Allgäu – Berlin – Allgäu
Einmal, ein einziges Mal, habe ich einen Urlaub abgebrochen. Im März 2011 war das, ich war auf Mallorca (zum Radfahren, nicht zum Kegeln), und in Fukushima kam es zum Reaktorunglück. Ich arbeitete damals schon beim SPIEGEL und war so leichtsinnig, meinen Chef zu fragen, ob ich angesichts der offensichtlich historischen Dimension womöglich zurückkommen solle. Er sagte, das überlasse er mir, allerdings in einer Art und Weise, die wenig Zweifel ließ, was er für die richtige Entscheidung hielt. Ich buchte also einen vorzeitigen Rückflug, um an einem großen Artikel über die innenpolitischen Folgen von Fukushima mitzuarbeiten. Ich glaube, am Ende landeten ganze zwei Absätze von mir in dem Artikel. Man sollte sich nie für unverzichtbar halten.
Zumindest als Journalist nicht. Bei Kanzlern ist das anders. Kanzler, auch Kanzlerinnen, sind nicht wirklich verzichtbar, erst recht nicht in Zeiten wie diesen. Gestern schrieb ich an dieser Stelle noch über Olaf Scholz, seinen Urlaub und meine Überzeugung, dass er die Dienstgeschäfte sowieso mit ins Allgäu genommen habe. Gestern Mittag war er schon wieder in Berlin, um die Rettung des Energiekonzerns Uniper zu verkünden und den Bürgerinnen und Bürgern Entlastungen in Aussicht zu stellen. Danach ging es zurück ins Allgäu. Als ich nachmittags zu einem anderen Termin (dazu später) ins Kanzleramt kam, war der Kanzler schon wieder weg.
Olaf Scholz bei seiner Urlaubsunterbrechung: Nur noch kurz die Welt retten
Foto: CLEMENS BILAN / EPA
Es sind historische Zeiten, und was Scholz zu verkünden hatte, ist in seiner Bedeutung für die kommenden Monate kaum zu überschätzen.
Trotzdem werde ich den ganz leisen Verdacht nicht los, dass sein Berlin-Ausflug auch etwas mit dem Vizekanzler zu tun gehabt haben könnte. Der heißt bekanntermaßen Robert Habeck und ist in der Lage, selbst Banalitäten so auszusprechen, dass halb Instagram weiche Knie bekommt und seine Partei, früher mal rebellisch veranlagt, mittlerweile seit Jahren brav tut, was er sagt. Nicht auszudenken, was Habeck aus einer Entscheidung wie der Uniper-Rettung und den flankierenden Entlastungen gemacht hätte, wenn er sie hätte verkünden dürfen. Irgendwas mit Blut, Schweiß und Tränen, aber in Grün. Und sehr nachdenklich.
Übrigens war ich damals, 2011, gar nicht so fürchterlich böse über meine Rückreise. Erstens gab es in Berlin eine Frau, die ich gern wiedersehen wollte, zweitens war ich mit einer Gruppe unterwegs, die deutlich schneller Rad fahren konnte als ich, beides machte die Sache etwas anstrengend. Bei Scholz ist das anders, er ist bei guter Kondition, und seine Frau ist mit ihm im Allgäu. Es sei ihm gegönnt. Jetzt aber wirklich.
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Immer wieder sonntags
Ich muss etwas bekennen, ich bin nicht stolz darauf, eigentlich schäme ich mich sogar. Ich habe mir in meinem ganzen Leben erst ein einziges Sommerinterview komplett angesehen, also eines dieser Gespräche mit Politikerinnen und Politikern, die in der ARD oder im ZDF zu sehen sind, wenn es draußen schön ist. Wäre ich Lehrer oder Krankenpfleger oder Verhaltensforscher, müsste ich mich dafür nicht schämen. Ich bin aber Hauptstadtjournalist geworden, es gehört also zu meinen beruflichen Pflichten, mir Sommerinterviews anzusehen. Schließlich kann es immer sein, dass die Protagonisten doch mal was Interessantes sagen, außerdem lernt man sie ein wenig besser kennen. Und man kann montags in der Konferenz einstreuen, dass X oder Y im Sommerinterview Z gesagt habe. Das kommt immer gut an.
Aber etwas in mir sperrt sich, und ich glaube, es liegt am Sonntag. Am frühen Sonntagabend erfasst mich meist eine leichte Melancholie, weil das Wochenende fast vorbei ist und die neue Woche bald beginnt, deshalb ist das letzte Drittel des Sonntags keine Zeit, in der ich mich gern mit Politik beschäftige. Mal abgesehen davon, dass es an Sommerabenden meistens sowieso viel zu schön draußen ist, um drinnen zu sitzen und fernzusehen. Natürlich könnte ich die Sommerinterviews einfach montags in der Mediathek ansehen, aber dann haben die Kollegen in der Konferenz meist schon so viel über das Interview erzählt, dass ich das Gefühl habe, ich hätte es selbst gesehen. Das einzige Sommerinterview, das ich je in voller Länge gesehen habe, war übrigens mit Sigmar Gabriel. Ich schrieb damals an einem Buch über ihn.
Hier mal nicht in grün: Friedrich Merz
Foto: SASCHA STEINBACH / EPA
An diesem Sonntag ist im ZDF das Sommerinterview mit Friedrich Merz zu sehen, dem CDU-Vorsitzenden. Daran finde ich unter anderem die Frage interessant, was Merz wohl anziehen wird. Das kann man für sehr unpolitisch halten, ist es aber nicht. Vor zwei Jahren habe ich gemeinsam mit meinem Kollegen Veit Medick ein Interview mit Merz geführt (womit es letztlich auch ein Sommerinterview war, es erschien Ende Juni), in dem er plötzlich von ökologischer Erneuerung sprach, von Schwarz-Grün – und er hatte sich, wirklich wahr, für dieses Interview grün angezogen, mit grünem Sakko und grüner Krawatte. Ob die Hose auch grün war, weiß ich nicht mehr. Es war jedenfalls nicht sehr subtil.
Kollege Medick und ich bekommen immer noch gute Laune, wenn wir daran zurückdenken, und das sollte ja reichen, um die Sonntagsmelancholie zu überdecken. Ich werde also morgen das ZDF einschalten und mir das Interview ansehen. Wenn nicht, dann wirklich allerspätestens Montagmorgen. Vor der Konferenz.
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Friedrich Merz über die Zukunft der CDU: »Schwarz-Grün sitzt längst am Frühstückstisch«
Kickboxen und Kanupolo
Ich habe diese Woche an dieser Stelle schon mal über Kurt Beck geschrieben und möchte das jetzt noch einmal tun. Kurt Beck war recht lang Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und nicht ganz so lang SPD-Vorsitzender, außerdem erzählte er gern Saarländerwitze (und tut das vermutlich immer noch gern). Ich konnte mir, wie bei allen Witzen, keinen davon merken, ich weiß nur noch, dass es bei einem um Schweine im Weltall ging und die Saarländer am Ende wieder die Doofen waren. Was ich mir gemerkt habe: dass Saarländer und Rheinland-Pfälzer sich gegenseitig nicht so toll finden. Oder zumindest gern so tun.
Noch hat sie nicht gewonnen: Anke Rehlinger
Foto: RONALD WITTEK / EPA
Ich erzähle das, weil ich den Nachrichtenagenturen entnommen habe, dass sich heute die Saarländerin Anke Rehlinger und der Pfälzer Alexander Schweitzer, beide in der SPD, zu einem, wie es heißt, »sportlichen Duell« treffen.
Rehlinger sollte man mittlerweile kennen, sie ist seit drei Monaten Ministerpräsidentin des Saarlandes. Schweitzer kennt man eher nicht, er ist in Rheinland-Pfalz Minister für Arbeit und noch ein paar andere Sachen (wäre aber, glaube ich, auch ganz gern Ministerpräsident). Die beiden wollen offenbar im Basketball und im Diskuswerfen gegeneinander antreten, was ich als Konzept nicht ganz verstehe, weil Schweitzer über zwei Meter groß ist und früher Basketball gespielt hat, während Rehlinger noch immer den saarländischen Jugendrekord im Diskuswurf hält. Interessanter hätte es werden können, wenn die beiden sich eine Sportart überlegt hätten, in der sie beide gleich schlecht sind. So halte ich den Ausgang für etwas vorhersehbar.
Andererseits hätte es was, wenn solche Wettkämpfe künftig auch in Berlin ausgetragen würden. Merz gegen Söder, rhythmische Sportgymnastik. Habeck gegen Baerbock, Kanupolo. Lindner gegen Kubicki, Kickboxen. Albern, ich weiß. Aber man darf ja kurz mal träumen.
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Neu gewählte Ministerpräsidentin: Frau Rehlinger, braucht man das Saarland noch?
Winter der Wut?
Was ist eigentlich aus den Protesten gegen die Coronamaßnahmen geworden, aus den sogenannten Querdenkern? Ehrlich gesagt, habe ich mir die Frage längere Zeit nicht so richtig gestellt. Ich war, glaube ich, einfach beruhigt, dass diese unangenehme Begleiterscheinung der Pandemie aus meinem Blickfeld verschwunden war. Naiv von mir, das weiß ich jetzt.
Ich habe das aus einem Artikel gelernt, in dem ein Team aus mehreren Kolleginnen und Kollegen aufzeigt, dass die »Querdenker« ganz und gar nicht verschwunden sind, sondern jetzt, da es kaum noch Einschränkungen wegen der Pandemie gibt, einfach über andere Themen als Corona reden respektive brüllen. »Die Protestkarawane, eine diffuse Mischung aus Coronaleugnern, Verschwörungsanhängerinnen, Reichsbürgern, Rechtsextremen und Politikentfremdeten, zieht einfach weiter – und hat ihr neues Thema gefunden: die Gaskrise und die explodierenden Preise in Deutschland«, schreiben meine Kolleginnen und Kollegen.
Damals noch gegen Coronamaßnahmen: Demonstration in Halle (Saale) im Januar
Foto: Steffen Schellhorn / IMAGO
Mich hat der Artikel beunruhigt. Niemand weiß, wie lang der Krieg noch dauert, welche Einschränkungen auf die Bürgerinnen und Bürger zukommen. Es wird, so viel steht fest, Härten geben, es wird Angst entstehen, Menschen werden wütend sein. Und es wird diejenigen geben, die sich Angst und Wut zunutze machen wollen. Sollten im Winter Wohnungen kalt bleiben und die Preise weiter steigen, könnten sie ihre Stunde gekommen sehen. Meine Kolleginnen und Kollegen haben erschreckend konkrete Belege dafür gesammelt, dass manche in der Szene vom großen Umsturz träumen.
Was tun? Wachsam bleiben. Und den Artikel lesen. Auch, wenn er die Wochenendstimmung etwas eintrübt.
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Energiekrise und Inflation statt Corona: Wie Rechtsextremisten ihre Anhänger für einen deutschen Wutwinter mobilisieren
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Die Startfrage heute: 2009 musste der in New York gestartete US-Airways-Flug 1549 notlanden. Wo brachte der Kapitän die Maschine runter?
Gewinner des Tages…
…ist die Regenbogenfahne. Heute wird sie zum ersten Mal vor dem Kanzleramt gehisst, auch am Bundestag soll sie wehen. Anlass ist der Christopher Street Day, der in Berlin erstmals seit Beginn der Pandemie wieder ohne Einschränkungen stattfindet, eine halbe Million Menschen werden erwartet.
Heute erstmals vor dem Kanzleramt: die Regenbogenfahne
Foto: Wolfgang Kumm / dpa
Das wird eine große Party und zugleich eine Demonstration mit sehr ernstem Anliegen, es geht um die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender, Intersexuellen. Die Flagge vor der Regierungszentrale wird von Wolfgang Schmidt gehisst, dem Chef des Kanzleramts. Gestern erwähnte ich in der »Lage«, dass ich am Nachmittag mit ihm verabredet sei. Das Gespräch war dann ganz angenehm – Schmidt war, nach dem Auftritt von Olaf Scholz am Mittag, ziemlich zufrieden und entspannt. Am Ende zeigte er mir den Flaggenmast, an dem er heute die Regenbogenfahne hochziehen wird. Er freute sich darauf.
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Zum Christopher Street Day: Bundestag hisst die Regenbogenfahne
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Christoph Hickmann