: Russland-Ukraine-Krieg, Wladimir Putin, deutsche Panzer-Lieferungen, Annalena Baerbock //
Tunnelblick in der Krise
>>Siehste, siehste, das haste davon. Krise, Krise hast du bekommen. Duster, duster ist alles geworden<<, sangen die Fantastischen Vier schon vor vier Jahren. Da war Corona noch eine Biermarke und Wladimir Putin Energiepartner.
Die Musiker empfahlen damals, dem Arger einfach zu entfliehen und >>in den Underground<>Ja wir graben uns ein, komm mit nach unten, hier oben kann man nicht bleiben.<< Kopf in den Sand – gilt das nun umso mehr? Pandemie und Putin, Inflation und Energieknappheit, jede einzelne dieser Krisen hatte unsere volle Aufmerksamkeit verdient.
Wird das nicht alles zu viel? Fuhlt sich jedenfalls so an, die Sehnsucht nach Ferien von der Krise ist da. Das Eingraben mag allerdings nur zwischenzeitliche Erholung bringen. Symptomatische Behandlung. Sie lindert den Schmerz, beseitigt aber nicht das Problem.
And now? Mein Nachbar ubrigens ist Arzt und Optimist – und ich halte das fur eine sehr schone und auch uberaus sinnvolle Kombination.
Offenbar habe ich zuletzt einmal zu viel die Haufung von Krisen beklagt, jedenfalls brachte er mir eines Abends ein Buch des jungen niederlandischen Historikers Rutger Bregman vorbei, >>Im Grunde gut<< heisst es. Es stand schon auf der Bestsellerliste, aber aus unerfindlichen Grunden ist das an mir vorbeigegangen. Vielleicht zu viel Krisenkram im Kopf gehabt.
Bregman jedenfalls will aufraumen mit der (westlichen) Theorie, dass der Mensch grundsatzlich bose und der zivilisatorische Lack sehr dunn sei. Stattdessen habe die Evolution den Menschen zu einem kooperativen Wesen gemacht, fahig zu Solidaritat und Mitgefuhl.
Sind wir vielleicht hilfsbereiter als gedacht und auch resilienter?
Vielleicht mussen wir uns gar nicht vergraben. Vielleicht leben wir doch hier an der Oberflache in einer Gesellschaft, in der die Starkeren bereit sind, ihren gerechten Anteil zu tragen und nicht als Krisengewinnler vom Platz gehen. In der wir gemeinsam gegen eine Pandemie kampfen und gemeinsam einem uberfallenen Volk helfen. War’ doch schon. Dann gibt’s auch irgendwann wieder Ferien von der Krise.
Na, Sie merken schon, die Lekture wirkt.
Aber leider mussen wir jetzt doch wieder umschalten zu den Bosewichtern der Geschichte.
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Steinmeier uber die Kriegsfolgen >>Sind wir dazu bereit, empfindliche Nachteile in Kauf zu nehmen?<<
Russische Lugen
Fur heftige Debatten sorgt gerade ein im SPIEGEL veroffentlichter Beitrag von Hartmut Rosa . Der Soziologe wirft der Bundesregierung vor, ihre Politik diene dazu, >>nicht uber einen Waffenstillstand in der Ukraine reden zu mussen, uber Verhandlungen nicht einmal nachzudenken, und den Krieg fortzusetzen<<.
Rosas Gegenvorschlag: Russland darf die Krim und den Donbass behalten, die Restukraine wird dafur in EU und Nato aufgenommen.
Der Soziologe am Reissbrett der Geschichte. Abgesehen davon, dass ich es ein wenig schrag finde, Baerbock und Co. Kriegstreiberei zu unterstellen, nachdem ein Autokrat mit imperialem Drang nach Westen einen souveranen europaischen Staat uberfiel, hat Rosas Grossstrategie einen Haken: Mit Putin ist gegenwartig wohl kaum zu verhandeln.
Erstens, weil er ganz offensichtlich kein Interesse daran hat, solange er glaubt, sein eigentliches Ziel noch erreichen zu konnen: die Ausloschung der Ukraine als eigenstandiger Staat sowie in der Folge die Destabilisierung des Westens.
Und zweitens, weil es nahezu unmoglich ist, mit einem Lugner und Kriegsverbrecher zu verhandeln. Siehe jungst den Getreidedeal. Keine 24 Stunden nach der Einigung, unter anderem den Hafen von Odessa nicht zu beschiessen, beschossen Putins Schergen den Hafen von Odessa mit Raketen.
Was ist das Wort eines Mannes wert, der in einer idealen Welt langst in Den Haag in Untersuchungshaft sitzen musste?
Was tun? Ich bin weder Soziologe noch Grossstratege, ich weiss das nicht. Aber mir erscheint das Argument einleuchtend, dass Putin militarisch in die Bredouille geraten muss, damit er an den Verhandlungstisch gezwungen werden kann. Deshalb sind die Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine so wichtig. Sie verlangern nicht den Krieg, sondern sie konnten ihn verkurzen.
Mehr Nachrichten und Hintergrunde zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:
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EU-Staaten einigen sich offenbar auf Gas-Notfallplan: Moskau setzt seine Gas-Reserven gezielt als Druckmittel ein. Nun will die EU mit einem Notfallplan dagegenhalten. Am Dienstag soll er laut Diplomaten verkundet werden – fur zahlreiche Staaten gibt es Ausnahmen.
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>>Wir sind in einer ernsten Situation. Es wird auch Zeit, dass das alle verstehen<>perfiden Spiel<< Putins, der ukrainische Prasident von einem >>offenen Gas-Krieg<<.
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Das steckt hinter Putins nachstem Turbinen-Trick: Es steht gar keine Wartung an – doch Gazprom nimmt eine weitere Pipeline-Turbine ausser Betrieb. Die Lieferungen uber Nord Stream durften auf einen Bruchteil der Kapazitat fallen. Was der Kreml damit bezweckt.
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Deshalb hilft uns der >>Streckbetrieb<< der AKW nicht wirklich weiter: Angesichts der drohenden Energiekrise ringt die Koalition um langere Laufzeiten fur Deutschlands Atommeiler. Auch die Grunen waren wohl zu einem Kompromiss bereit. Doch der lost das Problem nicht.
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Prasident Selenskyj wechselt Befehlshaber in der Ostukraine aus: Seit August 2020 fuhrte der ukrainische Generalmajor Hryhorij Halahan die >>Spezialoperation<< in den Gebieten Donezk und Luhansk. Nun wurde er entlassen – und in den Geheimdienst versetzt.
Deutsche Lieferungen
Annalena Baerbock reist heute nach Tschechien und dann weiter in die Slowakei. Man braucht nicht viel Fantasie, um zu wissen, welche Kritik die Ministerin in Prag und Bratislava horen wird: Entschuldigung, wo sind eigentlich die deutschen Panzer?
Denn im Zuge des sogenannten Ringtauschs sollen die osteuropaischen Nato-Staaten Kampf-Panzer sowjetischer Bauart an die Ukraine liefern, wahrend die Deutschen diesen Partnern im Gegenzug die Depots mit westlichen Panzern, also vor allem >>Leoparden<<, auffullen.
Hort sich gut an, die Osteuropaer haben Hunderte Panzer an die Ukraine geliefert. Und wie viel haben die Deutschen an die Osteuropaer geschickt? Null.
Nun halte ich die deutschen Argumente fur durchaus nachvollziehbar. Erstens, dass im Bundeswehrbestand insgesamt zu wenige Kampf-Panzer sind. Zweitens, dass es ein paar Monate dauert, bis wiederum die Industrie die ersten Panzer liefern kann.
Aber peinlich ist die ganze Nummer doch. Deutschland erscheint nicht nur als Bremser bei Waffenlieferungen an die Ukraine, sondern auch als unsicherer Kantonist, wenn es um Absprachen innerhalb der Nato geht. Auf Twitter schreibt manch einer schon unter dem Hashtag #Ringtausch.
Moglicherweise geht der Trend jetzt doch in Richtung Direktlieferung westlicher Waffensysteme an die Ukraine. Von FDP und Grunen kamen solche Signale, auch in der SPD gibt es erste, vorsichtige Stimmen, die sich so deuten lassen.
Mein Kollege Kevin Hagen hat mit Michael Roth gesprochen, dem Vorsitzende des Auswartigen Ausschusses im Bundestag. Der SPD-Mann sagt: >>Ziel des Ringtauschs war es vor allem, die Ukraine kurzfristig mit Waffen zu unterstutzen, die dortige Soldaten ohne Training bedienen konnen, doch das hat bislang nicht richtig funktioniert.<<
Nun sei man >>in einer neuen Phase des Krieges<<. Die bisherigen Lieferungen westlicher Waffen moderner Bauart hatten laut Roth einen echten Unterschied gemacht, sie wurden der Ukraine in ihrem Verteidigungskampf gegen die Invasoren spurbar helfen. >>Das mussen wir jetzt entschlossen fortsetzen, auch mit dem Ziel, besetztes ukrainisches Staatsgebiet von russischer Terrorherrschaft zu befreien.<<
Und: Zumindest die ersten drei der versprochenen >>Gepard<<-Luftabwehrpanzer sind zu Wochenbeginn in der Ukraine eingetroffen.
Hier geht’s zum aktuellen Tagesquiz
Startfrage heute: >>Be there! Will be wild! – Wer tweette am 19. Dezember 2020 diesen Satz?
Gewinner des Tages…
… ist Radim Brixi. Der Tscheche hatte zwei Wochen frei und setzte sich spontan in sein Aluboot mit 5-PS-Aussenborder, fuhr die Elbe von Prag bis nach Brunsbuttel hinunter. Ein echtes Abenteuer, wie er meiner Kollegin Heike Klovert im Interview berichtet .
Brixi ubrigens hat auf seiner Reise ganz im Sinne meines Nachbarn die Erfahrung gemacht, dass die Menschen im Grunde gut sind: >>Ich habe schon so viele hilfsbereite und nette Menschen getroffen. Ein Mann hat mich zum Beispiel zu seinem Familienfest eingeladen, wir haben Kirschkern-Weitspucken und Tischtennis gespielt, und ich durfte in seinem Garten zelten.<<
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Ich wunsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Sebastian Fischer