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News des Tages: Klimapolitik, Mord an Shinzō Abe, G-20 auf Bali

1. Versetzung gefährdet – das SPIEGEL-Klimazeugnis für die Bundesregierung fällt durchwachsen aus

In der Klimapolitik gehe es »um Leben und Tod«, sagte gestern Abend die 21-jährige Studentin Rifka Lambrecht zum amtierenden deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz. In der ZDF-Sendung »Maybrit Illner« durften besorgte Bürgerinnen und Bürger den Kanzler befragen, Scholz versuchte die im Klimaschutz engagierte Lambrecht vergeblich davon zu überzeugen, dass die Bundesregierung sich wirklich entschieden für Maßnahmen gegen den Klimawandel einsetzt.

Zweifel daran, ob die Regierung genug tut, weckt auch das SPIEGEL-Klimazeugnis, das ein Team von Kolleginnen und Kollegen heute vorgestellt hat. »Der Kampf gegen die Klimakrise ist ein Marathon, der leider nur noch im Sprint zu schaffen ist«, schreiben die Kollegen Kurt Stukenberg und Oliver Trenkamp in ihrem Text  zur Präsentation des Klimazeugnisses.

Nach sieben Monaten im Amt lasse sich abschätzen, wie entschieden die Regierung aus SPD, FDP und Grünen ihren Plan verfolgt, das Datum für die angepeilte Klimaneutralität Deutschlands von 2050 auf 2045 vorzuverlegen. Wo kann sie zum angekündigten Tempo zurückfinden, wo ist sie bereits ins Stolpern geraten? Wo kommt sie gut voran, wo sind ihre Leistungen mangelhaft?

224 Tage Arbeitspraxis der Regierenden und natürlich die Folgen des Ukrainekriegs hätten gereicht, um den programmatischen Sprint der Regierung »realpolitisch so kräftig auszubremsen, dass Bewegung an vielen Stellen kaum mehr erkennbar ist«, so Kurt und Oliver. »Der Windkraftausbau an Land etwa ist im ersten Halbjahr nicht nur nicht beschleunigt worden, die Genehmigungen sind sogar rückläufig«.

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Zu den Expertinnen und Experten aus der Redaktion, die zu klimapolitischen Fortschritten bei der Mobilitätswende oder in der Landwirtschaft Einzelnoten vergeben, gehört meine im SPIEGEL-Wissenschaftsressort arbeitende Kollegin Susanne Götze. Sie gibt ein überzeugend begründetes »Mangelhaft« für die Kohlepolitik der Regierung. »Ausgerechnet Braun- und Steinkohle wird Deutschland wohl länger verbrennen als geplant. Dabei lässt sich Energie kaum klimaschädlicher gewinnen«, schreibt sie .

Weil im Koalitionsvertrag nur eine schwammige Formulierung über einen »idealerweise« angestrebten früheren Kohleausstieg steht, gelte immer noch der Abschalteplan der alten Regierung für Kohlekraftwerke. Den halten Kritiker für viel zu wenig rigide. »Erst 2038 – also sieben Jahre, bevor Deutschland klimaneutral werden soll – geht demnach das letzte Kraftwerk vom Netz«, so Susanne. »Ein früherer Ausstieg ist durch den Ukrainekrieg und die daraus folgende Energiekrise unwahrscheinlicher geworden.«

Insgesamt fällt das SPIEGEL-Klimazeugnis sehr durchwachsen aus. In der Schule würde es heißen: Versetzung gefährdet. Allerdings geht es beim Kampf gegen die Klimakrise um mehr als die Erreichung des Klassenziels. Es geht – und deshalb hatte die Studentin Rifka Lambrecht gestern Abend beim Fernsehtalk mit Olaf Scholz mit ihrer dramatischen Formulierung von Leben und Tod schon recht – um die Rettung des Planeten.

2. Der Mordanschlag auf Shinzō Abe ist für viele Menschen in Japan auch deshalb schockierend, weil Gewalttaten im Land nur selten vorkommen

Japans Ex-Regierungschef Shinzō Abe ist heute von einem Attentäter erschossen worden. Abe hatte eine Wahlkampfrede in der Stadt Nara gehalten – dabei schoss ein Mann zweimal auf ihn, offenbar mit einer selbst gebauten Waffe.

Abe wurde am Hals und im Brustbereich getroffen, eine Kugel durchschlug wohl sein Herz. Der mutmaßliche Schütze – es soll sich um einen Mann Anfang 40 handeln – wurde festgenommen. Bei dem Attentäter soll es sich laut dem Sender NHK um ein früheres Mitglied der sogenannten Selbstverteidigungsstreitkräfte Japans handeln.

Abe regierte Japan von Dezember 2012 bis September 2020, er war der am längsten amtierende Premier des Landes. Unter ihm rückte Japan nach Meinung von Kritikern deutlich nach rechts. »Falls Berichte zutreffen, wonach es sich bei dem Täter um einen ehemaligen Angehörigen der Marine handelt, wäre das eine tragische Ironie«, schreibt mein Kollege Wieland Wagner , SPIEGEL-Korrespondent in Tokio, in seinem Nachruf auf den Politiker. »Denn Abe setzte sich wie kein anderer Politiker für die Belange des Militärs ein 

Er wollte das Land aufrüsten und die Streitkräfte stärken. Zu diesem Zweck drängte er darauf, die pazifistische Verfassung zu ändern, die Japan 1946 von den US-Besatzern praktisch diktiert worden war und mit der das Land »auf ewig dem Krieg als souveränem Recht der Nation« entsagt hat.

International bekannt über den Politikbetrieb hinaus wurde Abe vor allem durch die Einführung der sogenannten Abenomics im Jahr 2013. Um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, setzte er in Japans Wirtschaft Strukturreformen und Deregulierung durch und lockerte die Kreditvergabe. Durch die lockere Geldpolitik fiel der Kurs des Yen gegenüber Konkurrenzwährungen wie dem US-Dollar. Die Japaner hofften auf einen Wirtschaftsaufschwung, doch der japanische Leitindex brach nach einem Höhenflug wieder ein. Über den Erfolg der Maßnahmen wird in Politik und Wirtschaft gestritten.

Welche Wirkung hat das Attentat auf die Menschen in Japan? »Man kann gar nicht genug betonen, wie tief der Schock über den Mordanschlag auf Abe ist«, sagt meine Kollegin Katharina Peters, die als SPIEGEL-Korrespondentin in Seoul arbeitet und natürlich auch Japan gut kennt. »Man muss sich das von der Dimension ähnlich vorstellen, als wenn es in Deutschland ein Attentat auf Angela Merkel gegeben hätte. Er war ein Mann, der viele Jahre lang die Politik des Landes geprägt hat und bis heute einflussreich war.« Das zeige sich auch an den internationalen Reaktionen auf seinen Tod. Die frühere britische Premierministerin Theresa May bezeichnete Abe auf Twitter als »Freund« und klagte, er sei »auf entsetzlichste Weise getötet worden«. Bundeskanzler Olaf Scholz schrieb ebenfalls auf Twitter, das Attentat mache ihn »fassungslos und tieftraurig«.

»Japan ist kein Land, in dem es viele gewalttätige Verbrechen gibt«, sagt Katharina. Wenn es doch in ziemlich seltenen Fällen zu Schusswechseln komme, dann seien daran meist Gangs beteiligt. »Die Waffengesetze sind extrem strikt. Auch deswegen sind viele Japaner jetzt so fassungslos.«

3. Nach dem G20-Eklat durch Außenminister Lawrow ist Annalena Baerbock empört – und die Weltgemeinschaft rätselt noch ein wenig mehr über den künftigen Umgang mit Russland

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat dem russischen Außenminister Sergej Lawrow heute Gesprächsverweigerung vorgeworfen, nachdem Lawrow das G20-Treffen auf Bali vorzeitig verlassen hatte.

»Dass der russische Außenminister einen großen Teil der Verhandlungen hier nicht im Raum, sondern außerhalb des Raumes verbracht hat, unterstreicht, dass es keinen Millimeter an Gesprächsbereitschaft der russischen Regierung derzeit gibt«, sagte Baerbock.

Mit Außenminister Sergej Lawrow nahm am Freitagmorgen erstmals seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine ein Minister aus Moskau an einem solchen internationalen Treffen teil. Dass es am Rande der Beratungen keines der üblichen bilateralen Treffen mit Lawrow geben werde, hatte Baerbock schon im Vorfeld angekündigt. Lawrow traf sich allerdings mit anderen Politikern, unter anderem mit seinem chinesischen Kollegen Wang Yi und mit dem türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu. Der Kritik der anderen Teilnehmer im Saal entzog ich Lawrow, indem er direkt nach seiner eigenen Rede den Kreis der Ministerinnen und Minister verließ. Nach ihm sprach Baerbock.

Eine Mehrheit der Deutschen hätte sich Gespräche zwischen Baerbock und Lawrow gewünscht, das ergab eine Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut Civey im Auftrag des SPIEGEL durchgeführt hat.

Vor Beginn des Bali-Gipfels sprachen sich 58 Prozent für ein persönliches Treffen zwischen Baerbock und Lawrow aus, 31 Prozent hielten dagegen. Besonders unter den Anhängerinnen und Anhängern der Linken und der AfD gab es größere Sympathien für ein Treffen zwischen der Deutschen und dem Russen auf Bali.

Der Umgang mit Lawrow auf Bali gilt als Test für eine mögliche Teilnahme von Kremlchef Wladimir Putin am G20-Gipfel der Staats- und Regierungschefs im November, der ebenfalls auf der indonesischen Ferieninsel stattfindet.

»Es war ein ausgesprochen heikler Termin«, schreibt mein Kollege Jonas Schaible  in seinem Bericht vom G20-Treffen auf Bali.

Im November dürfte es noch heikler werden. »Das Außenministertreffen war die Generalprobe. Sie fiel überraschend kurz aus.« Die große Frage, die alles überschattete, sei gewesen: Wo steht die Welt vier Monate nach Kriegsbeginn? Offenbar lässt sich das nach dem Treffen auf Bali keineswegs klarer sagen als zuvor.

Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:

  • Lawrows Abgang, Putins Häme, Baerbocks Zorn: Russlands Außenminister reist vorzeitig vom G20-Treffen ab, Putin gibt dem Westen die Schuld am »neuen Level der Kämpfe«. Und im Donbass führen verletzte Zivilisten ein Leben in Trümmern. Die Lage im Video.

  • Bildungsministerin warnt wegen Gasmangels vor Unterrichtsausfall: Mancherorts ist die Versorgung mit Warmwasser bereits eingeschränkt, andernorts nachts die Heizung gedrosselt. Der Kampf ums Gas könnte laut Bildungsministerin Stark-Watzinger aber auch Folgen für die Schulen haben.

  • »Wir haben noch gar nicht richtig angefangen« Russlands Präsident gibt sich bei einem Treffen mit Duma-Abgeordneten siegessicher. Richtung Nato droht Wladimir Putin: »Der Westen will uns auf dem Schlachtfeld schlagen – lasst es sie nur versuchen

  • Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update

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Was heute sonst noch wichtig ist

  • Preise für Neubauten steigen so stark wie seit 50 Jahren nicht mehr: Der Bau eines neuen Hauses kostete zuletzt 17,6 Prozent mehr als noch vor einem Jahr. Die Baubranche erklärt das mit den gestiegenen Preisen für Rohstoffe – und fürchtet, dass sich viele Menschen bald kein Eigenheim mehr leisten können.

  • Blatter und Platini von Betrugsvorwürfen freigesprochen: Der Prozess um eine dubiose Millionenzahlung endet für Sepp Blatter und Michel Platini mit dem Freispruch. Die Staatsanwaltschaft hatte für die Ex-Fußballfunktionäre eine Haftstrafe auf Bewährung gefordert.

Meine Lieblingsgeschichte heute: Der Schurke von Sevilla – dieses üble Foul klebt bis heute an Toni Schumacher

Schumachers Aktion wirkte wie der Angriff eines irrlichternden Kampfsportlers


Foto:

imago images/ WEREK


Mein Kollege Stephan Klemm schreibt über den Torwart Toni Schumacher , der im WM-Halbfinale 1982 den Franzosen Patrick Battiston vor 40 Jahren umrammte. Als »brûte épaisse«, als Unmenschen, hat ihn die Sporttageszeitung »L’Équipe« nach dem Match zwischen Deutschland und Frankreich geschmäht. Es sei »ein Unfall« gewesen, möchte Schumacher glauben machen. Die TV-Aufnahmen aber sprechen für sich, so der Kollege. Als ihm nach dem Spiel jemand zugerufen hatte, Battiston habe zwei Zähne verloren (es waren vier), habe Schumacher so reagiert: »Sagt ihm, dass ich ihm die Jacketkronen zahle.« Angeblich, weil er erleichtert war, dass nicht mehr passiert war, obwohl es so schlimm ausgesehen hatte. Stephans Geschichte handelt, so verspricht der Vorspann ganz zu Recht, von »Volkszorn, Vergebung und Depressionen«.

Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen

  • Sollte man mit einem Kriegsverbrecher reden? Russland hat in der Ukraine zehntausende Menschenleben auf dem Gewissen, trotzdem werden die Forderungen nach diplomatischen Initiativen des Westens lauter – innerhalb der Ampel und aus der Opposition .

  • »Die Hydra lebt« Ermittler haben in Osnabrück einen Schlepperring gesprengt, der Tausende Flüchtlinge über den Ärmelkanal schleuste. Geschäftspartner der Kriminellen soll ein Schlauchboothändler im Münsterland gewesen sein .


Was heute weniger wichtig ist: Extrem entspannter Tennisstar

  • Tatjana Maria, 34-jährige Überraschungssportlerin des diesjährigen Tennisturniers in Wimbledon, hatte trotz sensationell aufregender Spiele offenbar erholsame Tage in Großbritannien. Die als krasse Außenseiterin gestartete und erst im Halbfinale gescheiterte Spielerin aus Bad Saulgau, Mutter zweier Kinder, wurde nach ihrem Ausscheiden heute von meinem Kollegen Klaus Bellstedt interviewt . »Seit ich hier in Wimbledon angekommen bin, hatte ich jeden Tag eine anderthalbstündige Massage. In meinen 34 Jahren hatte ich noch nie so viele ruhige Wellnessstunden«, berichtet sie. »Das hat mir gut geholfen, runterzukommen. Die Ruhe war wunderbar. Ich will dann aber immer relativ schnell auch zu meinen Töchtern zurück 

Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: Und Frederik? Geriert sich in etwa so wie Franz Castorp in Manns »Zauberberg«: vormittags Lektüre auf der Sonnenterrasse. 

Cartoon des Tages: Reisezeit



Und heute Abend?

Könnten Sie ein lustiges, intelligentes, bissiges Buch lesen und dabei – wenn sie nicht mehr ganz jung sind – über Ihr eigenes Verhältnis zu den Idealen Ihrer Jugend nachdenken. Dafür eignet sich offenbar der Roman »Die Letzten werden die Ersten sein« von Lionel Shriver, den meine Kollegin Jana Felgenhauer preist. Die Autorin Shriver, berühmt für den Bestseller »We Need to Talk about Kevin«, erzähle in ihrem neuen Werk satirisch von einem auseinander driftenden Ehepaar – und »vom Clash zwischen Generationen und Lebensstilen in der westlichen Wohlstandsgesellschaft«.

Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, herzlich

Ihr Wolfgang Höbel

Hier können Sie die »Lage am Abend« per Mail bestellen.

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