1. Steht Putin vor einer Pleite?
Es ist noch keine drei Wochen her, dass Russlands Präsident Wladimir Putin vor den Fraktionschefs der Parteien im Scheinparlament Duma tönte, die Ukraine könne sich darauf einstellen, den Krieg auf jeden Fall zu verlieren. »Wir haben noch gar nicht richtig angefangen.« Die Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine verhöhnte der Machthaber als quasi sinnlos. »Der Westen will uns auf dem Schlachtfeld schlagen – lasst es sie nur versuchen«, prahlte Putin.
Es war eine dieser typischen Volten. Breitbeiniges Auftreten, verbales Einschüchtern, haltloses Drohen. Mag der Diktator als strategische Option gegen den Westen die Gaslieferungen haben, militärisch scheint ihm aber die Puste auszugehen. Erst vor sechs Tagen kam der britische Geheimdienst zu der Erkenntnis, dass Russland im Angriffskrieg gegen die Ukraine auf immer weniger spezifische Bodenraketen zurückgreifen könne. Deshalb würden verstärkt Luftabwehrraketen auch für Landangriffe eingesetzt. Manche Beobachter sprachen schon von »Verzweiflungstaten«. Im Krieg gegen die Ukraine seien auf russischer Seite nach Schätzungen mehr als 75.000 Menschen getötet oder verwundet worden, hatte CNN unter Berufung auf Abgeordnete des US-Repräsentantenhauses berichtet.
Auch Ed Arnold, Militärexperte am britischen Thinktank Royal United Services Institute (Rusi) teilt die Überzeugung, dass das Militär an seine Grenzen stößt. »Den russischen Streitkräften geht die Luft aus«, sagte Arnold im Interview mit meinem Kollegen Fritz Schaap . Arnolds Meinung nach können die Russen nicht mehr lange so weitermachen. Die Ukrainer müssten vor der lange erwarteten Gegenoffensive den russischen Vorteil, nämlich die Artillerie, zunichtemachen. »Die wichtigen ukrainischen Ziele sind deswegen im Moment: Munitionslager, Kommando- und Kontrollzentren. Orte, an denen sich hochrangige Offiziere versammeln und Planungen durchführen«, so Arnold.
Die Russen kennen in dem Krieg kein Erbarmen, sie haben keine Moral, töten auch Zivilisten. Dieses skrupellose Vorgehen der Russen könnten die Ukrainer nicht anwenden, um Gebiete zurückzuerobern, davon ist Arnold überzeugt. »Sie müssen sehr strategisch vorgehen.«
Fest steht: Es beginnen lange, zermürbende Monate für die Ukraine. Deren Präsident Wolodymyr Selenskyj muss unter Beweis stellen, dass er in der Lage ist, das vom Westen gelieferte militärische Gerät sinnvoll zu nutzen und Russland zurückzudrängen. Auch deshalb wirft Putin dem Westen immer wieder vor, »bis zum letzten Ukrainer« kämpfen zu wollen. »Das ist eine Tragödie für das ukrainische Volk.«
Was Putin verkennt: Die einzige Tragödie für das ukrainische Volk ist er selbst.
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Lesen Sie hier das ganze Interview: Militärexperte über die Lage in der Ostukraine – »Den russischen Streitkräften geht die Luft aus«
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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Ukrainisches Außenministerium rät Fenerbahçe-Fans zu Wechsel auf »Seite der Sieger«: Während eines Spiels zwischen Fenerbahçe Istanbul und Dynamo Kiew hatten türkische Anhänger den Namen des russischen Präsidenten skandiert. Kiews Trainer »bedauert« den Vorfall, das ukrainische Außenministerium reagiert sportlich.
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Selenskyj will EU-Staaten mit Atomstrom helfen: Seit Wochen liefert die Ukraine ihren Atomstrom auch in die EU. Wegen befürchteter Energieengpässe in Europa hat Präsident Selenskyj höhere Exporte angekündigt.
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»Wer es leisten kann, wird seinen Teil tragen müssen«: Die Politik muss das Land auf dauerhaft hohe Gaspreise und eine Rezession vorbereiten, mahnt die Ökonomin Veronika Grimm. Viele Bürger hegten noch immer die Illusion, mit einem blauen Auge durch den Winter zu kommen .
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: das News-Update.
2. Trockener Kommentar von Kretschmer
Eine Kollegin, die freie Journalistin Doreen Reinhard, schrieb gestern auf Twitter : »Ich finde es immer mal wieder schwierig, in #Sachsen zu leben, aus Gründen. Ein Grund, warum ich gern hier bleibe, ist die Natur, die an vielen Stellen so extrem schön ist. Und deshalb ist es so 💔, wenn Landschaften zerstört werden, wenn Natur bedroht ist.« Wer einmal über die Felsformationen der Bastei geklettert ist, einmal von der Festung Königstein hinab auf die Elbe geblickt hat oder einmal auf tschechischer Seite zu Fuß und im Kahn die Edmundsklamm in Hřensko erklommen hat, weiß, wovon Doreen spricht. Doch diese Idylle ist wegen extremer Trockenheit akut bedroht. Im Nationalpark Sächsische Schweiz haben Brände inzwischen 250 Hektar Fläche Wald vernichtet, im benachbarten Böhmischen Nationalpark sind es tausend Hektar. Das Problem ist, dass die Feuerwehr nicht ohne Weiteres an die Brandherde gelangt.
Sie liegen oft oben in den Bergen, es gibt kaum Wege dahin. Panzer der Bundeswehr schlagen Schneisen, in denen die Helferinnen und Helfer Schläuche verlegen, in denen das Wasser aufwendig nach oben gepumpt wird. »Der intubierte Wald«, nannte das der Kollege Josa Mania-Schlegel von der »Leipziger Volkszeitung«. Die acht geliehenen Löschhubschrauber, die bislang im Einsatz sind, kommen gegen die Flammen nicht an – auch wenn sie das Wasser immer wieder neu aus der Elbe schöpfen können. 400 Kräfte sind rund um die Uhr im Einsatz, laut Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) »über die Erschöpfungsgrenze hinaus«. Eine solche Lage habe es zuvor noch nicht gegeben.
Meine Kollegin Sara Wess berichtet aus der Gegend , dass immer mehr Schaulustige kommen, die sich nicht an das Verbot halten, die Wälder zu betreten. »Klar, da kann man jetzt tolle Fotos vom Feuer machen«, zitiert Sara den Helfer Kai Ritter-Kittelmann. »Aber wenn es da anfängt zu brennen, weil jemand zum Beispiel einen Kippenstummel hinwirft, haben wir Feuer auf beiden Seiten der Elbe.«
Kritik gab es nicht nur an den Katastrophentouristen, sondern auch am sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU). Von ihm war in den ersten Tagen nichts zu hören, obwohl die Brände die schwersten sind, die Sachsen je erlebt hat. Stattdessen war er mit Interviews zur Lage der Ukraine und Russlands beschäftigt. Erst gestern ließ sich Kretschmer nach massivem Druck zu einem Tweet hinreißen: »Tag & Nacht arbeiten haupt- & ehrenamtliche Einsatzkräfte, um die #Waldbrände im Nationalpark #SächsischeSchweiz & #Nordsachsen zu löschen. Unter schwierigen Bedingungen kämpfen sie gegen die Flammen. Dafür meinen tiefsten Dank & Respekt!«
Vielleicht sollte sich der Ministerpräsident aktuell weniger darum kümmern, dass Russlands Angriffskrieg »eingefroren« wird, sondern mehr darum, dass die Brände im eigenen Bundesland besser unter Kontrolle gebracht werden können. Bis heute verfügt Sachsen über keinen einzigen Löschhubschrauber.
Lesen Sie hier mehr:
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Lage in Sachsen und Brandenburg: Einsatzkräfte bei Waldbränden »über der Erschöpfungsgrenze«
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Waldbrände in Sachsen: Nur Regen könnte den Feuer-Kämpfern helfen
3. Deutschland im Finale der Fußball-Europameisterschaft
Gestern war ich mit meiner Familie auf dem Hamburger Dom, dem Hamburger Rummel, der dreimal im Jahr stattfindet. Wir fuhren Kettenkarussell und aßen gebrannte Mandeln und schlenderten an den bunten Buden vorbei. Schließlich kamen wir zum »Hau-den-Lukas«-Stand. Auf der Skala waren die Kilogramm angegeben, mit denen man auf den gefederten Knopf hauen musste, um den im Rohr befindlichen Metallkörper nach oben zu katapultieren. Bei 500 Kilo und ganz oben war man der »Champion«, bei 400 Kilo ein »Casanova«, bei nur 200 Kilo ein »Schlappschwanz«, darunter hing das Schild »Damenmaß«. Damenmaß, was für eine Anmaßung, dachte ich. Im selben Moment ploppte auf meinem Handy die Eilmeldung auf »Popp schießt Deutschland ins EM-Finale«.
Gemeint war Alexandra Popp, die die Frauen-Fußballnationalmannschaft mit ihren zwei Toren gegen Frankreich ins Finale im Londoner Wembley-Stadion katapultierte, wo sie nun gegen die Gastgeberinnen um den Titel kämpfen. Ich finde es übrigens sehr charmant, dass in Push-Meldungen inzwischen nicht mehr explizit erwähnt wird, dass es sich bei dem Erfolg um die Nationalmannschaft der Frauen handelt (wenn Männer spielen, schreiben wir ja auch nicht: Die Männer-Nationalmannschaft steht im Finale).
Auch wenn Ihnen die Hau-den-Lukas-Annekdote sehr weit hergeholt kommt: Kann es sein, dass die DFB-Frauen derzeit im Sport gerade sehr viel erfolgreicher sind? Die Männer standen zuletzt vor 14 Jahren im Finale einer Fußball-Europameisterschaft. Auch das Vorurteil, Frauenfußball interessiere niemanden, ist widerlegt. Die Fußballerinnen haben dem ZDF eine Traumquote beschert: Fast 12 Millionen Menschen sahen den Kick, der Marktanteil beim Halbfinalsieg gegen Frankreich betrug fast 50 Prozent.
Der Typ übrigens, der gestern vor dem Gegröhle seiner Kumpels den Lukas haute, kam auf gerade mal 200 Kilo. Geknickt suchte er schnell das Weite. Männermaß. Etwa zeitgleich sagte Popp in die Kameras im Stadion in Milton Keynes: »Kein Schwein hat uns das zugetraut.«
Lesen und schauen Sie hier mehr:
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Deutschlands Halbfinal-Heldin Alexandra Popp: Ihr Wille geschehe
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Deutschland im EM-Finale: »Wir spielen in Wembley, vor 90.000 Menschen«
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Inflationsrate sinkt im Juli erneut leicht: Die Teuerung der zuletzt stark gestiegenen Verbraucherpreise hat sich nun den zweiten Monat in Folge abgeschwächt. Für Lebensmittel müssen die Menschen in Deutschland aber erneut deutlich mehr bezahlen
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Lindners Steuerpläne könnten Topverdienern besonders viel einbringen: Die kalte Progression kann eine Gehaltserhöhung durch steigende Steuern auffressen. Finanzminister Lindner sucht Abhilfe – eine Modellrechnung zeigt, wer wohl besonders stark entlastet würde.
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Gaskunden müssen ab Herbst Extra-Umlage zahlen: Um Uniper und Co. zu retten, sollen ab Oktober alle Endkunden eine Umlage zahlen. Der DIW-Präsident erwartet eine Verdreifachung der Heizkosten, Verbraucherschützer fordern weitere Entlastungen.
Meine Lieblingsgeschichte heute:
Hobby-Philosoph Exler: »Ich lass jeden Morgen die Sau raus, Bauer Fritz, 48.«
Foto: Christian Protte
Sie haben sicher auch schon mal im Internet nach Sinnsprüchen gesucht: Ein geflügeltes Wort zum 65. Geburtstag der Tante, der berühmte Churchill-Spruch für die Hausarbeit, ein denkwürdiger Schiller-Satz für die Trauerkarte des Opas. Auf Zitate.de wird man in solchen Fällen immer fündig. Auch mein Kollege Malte Müller-Michaelis suchte nach einem geeigneten Zitat für die Einleitung einer Präsentation. Er stieß auf: »Das Ziel bestimmt die Strategie« von Georg-Wilhelm Exler.
Georg-Wilhelm Exler, das klingt nach Militärplaner im 30-Jährigen Krieg, nach Philosoph aus dem 18. Jahrhundert, nach renommiertem Ökonom, nach Gelehrtem aus dem Hochschulumfeld – jedenfalls klingt es so bedeutungsschwer, dass man ihn und seine Zitate umstandslos für wichtige Auftritte und Papiere nutzen würde. Malte aber wurde stutzig und wollte wissen, wer dieser Exler eigentlich war.
Meine Kollegin Heike Klovert hat es herausgefunden. Exler lebt! Und zwar in Rheine in Nordrhein-Westfalen, er ist Sprecher eines Automobilzulieferers in Lüdenscheid. Mehr als 1500 Sinnsprüche hat der Mann binnen sieben Jahren ins Netz hochgeladen, von ihm sind sechsmal so viele Aphorismen zu finden wie von Johann Wolfgang von Goethe. Heike hat Exler besucht und einen liebenswürdigen Grübler getroffen. Auf ihn trifft wohl am ehesten der Spruch zu, den man auch im Netz finden kann: »Auch ein niemand ist ein jemand.« Urheber: Georg-Wilhelm Exler.
PS: Sein Zitat »Das Ziel bestimmt die Strategie« hat es übrigens trotzdem in Maltes Präsentation geschafft.
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Lesen Sie hier die ganze Geschichte: »Nimm dich nicht wichtig, sei es« – Wieso haben Sie 1537 Sinnsprüche ins Netz gestellt, Herr Exler?
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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»Wir bluffen nicht«: Fluggästen droht noch mehr Stress: Die gut bezahlten Lufthansa-Piloten stimmen über einen Streik ab. Gewerkschaftsfunktionär Marcel Gröls erklärt die Beweggründe – und fordert von Konzernchef Spohr besseres Benehmen .
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Vertuscht, verschleiert, belogen: Das EU-Antibetrugsamt weist nach, dass Frontex die griechischen Pushbacks finanzierte. Der geheime Bericht liegt dem SPIEGEL vor. Er ist so brisant, dass nun auch die EU-Kommission in Bedrängnis gerät .
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Wie Influencer Beziehungen inszenieren: Vor rund zwei Monaten trennten sich Julian und Bibi Claßen, das deutsche Influencer-Vorzeigepaar – jetzt hat er offenbar eine Neue. Wie Claßen die Anbahnung der Liebelei auf Instagram in Szene setzt, ist großes Kino .
Was heute weniger wichtig ist
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Letzte Runde: Ich habe noch die Sendung »Wetten, dass..?« im Gedächtnis, als 2008 der junge Sebastian Vettel seinem Idol Michael Schumacher seinen Tribut zollte und über die Coolness eines Kimi Räikkönen staunte. Von WM-Titeln in der Formel 1 war damals noch keine Rede, der junge Mann hatte gerade mal seine erste Saison hinter sich. Jetzt, 14 Jahre und vier Weltmeistertitel später, gab der Sportler bekannt, dass er seine Rennfahrerkarriere beenden will. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich finde diesen ganzen Sport anachronistisch, irgendwie aus der Zeit gefallen. Lärm, Gestank, Klimasünde: Zu wenigen Sportarten fallen mir mehr negative Assoziationen ein als zur Formel 1. Auch Vettel ist das offenbar bewusst, zuletzt hatte er immer wieder mit seinem Umwelt-Engagement auf sich aufmerksam gemacht. Meinetwegen kann die Formel 1 als Ganzes ihr Karriereende bekannt geben.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Zuletzt wurde im Frühjahr ein umfangreiches Entlastungspaket geschnürt, mit Tankrababatt und 9-Euro-Ticket.«
Cartoon des Tages: Spartipp 790
Illustration: Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
»Wenn ich einmal sollt scheiden, so scheide nicht von mir…« Auch dieses Zitat habe ich im Netz gefunden, es stammt von dem Komponisten Johann Sebastian Bach, der heute vor 272 Jahren gestorben ist. Für viele gilt Bach als der größte Schöpfer klassischer Musik überhaupt. Für Jazz-Liebhaber aber gilt er auch als der erste Jazzer überhaupt. Seine Kantaten swingen, seine Fugen klingen häufig im besten Sinne improvisiert, seine Choräle gleiten elegisch dahin.
Und seine Nachkommen nahmen sich seinen Wunsch zu Herzen und vergaßen ihn nicht. Zahlreiche Jazzpianisten haben Bach auf ihre Weise interpretiert: Oscar Peterson widmete ihm sein »Salute to Bach« , Jacques Loussier baute seine ganze Karriere darauf auf, Bach zu verjazzen . Und der Jazzpianist Brad Mehldau brachte vor vier Jahren sein Album »After Bach« heraus und führte es in den Philharmonien dieser Welt auf. (Sehen Sie hier Teil eins eines Mitschnitts aus der Philharmonie de Paris von 2018). Ich empfehle Ihnen also heute – an Bachs Todestag – der Musik des Genies zu lauschen, wie sie von seinen Kollegen im 20. und 21. Jahrhundert gedeutet und gefeiert wird.
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Ihr Janko Tietz
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