Er schon wieder
Ich muss zugeben, eine Zeit lang hatte ich vergessen, womöglich auch verdrängt, dass es Markus Söder gibt. Nachdem er erst nicht Kanzlerkandidat geworden war und die Union dann die Bundestagswahl verloren hatte, war er eine Zeit lang von der Bildfläche verschwunden. Wobei das bestimmt ungerecht ist, ganz verschwunden war er natürlich nie, hatte aber das übliche Söder-Grundrauschen auf ein Maß heruntergefahren, das unterhalb meiner Wahrnehmungsschwelle lag. Es war nicht alles schlecht daran.
Ministerpräsident Söder, US-Präsident Biden (im Juni): Es war nicht alles schlecht
Foto: Daniel Karmann / dpa
Jetzt ist Söder wieder da. Zurück in mein Bewusstsein hatte er sich schon beim G7-Gipfel gedrängt, in den vergangenen Tagen hat sich das Grundrauschen nun wieder dem Geräuschpegel einer übersteuerten Bierzeltkapelle angenähert. Ich habe in den letzten Tagen sehr viele Söder-Äußerungen gelesen, und falls ich mir Sorgen gemacht hätte, der bayerische Ministerpräsident könnte sich in der Zwischenzeit verändert haben, dann wüsste ich jetzt: Hat er nicht. Söder weiß noch immer, wie die Dinge eigentlich laufen müssten.
Er weiß, was die Menschen draußen im Land jetzt dringend brauchen (den verlängerten Tankrabatt), warum die Ampel eine schlechte Regierung ist (will die Menschen umerziehen) und was der Privatmensch Christian Lindner tun sollte (wieder in die Kirche eintreten). Ich fragte mich kurz, ob diese Empfehlung an Lindner nicht auch schon als Versuch der Umerziehung durchgehen könnte, aber was weiß ich schon.
Besonders gut gefallen hat mir eine Formulierung von Söder in der »Bild am Sonntag«, dort nannte er die Ampelkoalition ein »norddeutsches Konstrukt«. Ich meine mich vage zu erinnern, dass Söder dieses Konstrukt vor gar nicht so langer Zeit noch gern anführen wollte. Aber dann wäre es ja kein norddeutsches Konstrukt mehr gewesen, sondern ein norddeutsches Konstrukt unter fränkischer Richtlinienkompetenz. Ob es das besser gemacht hätte?
Ganz eventuell gibt es einen Zusammenhang zwischen Söders Mitteilungsbedarf und dem Umstand, dass im Herbst 2023 in Bayern gewählt wird. Das böte zumindest Hoffnung, dass sich danach alles wieder etwas einpegelt, das Grundrauschen abschwillt. Eigentlich war es zuletzt ganz erholsam gewesen.
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Politik ohne Tabus
In den vergangenen Tagen ist in einigen Parteien etwas in Bewegung geraten. In der CDU waren einige plötzlich offen für ein – wenn auch befristetes – Tempolimit. Justizminister Marco Buschmann von der FDP, also jener Partei, der bislang meist Freiheit vor Gesundheit ging, stellte für den Herbst eine Maskenpflicht in Innenräumen in Aussicht. Und dann wirkte es gestern auch noch, als rücke die Bundesregierung, namentlich das Wirtschaftsministerium, vom bisherigen strikten Nein zur Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken ab. Das Wirtschaftsministerium wird von Robert Habeck geführt, Habeck ist ein Grüner, und das Nein zur Atomkraft ist Teil des grünen Gründungsmythos. Nicht irgendein beliebiger Teil.
Justizminister Marco Buschmann: Bald wieder mit Maske?
Foto:
Wolfgang Kumm/ picture alliance/ dpa
Von der Dimension her ist das nicht vergleichbar mit Tempolimit und Maskenpflicht, und man wird erst noch sehen, was daraus wird, was am Ende herauskommt. Festhalten kann man trotzdem schon jetzt, dass politisch gerade einige Tabus ins Wanken geraten, durch den Druck der Ereignisse. In zwei Fällen (Tempolimit, Atomkraft) hat der Krieg das Um- oder zumindest Nachdenken ausgelöst, im Fall der Maskenpflicht war es womöglich die Sommerwelle der Pandemie. Ich finde diese Form der Tabulosigkeit generell gut, unabhängig von den konkreten Fällen.
Wir Journalisten werfen Politikerinnen und Politikern gern vor, beliebig zu sein, allzu biegsam, Überzeugungen zu verraten oder erst gar keine zu haben. Dies hier ist etwas anderes. Natürlich spielen auch taktische Motive eine Rolle, natürlich wollen Christdemokraten, die sich plötzlich ein Tempolimit vorstellen können, damit auch die FDP ärgern. Aber grundsätzlich zeigt sich hier die Bereitschaft, eigene Standpunkte zu überprüfen und notfalls zu verwerfen, wenn sie nicht mehr zur Realität passen. Das ist nicht opportunistisch, das ist verantwortlich. Krisen sind nicht die Zeit, um noch mal ein paar Runden auf den eigenen Prinzipien zu reiten.
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Die Hosenfrage
Es wird heiß in Deutschland, in den nächsten Tagen und leider wohl auch in den nächsten Jahren. Passend dazu stellt Klara Geywitz, die Bundesbauministerin von der SPD, heute in Babelsberg ein Programm mit dem Titel »Anpassung urbaner Räume an den Klimawandel« vor. Ich kann leider nicht hingehen, dabei hätte ich eine Frage an die Ministerin. Sie betrifft meine ganz eigenen Anpassungsschwierigkeiten an den Klimawandel im urbanen Raum.
Im Wasser erlaubt: Kurze Hosen an Männerbeinen.
Foto: DPA
Es geht um eine Frage, die ich mir in jeder Hitzewelle wieder stelle: kurze Hose in der Stadt – ja oder nein?
Ich finde ja: eigentlich nein. Ich liebe Shorts, es gibt im Sommer kaum ein angenehmeres Kleidungsstück, aber außerhalb von Strand, Urlaub und Paddeltouren versage ich sie mir. Im Büro sowieso, schon klar. Einmal, vor Jahren, kam ein eher bekannter Kollege in kurzen Hosen ins Büro, ich habe eine Weile gebraucht, um mich davon zu erholen. Aber auch auf der Straße, nach Feierabend, wird man mich nicht in Shorts sehen, nicht beim Einkaufen, nicht in der Bar. Mag sein, dass diese Marotte aus der Zeit gefallen ist, ich halte sie selbst für etwas absurd, aber das steckt so tief drin, ich kriege es nicht abgeschüttelt.
Vielleicht könnte die Ministerin Geywitz helfen, indem sie den Punkt in ihr Programm aufnimmt, also sozusagen eine ministerliche Erlaubnis zum Tragen kurzer Hosen in Zeiten des Klimawandels erteilt? Wobei – ob ich dann welche tragen würde? Ich bin nicht sicher. Womöglich bräuchte es dafür bei mir mehr als die Erlaubnis einer weltlichen Instanz.
Noch knapp zwei Wochen, dann ist Urlaub. Dann stellt sich die Frage erst mal nicht mehr.
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Die Kleinsten im Abseits
Ich glaube, ganz allgemein, dass ich in meinem bisherigen Leben eine Menge Glück gehabt habe. Mir fällt das vor allem dann ein, wenn ich von Menschen höre oder lese, die nicht so viel Glück hatten oder haben. Zuletzt ging es mir beim Lesen des Interviews so, das meine Kollegin Silke Fokken mit der Kindheitspädagogin Rahel Dreyer geführt hat. Diesmal dachte ich nach der Lektüre, dass ich mit den Kitas meiner Kinder großes Glück gehabt habe.
Kinder mit Erzieherin: In guten Händen
Foto: Jens Büttner / picture alliance/dpa
Zustände, wie Dreyer sie aus manchen Kitas beschreibt, haben sie jedenfalls nie erleben müssen, nicht annähernd. Es geht um zu wenig Erzieherinnen und Erzieher, um angespannte, niedergeschlagene Kinder, von denen manche sprachliche oder soziale Defizite entwickeln. Die Pandemie, sagt Dreyer meiner Kollegin, habe solche Zustände noch einmal verschärft – vor allem an Orten, an denen die Ausstattung bereits vorher mangelhaft war.
»Das ganze System, das seit Jahren unter Personalknappheit leidet, ist erschöpft. Der Stresspegel bei den Fachkräften und den Kindern ist gestiegen«, sagt Dreyer. »Teilweise beobachten wir verwahrlosende Zustände.«
Ich muss sagen, mich hat das Interview ein wenig verstört. Ich finde, die Qualität einer Kita darf an keinem Ort in diesem Land eine Glücksfrage sein.
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ICE: Alles sehr schön
Foto: Jörg Carstensen / dpa
…ist die Deutsche Bahn. Sie hat das natürlich in keiner Weise verdient, ich stelle mich schon auf wütende Zuschriften ein, auf Berichte über ausgefallene, verspätete, nicht klimatisierte, überfüllte Züge, aber dies hier ist eine subjektive Rubrik, weshalb nun ein radikal subjektiver Tatsachenbericht folgt: Gestern bin ich frühmorgens mit der Bahn nach Hamburg und gegen Mittag wieder zurück nach Berlin gefahren. Bei der Hinfahrt war der Zug auf die Minute pünktlich, auf der Rückfahrt hatte er gerade mal sechs Minuten Verspätung, ich hatte auf beiden Fahrten einen Sitzplatz, auf dem Weg nach Berlin saß mir eine Oma gegenüber, die ihrem Enkel aus dem Heft »Der kleine ICE« vorgelesen hat. Es war alles sehr schön. Das möchte ich jetzt einfach mal so stehenlassen.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Christoph Hickmann