Der Pendler schlägt zurück
Wir Hauptstadtjournalisten müssen uns gelegentlich den Vorwurf anhören, wir hätten das Gefühl für das Land da draußen verloren, nähmen nicht mehr wahr, was die Menschen außerhalb von Berlin-Mitte wirklich bewege. (Besonders gern erheben diesen Vorwurf Politiker in Berlin-Mitte, aber das soll hier nichts zur Sache tun.) Ich denke oft darüber nach, ob das, zumindest zum Teil, stimmen könnte, ob vielleicht etwas dran ist. Manchmal muss ich mir eingestehen: Ein bisschen was ist womöglich dran. Gestern war es mal wieder so weit.
Da schlug Christian Lindner, der ja neulich auf Sylt geheiratet hat und offenbar auch noch Bundesfinanzminister ist, eine deutliche Erhöhung der Pendlerpauschale vor. Sofort bekam er Zuspruch aus der SPD, die Nachrichtenagenturen waren aufgeregt, eine neue Pendlerpauschalendebatte nahm Fahrt auf – und ich merkte, wie ich mich gelangweilt abwenden wollte.
Autos im Stau: Wenn es blöd läuft, sieht Pendeln auch mal so aus
Foto: Patrick Seeger / DPA
Mir ist, rein rational, absolut klar, dass dieses Thema für sehr viele Menschen da draußen ein ziemliches bedeutsames ist, dass eine Erhöhung sie entlasten würde, weil sie täglich viele Kilometer zur Arbeit zurücklegen – und ja, auch die Gegenargumente habe ich parat. Ich gebe aber zu: So richtig erreicht hat mich dieses Thema nie. Ich fahre mit dem Rad zur Arbeit, ich muss nicht über Landstraßen oder die Autobahn, sondern nur durch den Tiergarten. Die Pendlerpauschale gehört, ich bekenne es, zu meinen blinden Flecken, ich schalte innerlich weg, sobald das Thema aufkommt.
Das ist nicht gut, vor allem nicht für jemanden mit meinem Beruf, deshalb gelobe ich an dieser Stelle Besserung. Ich habe gestern gleich begonnen, das in die Tat umzusetzen und habe mich in das Thema Pendlerpauschale eingelesen. Es war sehr aufschlussreich, ich habe unter anderem festgestellt, was die gut informierten Leserinnen und Leser dieses Formats selbstverständlich längst wussten: dass die Pendlerpauschale natürlich auch für Radfahrer gilt. Ich kam mir etwas dumm vor. Und ich sollte wohl mal mit meinem Steuerberater reden.
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Mobilitätsgeld als Alternative: Die bessere Spritpreisbremse
Nur keine Panik
Ich habe in den letzten Tagen zweimal kalt geduscht, am Sonntag und am Montag. Ich habe das, anders als der Survivalexperte Wolfgang Kubicki von der FDP, nicht freiwillig getan, sondern weil meine Gastherme kaputt war. Nun kann man natürlich sagen, dass es dieser Tage Schlimmeres gibt, aber ich bin da eigen. Noch am Montag kam ein freundlicher Mensch vorbei und hat die Therme repariert.
Kann das mit der kalten Dusche im Winter wieder passieren, trotz reparierter Therme, weil das Gas nicht reicht? Das fragt sich, nimmt man die Zahl der verkauften Heizlüfter als Maßstab, offenbar das gesamte Land – und starrt kollektiv dem morgigen Donnerstag entgegen. Dann sollen die Wartungsarbeiten an der Ostseepipeline Nord Stream 1 enden. Die große Frage lautet, ob Russland danach den Gashahn wieder aufdreht. Falls nicht, könnte es im Winter eng werden.
Russlands Präsident Wladimir Putin: Dreht er den Gashahn wieder auf?
Foto: Mikhail Klimentyev / AFP
Mir ist in dem Zusammenhang aufgefallen, wie vergleichsweise gelassen darüber derzeit in diesem Land diskutiert wird. Natürlich gibt es die eine oder andere aufgeregte Überschrift, aber man muss sich vielleicht noch mal klarmachen, worum es hier geht: In einem Land, das seit Jahrzehnten im Grunde keinen Mangel mehr kennt, wird die Energie knapp, steht die Frage im Raum, ob im Winter womöglich Wohnungen kalt bleiben. Trotzdem bleibt die große Hysterie aus.
Man spricht in dem Zusammenhang von Resilienz, also Widerstandskraft, Anpassungsfähigkeit. Die Deutschen, hieß es zuletzt in der Pandemie, seien nicht besonders resilient. Ich finde, die Art und Weise, wie hier dieser Tage über den möglichen Gasmangel und seine Folgen geredet wird, belegt eher das Gegenteil. Zumindest für den Moment.
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Genosse von der traurigen Gestalt
Heute ist ein großer Tag für Hubertus Heil, den Arbeitsminister – und irgendwie auch für seine Partei, die SPD. Heil will seine Arbeitsmarkt-Reform vorstellen. Das Bürgergeld, auf das sich die Ampelparteien im Koalitionsvertrag geeinigt haben, soll das Hartz-IV-System ablösen – also jenes System, das der deutschen Sozialdemokratie eine Abspaltung, diverse Wahlniederlagen und den Ruf eingebracht hat, sich für die Schwächsten der Gesellschaft nicht mehr übermäßig zu interessieren. Nicht alles daran war gerecht oder gerechtfertigt, aber Hartz IV, daran kann es keinen Zweifel geben, war lange Zeit ein Mühlstein um den Hals der SPD.
Hartz IV war Teil von Gerhard Schröders Agenda 2010, und Heil hat seine ganz eigene Agenda-Geschichte. Er kam 1998 in den Bundestag, mit Schröders Wahlsieg, und er wurde Ende 2005 SPD-Generalsekretär – Hartz IV war noch kein Jahr in Kraft, die Genossen stritten heftig darüber. Faszinierend an Hubertus Heil (ja, wirklich, an Hubertus Heil) finde ich aber vor allem, wie schnell und wie umfassend sich der Blick auf Politikerinnen und Politiker ändern kann, wenn sie erst mal ein Amt haben.
Hubertus Heil: Manchmal geht alles sehr schnell im Leben
Foto:
Rainer Keuenhof / POOL / EPA
Nach seiner Zeit als Generalsekretär galt Heil in der SPD als eine Art Genosse von der traurigen Gestalt. Er wäre gern etwas geworden, am liebsten Minister, aber erst ging die SPD in die Opposition, dann wurden andere vorgezogen. Stattdessen durfte er 2017 noch mal kurz als Generalsekretär einspringen und in dieser Funktion den unglücklichen Wahlkampf von Martin Schulz durchleiden (den nicht er, sondern andere vorbereitet hatten). Danach galt er dann endgültig als tragische Figur, aus der wohl nichts mehr werden würde.
Heil wurde dann Arbeitsminister unter Angela Merkel, er ist es unter Olaf Scholz immer noch, und mittlerweile gehört er im Kabinettssaal gefühlt zum Inventar. Wenn ich Heil irgendwo sehe, habe ich das Gefühl, er wäre schon immer Minister gewesen. Dann kneife ich mich innerlich kurz und erinnere mich daran, wie er mir jahrelang fast leid tat, weil ich fand, dass seine Partei nicht besonders nett mit ihm umging. Manchmal geht alles sehr schnell im Leben, nach oben oder nach unten.
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Gezielte Entlastung: Arbeitsminister Heil kündigt deutliche Erhöhung der Hartz-IV-Sätze an
Zwischen Krieg und Numerus Clausus
Ich kann mich noch gut an meine ersten Tage an der Uni erinnern. Es gab zwar nette, hilfsbereite ältere Studentinnen und Studenten, die alles erklärten, bei Bedarf auch zwei- oder dreimal, und trotzdem war vieles verwirrend, bürokratisch. Allein die Nummern der Seminarräume kamen mir vor wie eine eigene wissenschaftliche Teildisziplin (ich meine mich zu erinnern, dass ein für meinen Studiengang zentraler Raum die Nummer 3.427 hatte und im Gebäude EF50 lag). Und wenn es schon mir so ging, einem deutschen Abiturienten – wie soll es dann erst jungen Menschen gehen, die aus Ländern wie Indien, Marokko oder Nigeria kommen, die bislang in der Ukraine studierten, dann aus dem Krieg hierher geflüchtet sind und nun mit Wörtern wie Immatrikulationsbescheinigung konfrontiert werden? Die nur hoffen können, dass sie hier weiter studieren dürfen, obwohl Dokumente fehlen und sie kein Deutsch können?
Uni Hamburg: Vieles verwirrend, bürokratisch
Foto: HANNO BODE / IMAGO
Der Frage geht meine Kollegin Swantje Unterberg in ihrem Artikel über internationale Studierende nach, die vorher in der Ukraine eine Hochschule besucht haben und sich jetzt an der Universität Hamburg zurechtfinden müssen – so wie Nasser, 22, und Ali, 26, aus Marokko, deren Namen geändert sind und die aus Charkiw flohen, als die Lage dort immer dramatischer wurde. »Die Brüder glauben nicht, dass sie ihr Medizinstudium fortsetzen können«, schreibt Unterberg. »Die Chancen, dafür zugelassen zu werden, sind in Deutschland ohnehin gering.« Dennoch beschreibt sie junge Menschen, die ihren Optimismus nicht verlieren. Die nach Lösungen suchen. Und hoffentlich finden werden.
Ich finde das bewundernswert. Mein eigener Frust damals, in den ersten Woche, kam mir nach der Lektüre ziemlich klein vor.
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Geflüchtete Studierende aus der Ukraine: Dr. med. Unmöglich
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Die Startfrage heute: Wie heißt der derzeitige Bundestags-Vizepräsident der AfD?
Verlierer des Tages…
… ist die Leichtathletik. Ich mag die Sportart sehr, habe sie als Jugendlicher viele Jahre betrieben, noch heute verfolge ich Meetings und Meisterschaften. Von der derzeit laufenden Leichtathletik-WM bekomme ich allerdings so gut wie nichts mit. Das liegt daran, dass sie in Eugene, Oregon, stattfindet, in den USA – weshalb die Entscheidungen dann fallen, wenn ich schlafe.
Yulimar Rojas: In ihrer Heimat Venezuela ist die Weltmeisterin im Dreisprung ein Superstar
Foto: David J. Phillip / AP
Ich vermute, so wie mir geht es einigen Menschen – dass sie die Sportart zwar mögen, aber auch nicht so fanatisch sind, dafür nachts aufzustehen. Das ist schade, weil das Interesse an der Leichtathletik sowieso stark nachgelassen hat. Aber nächstes Jahr ist wieder WM, diesmal in Budapest. Ganz ohne Zeitverschiebung.
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Womit hat Charles Darwin Feuer gemacht?: Wie übernachtete Robert Scott in der Antarktis? Wo geht man aufs WC, wenn man gerade beim Rekord-Versuch die Welt umrundet? Das Gepäck berühmter Reisender zeigt, wie man auf Abenteuerfahrten banale Alltagsprobleme löste .
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Christoph Hickmann