Sprechchöre im Hamburger Rathaus, vom Rang herunter und aus allen Fraktionen der Bürgerschaft?
Ein ziemlich unerhörter Vorgang, aber einhellig war die Zustimmung und ganz und gar angebracht der Chorus, als »Uns´ Uwe« 2003 die Ehrenbürgerwürde der Freien und Hansestadt Hamburg verliehen wurde.
Sein Ruhm – nein, besser und wichtiger: seine beinah grenzenlose Beliebtheit – wird auch den 21. Juli 2022 überdauern. An diesem Tag ist Uwe Seeler mit 85 gestorben .
Großartige Sportsleute hat Hamburg hervorgebracht, oder, wenn es »Quiddjes« waren von anderswoher, sie adoptiert.
Sie gewannen Gold bei Olympischen Spielen und Weltmeistertitel oder sie machten das, was die Voraussetzung all dessen ist: ehrenamtliche Arbeit in den Vereinen, sich kümmern um den Nachwuchs, um die Schiedsrichter, um die Fans und darum, dass die Bälle auch für die Kleinsten aufgepumpt werden.
Talent und Trainingsfleiß
Uwe Seeler hat beide Seiten des Sports in seiner Stadt Hamburg miteinander verklammert: das Selbstbewusste und das Bescheidene, den Glanz und den Kreidestaub, die Bewunderung für einen Star und die Erkenntnis: Eigentlich ist das doch einer wie wir – nur eben ein bisschen erfolgreicher. Na gut, viel erfolgreicher. Aber kein bisschen weniger freundlich, sondern gelassen und ansprechbar. Erfolgreich übrigens durch beides: Talent und, erst recht, Trainingsfleiß.
Uwe Seeler und Olaf Scholz 2011 bei der 25. Verleihung des Uwe-Seeler-Preises für Kinder- und Jugendarbeit im Fußballsport
Foto: Eventpress / IMAGO
Selbstbewusstsein bewies er nicht nur auf dem Platz, sondern auch im schon erwähnten Rathaus: Ein nach Uwe Seeler benannter Preis für gute Nachwuchsarbeit wurde verliehen, und der Namensgeber hielt eine Rede. Ohne Manuskript, weitgehend improvisiert, voller Anekdoten, nicht ohne Kritik an unguten Entwicklungen, und es funktionierte.
Die Anwesenden hingen, wie es so schön heißt, an seinen Lippen, und das mit Sicherheit nicht nur, weil sie um seine Rekordmarken wussten. Von denen einige im und für seinen HSV noch gelten: 137 Tore allein in der Bundesliga, davon die ersten 30 gleich im ersten Jahr. Weit über 400 Meisterschafts-, Pokal- und Europacup-Tore waren es insgesamt. Alle drei gelangen ihm 1963 beim Pokalsieg, 3:0 gegen Borussia Dortmund, den »Angstgegner«.
Weltmeister war er nicht, »nur« Zweiter, aber was für einer: Das Foto eines abgekämpften Uwe Seeler vor der uniformierten Musikkapelle 1966 in Wembley wurde eines der ikonischen Bilder der Sportgeschichte, und es wird sich auch der Queen eingeprägt haben.
Gemütlich scheinende Oberligazeit
Verklammert hat dieser Hamburger auch die verschiedenen Zeiten des Fußballs in Deutschland: die halbprofessionelle, aus heutiger Sicht irgendwie gemütlich scheinende Oberligazeit – meine Geburtsstadt Osnabrück war dabei –, in der einem wie ihm aber heftig genug die »Knochen poliert« wurden, mit der Kommerzialisierung, die ab 1963 in der Bundesliga langsam, aber heftig zunahm.
Scholz und Seeler am 28. November 2011 bei einem Senatsfrühstück zum 80. Geburtstag des Fußballidols
Foto: WITTERS
Wobei es eines schon viel länger gibt: Medien, die Legenden lieben. Mit elf Hamburgern, so heißt es, habe der HSV 1960 die Deutsche Meisterschaft des DFB gewonnen, 3:2 »in der Gluthitze des Frankfurter Waldstadions« gegen den 1. FC Köln mit dessen Weltmeistern Hans Schäfer und Helmut Rahn.
Viele können solche Sätze noch auswendig hersagen, auch die Aufstellungen, und dass der Schiedsrichter Kandelbinder aus Regensburg mit einem Wadenkrampf zu kämpfen hatte. Aber elf Hamburger? Einer war in Berlin geboren und einer kam aus Sachsen-Anhalt, fehlte jedoch verletzt. Dennoch, die Legende lebt.
Nicht anders als die – und sie stimmt –, dass Uwe Seeler verlockende Auslandsangebote ausschlug, weil er nun mal bodenständig war und es obendrein theologischen Zuspruch gab, doch lieber im Lande zu bleiben. Gute berufliche Möglichkeiten hierzulande bot ihm zudem eine bekannte Sportartikelfirma.
HSV-Fan Scholz 2014 beim Relegationsrückspiel gegen die SpVgg Greuther mit Fürths Oberbürgermeister Thomas Jung in der Trolli Arena in Fürth
Foto: Daniel Karmann/ dpa
Als Uwe Seeler 1965, übrigens wieder in Frankfurt, einen Riss der Achillessehne erlitt, litt monatelang ganz Deutschland mit.
Ohne ihn in Schweden zu gewinnen und die Qualifikation für die Weltmeisterschaft 1966 in England zu schaffen, konnte das gehen? Man wird es nie erfahren, denn die Verletzung war rechtzeitig ausgeheilt, ein Spezialschuh des Arbeitgebers angefertigt, Uwe war auf dem Platz und Siegtorschütze.
Drohender Aufruhr am Rotherbaum
Hatte er gar keine Schwächen? Einmal, noch sehr jung, ist er vom Platz gestellt worden, da drohte rund um den Rotherbaum Aufruhr. Nicht gescheut hat er sich, und schon ist man wieder bei den Stärken, als Präsident des HSV, was ein echter Knochenjob war, Verantwortung zu übernehmen. Weiteren für die Stadt und das Land wertvollen Aufgaben hat er sich unter anderem in der Uwe-Seeler-Stiftung und als Kuratoriumsmitglied der Muskelschwundhilfe gewidmet.
Mit all dem war Uwe Seeler ein großartiger Sportler. Sport ist keine gesellschaftliche Ruhezone. Er steht, mitten im Leben, für Freundschaft und Rivalität, für ehrlichen Wettkampf und Doping, für Spontaneität und Taktik, Spaß und Kommerz.
Er ist nicht besser und nicht schlechter als wir. Aber er lässt alle nach denselben Regeln wettkämpfen, egal woher wir kommen, was wir glauben, wie wir aussehen.
Sport gibt jeder und jedem die Chance, sich durch Leistung zu beweisen und durch Teamfähigkeit sichtbaren Erfolg zu haben. Sport bringt junge Leute von der Straße und reißt alte vom Sofa. Sport integriert. Er tut es wirklich.
Vor, mit und nach Uwe Seeler haben auch sein Bruder Dieter, sein Onkel und sein Enkel beim HSV gespielt. Seinen Vater, Erwin Seeler, der ein herausragender Spieler und selbstbewusst genug war, sich im Arbeitersport wie auch bei den »Bürgerlichen« durchzusetzen, hat Uwe mit dessen Satz an seine Kinder zitiert und es selber beherzigt: »Denkt daran, ihr seid Hamburger, zuverlässig und fair.«
Zu Uwes 80. Geburtstag durfte ich die Tischrede halten. »Die Acht lacht«, so wurde er an dem Tag zitiert; kürzertreten wollte er schon, sich ganz aus der Öffentlichkeit zurückziehen bestimmt nicht. Seine letzten Lebensjahre waren kein Spaziergang mehr. Mit Lob, Kritik und Ratschlägen hat er sich in seinem Verein noch lange nicht zurückgehalten.
Uwe Seeler wird fehlen: seiner Frau Ilka, seiner Familie, Freunden, aber auch Hamburg und, man darf es sagen, unserem Land, das selbstbewusste, bescheidene Menschen braucht.