Bellevue ein«: Frank-Walter Steinmeier macht Urlaub, Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow übernimmt deshalb die Befugnisse des Staatsoberhaupts. Hier spricht er über die neue Rolle – und darüber, was das für seine Partei bedeutet .
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»Der Knast ist eine Sonderwirtschaftszone, private Unternehmen profitieren«: Viele Gefangene müssen arbeiten, bekommen dafür aber weder viel Lohn noch Rente. Bund und Länder wollen Insassen jetzt besser absichern – nur bezahlen will das keiner .
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»Tausend Spiele kennt Venus«: Schamhaftigkeit galt als oberste Tugend der ehrbaren Matrona. Und doch schien die Fleischeslust im römischen Alltag allgegenwärtig, das zeigen erotische Kunst und derbe Graffiti. Trieb es ganz Rom völlig entfesselt?
Was heute weniger wichtig ist
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Landhochzeit: Großbritanniens Noch-Regierungschef Boris Johnson, 58, und seine Frau Carrie haben am Wochenende ihre Hochzeit nachgefeiert. Das Fest fand auf dem Anwesen eines reichen Gönners im Südwesten Englands statt. Fotos zeigen ein großes Partyzelt auf dem Gelände, daneben Heuballen. Unter den etwa 200 Gästen waren Johnsons engste Verbündete im Kabinett und andere einflussreiche Mitglieder der Tories. Das Festzelt war eine Notlösung: Eigentlich sollte die Party in Chequers steigen, dem offiziellen Landsitz der britischen Premierminister. Doch kurz nach seiner Rücktrittsankündigung für den Herbst hielt Johnson das für unschicklich und suchte eine neue Location. Die Ehe mit Carrie, Ex-Pressesprecherin der Tories, ist bereits Johnsons dritte Ehe.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Es gibt im Fußball der Frauen das Klitschee der Fliegenfängerinnen«
Cartoon des Tages: Aus der Not eine Tugend
Illustration: Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
Für »Star Trek«-Fans stand heute für einen Moment die Welt still: US-Schauspielerin Nichelle Nichols, die als Kommunikationsoffizierin Lieutenant Uhura in der Fernsehserie berühmt wurde, ist am Samstag im Alter von 89 Jahren gestorben. Ihr Sohn Kyle Johnson verbreitete die Nachricht auf Nichols‘ Instagram-Account, verbunden mit einer tröstlichen Botschaft: »Ihr Licht wird uns und zukünftigen Generationen erhalten bleiben, um sich daran zu erfreuen, davon zu lernen und sich inspirieren zu lassen.« Nichols spielte Lieutenant Uhura von 1966 bis 1969. Sie brach mit Stereotypen, die schwarze Frauen auf Rollen als Dienerinnen beschränkten. Und sie schrieb Filmgeschichte, als sie William Shatner alias Captain Kirk küsste. Es war einer der ersten Küsse zwischen einer schwarzen Frau und einem weißen Mann im US-Fernsehen.
Einen Rückblick auf die ersten »Raumschiff Enterprise«-Jahre mit Nichols und Shatner lesen Sie hier . Falls Sie sich den Kuss ansehen wollen: Sie finden ihn in Staffel 3, Folge 10.
Schreiben Sie mir gerne, wenn Ihnen an dieser Abendlage etwas aufgefallen ist, per E-Mail oder über Twitter .
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.
Herzlich
Alexander Neubacher
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