Die Verkasperung der Politik
Boris Johnson ist Geschichte. Zumindest als Staatenlenker. Gestern verkündete er den Rückzug vom Parteivorsitz der konservativen Tories. Spätestens im Herbst, vermutlich früher, wird er auch das Amt des Premierministers abgeben müssen. Nachdem sein halbes Kabinett desertiert hatte, konnte selbst Pattex-Boris nicht länger am geliebten Amt kleben.
Premierminister Johnson bei seiner Rückzugserklärung
Foto: Gareth Fuller / dpa
Zuletzt war er nicht nur wegen falscher Angaben über seine Teilnahme an einer Gartenparty zu Lockdown-Zeiten in Bedrängnis geraten, sondern auch durch die Beförderung eines Parteikollegen, dessen Neigung zu komplett inadäquatem Verhalten in höchst besoffenem Zustand Johnson bekannt war.
Natürlich sind auch die letztgenannten Gründe denkbare Anlässe zum Rücktritt. Dass erst sie Johnson aus dem Amt bugsierten, ist für mich aber ein Indiz, dass sowohl die politische Öffentlichkeit als auch die Politik selbst die Fähigkeit verloren hat, das Wesentliche zu erkennen. Das wesentliche Vergehen Johnsons ist und bleibt nämlich seine auf perfiden Lügen fußende Brexit-Kampagne – und die bitteren ökonomischen Folgen dieses Brexits. Oder auch die unzähligen Toten, die Großbritannien vor allem in der ersten Coronawelle wegen einer falschen und unernsten Politik des Premierministers zu verzeichnen hatte. Das ist der eigentliche Skandal, nicht die Lügen über seine Gartenparty-Bierchen, ja nicht mal die Beförderung eines übergriffigen Rüpels.
So ist der Fall Johnson und Johnsons Fall ein weiterer Beleg für eine Boulevardisierung des Politischen, ja die Verkasperung der Politik. Dass sie im angelsächsischen Raum offenkundig um einiges weiter vorangeschritten ist als bei uns, ist immerhin ein kleiner Trost.
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Lawrow, der Frosch
Außenminister Lawrow, Außenministerin Baerbock (im Januar in Moskau)
Foto:
Maxim Shemetov / dpa
Auf Bali wird es heute zu einer absurden Veranstaltung kommen. Gemeinsam mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow werden die Außenministerinnen und Außenminister der G20-Staaten zu einer Arbeitssitzung zum Thema »Stärkung des Multilateralismus« zusammenkommen. Um den Multilateralismus wirklich zu stärken, hätte man sich besser mit Kermit, dem Frosch zusammengesetzt. Denn mit partnerschaftlicher Kooperation auf internationaler Ebene steht Lawrows Russland bekanntermaßen schwer auf Kriegsfuß. Immerhin: das obligatorische »Familienfoto« aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer, darunter die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, soll es diesmal nicht geben.
Später am Tage wird Baerbock zur Inselgruppe Palau weiterreisen. Die Inseln könnten als Folge des Klimawandels bald vom steigenden Meeresspiegel verschluckt werden. Für Baerbock, die dezidiert auch eine Klima-Außenpolitik betreiben will, könnte der Südsee-Besuch am Ende relevanter sein, als das seltsame Treffen auf Bali.
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Was passiert, wenn uns das Gas ausgeht? Kremlchef Putin dreht am Gashahn und sorgt für Verunsicherung in Deutschland: Wie lange reichen die Vorräte – und wer muss zuerst verzichten, wenn der Staat das Gas rationiert? Antworten im Stimmenfang-Podcast.
Klima-Zeugnis der Bundesregierung: Versetzung gefährdet!
Ein Bundesland nach dem anderen entlässt die Schülerinnen und Schüler in die großen Ferien. Auch der Bundestag pausiert für einige Wochen. In ihrer letzten Sitzung stimmen die Abgeordneten heute unter anderem über den Nato-Beitritt von Finnland und Schweden ab.
Deutsche Ministerinnen und Minister bei ihrer Ernennung im Dezember 2021
Foto:
MARTIN DIVISEK / EPA-EFE
Bevor sich die Politik in die großen Ferien verabschiedet, bekommt auch sie ein Zeugnis, zumindest für ihre Leistungen beim wichtigsten Zukunftsthema, dem Kampf gegen die Klimakatastrophe. Vor sieben Monaten war die Ampelkoalition hier mit durchaus großem Ehrgeiz angetreten, dann aber kam der Krieg dazwischen.
Jetzt hat ein Team um meine Kollegen Kurt Stukenberg und Oliver Trenkamp die klimapolitischen Vorhaben, Fortschritte und Rückschläge der Bundesregierung analysiert – und sich in sechs Kerndisziplinen zu Noten durchgerungen : Warum stehen noch immer so viele Rinder in deutschen Ställen? Warum gibt es so wenig Ladesäulen für E-Autos? Woran hapert es bei der Windkraft? Und wieso kümmert sich kaum jemand um die ausgetrockneten Moore, die mancherorts mehr CO₂ ausstoßen als die Industrie?
In der Schule würde es heißen: Versetzung gefährdet. Allerdings können wir beim Klima keine Ehrenrunde drehen.
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Die Startfrage heute: Wie hieß die offizielle Hymne der Fußball-WM der Herren 2018?
Gewinnerin des Tages…
Basketballstar Griner gestern in einem Gericht außerhalb Moskaus
Foto:
Alexander Zemlianichenko / AP
… ist womöglich Brittney Griner, eine der weltbesten Basketballerinnen und zweifache US-Olympiasiegerin. Seit fast fünf Monaten hockt sie in einer Gefängniszelle bei Moskau, fast 10.000 Kilometer vor ihrer Heimat in Arizona entfernt. Die russische Justiz hat sie wegen Drogenhandels angeklagt, ihr drohen bis zu zehn Jahre Haft. Am Donnerstag bekannte sie sich nun schuldig, Vape-Patronen mit – in Arizona legalem, in Russland aber illegalem – Cannabisöl im Gepäck gehabt zu haben, als sie bei der Einreise in Moskau verhaftet wurde. Ein Versehen, beteuert sie, sie habe in Eile gepackt und die Patronen übersehen.
Griner, die für den Verein Mercury Phoenix spielt, ist eine hilflose Figur auf dem Spielfeld der internationalen Politik . Ihre Festnahme, eine Woche vor Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine, war kaum Zufall. Angeblich will Russland mit der 31-Jährigen einen Gefangenenaustausch forcieren, womöglich sogar den berüchtigten Waffenhändler Wiktor But freipressen, der in den USA in Haft sitzt.
Griners Geständnis und ein späterer Schuldspruch könnten den Weg ebnen für Verhandlungen und einen eventuellen Deal. US-Präsident Joe Biden hat den Fall Griner diese Woche erst zur Chefsache erklärt und seinen Nationalen Sicherheitsberater Jake Sullivan beauftragt, sich zu kümmern.
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Einen heiteren Freitag, trotz alledem, wünscht Ihnen.
Ihr Markus Feldenkirchen