1. Regierungskrise in Großbritannien
Täglich grüßt das Murmeltier – und in Großbritannien fordert jemand den Rücktritt von Boris Johnson. Bislang hat Großbritanniens Premier Peinlich alle Misstrauensvoten erfolgreich abgewehrt. Die Geschehnisse der vergangenen 24 Stunden könnten aber »selbst für den Drahtseilakrobaten Boris Johnson der eine Schlag zu viel gewesen sein«, sagt mein Kollege Jörg Schindler, unser Korrespondent in London .
Gestern Abend waren mit Finanzminister Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid zwei wichtige Kabinettsmitglieder zurückgetreten, unter anderem deshalb, weil Johnson einen unter dem Verdacht der sexuellen Belästigung stehenden Tory-Politiker zum stellvertretenden Parlamentarischen Geschäftsführer gemacht hatte, obwohl er von den Vorwürfen seit 2019 wusste.
Im Laufe des Tages gaben weitere Regierungsmitglieder ihren Rücktritt bekannt:
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Victoria Atkins zum Beispiel, Staatssekretärin im britischen Justizministerium, ließ wissen: »Werte wie Integrität, Ehrlichkeit, Respekt und Professionalität sollten uns allen ein Anliegen sein.« Sie habe »mit zunehmender Sorge« gesehen, wie diese Werte unter Johnsons Führung rissig geworden seien.
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Robin Walker, Staatsminister für Schulstandards, findet, die jüngsten Ereignisse hätten klargemacht, »dass unsere große Partei von ihrer Kernmission durch einen dauernden Fokus auf die Führung abgelenkt wird«. Er freue sich darauf, künftig als konservativer Abgeordneter im Parlament als Hinterbänkler für seinen Wahlkreis Worcester Politik zu machen.
Wenn sich Parteikollegen auf der Hinterbank wohler fühlen als am Kabinettstisch, dann ist Johnson definitiv angezählt. Wie er ohne Rückhalt der eigenen Leute weiterregieren will, versuchte er heute in einer Fragerunde im britischen Parlament darzulegen.
Seine Aufgabe als Premier sei es, auch in schwierigen Zeiten weiterzumachen. »Und das werde ich auch tun.« Besonders fies stichelte Oppositionsführer Keir Starmer von der Labour-Partei: Dass in den vergangenen Stunden diverse Mitglieder der Regierung zurückgetreten waren, kommentierte er, indem er ein bekanntes Sprichwort umdrehte und fragte: »Ist das nicht der Fall, in dem sinkende Schiffe vor der Ratte fliehen?«
Die Tage, an denen Murmeltier Johnson täglich grüßt, dürften bald vorbei sein.
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2. Die neue Cancel-Kultur
Personalmangel herrscht nicht nur in Boris Johnsons Regierungskabinett. Die hohen Coronainfektionszahlen legen hierzulande massenhaft Betriebe lahm, schreiben meine Kollegen Matthias Kaufmann und Michael Kröger. Ob in Kliniken, in der Gastronomie oder im Büro – vielerorts heißt es: »Uns fehlen die Leute – Sie wissen schon, Corona.«
Am Samstag musste zum Beispiel der lang ersehnte Abiball einer großen Schule im Hamburger Norden abgesagt werden. Die Abiturienten hatten einen Tanzboden in der Speicherstadt gebucht, mit Essen und DJ, sie wollten es krachen lassen. Eine E-Mail am Donnerstag durchkreuzte dann diesen Plan, wie meine Kollegen schreiben. Leider könne die Feier nicht wie geplant stattfinden, teilte der Veranstalter mit. Zu viel Personal sei wegen Corona krankgeschrieben, Ersatz nicht zu bekommen.
»Das war das erste Mal in unserer Firmengeschichte, dass wir eine Abifeier wegen Personalmangels absagen mussten«, sagt Hans-Christoph Klaiber. Er ist Chef von Nordevent, einer großen Veranstaltungsagentur in Hamburg mit rund 250 festen Beschäftigten und zahlreichen eigenen Räumen. Gleich zwei Abiturientensausen musste er canceln.
In München geht inzwischen die Angst um, das Oktoberfest könne abgesagt werden. Nicht, um die Besucherinnen oder Besucher vor einer Infektion zu schützen. Diesen Anspruch scheint die Politik spätestens seit dem Scheitern der Impfpflicht aufgegeben zu haben. Die Durchführung des größten Volksfestes der Welt könnte schlicht daran scheitern, dass die Sicherheit aufgrund infizierter und damit fehlender Security-Ordner oder Einlasskontrolleure nicht gewährleistet werden könne.
Ein zentrales Problem sei die angespannte Situation am Arbeitsmarkt. Einerseits suchten die Betriebe nach Mitarbeitern, um die vollen Auftragsbücher abzuarbeiten, andererseits steige die Zahl derjenigen, die aus dem Berufsleben ausschieden. »Um die Lücke zu schließen, benötigt die Wirtschaft jedes Jahr 400.000 zusätzliche Arbeitskräfte aus dem Ausland«, sagt Alexander Kritikos vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Es kämen derzeit aber allenfalls 100.000 Fachkräfte, also viel zu wenig. In den vergangenen Jahrzehnten seien diese Arbeitskräfte regelmäßig aus den Staaten der EU eingewandert. Weil zu Hause aber die Möglichkeiten, eine Beschäftigung zu finden, gestiegen seien, sei der Zustrom versiegt. »Die Leute bleiben lieber zu Hause.«
Ein kleiner Lichtblick: Die Bundesregierung hat heute den Gesetzentwurf zum sogenannten Chancen-Aufenthaltsrecht beschlossen. Er eröffnet vielen Ausländerinnen und Ausländern ohne gesicherten Aufenthaltstitel eine langfristige Bleibeperspektive und damit auch Arbeitsperspektive in Deutschland.
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Mehr zur Sommerwelle lesen Sie hier: Wegen Corona geschlossen
3. Ein Geschenk für Putin?
Investitionen in Atomkraft und Gas können als klimafreundlich gewertet werden. Das hat das Europaparlament heute entschieden – und damit einen umstrittenen Vorschlag der EU-Kommission abgesegnet.
Eine Entschließung, um die sogenannte Taxonomie zu blockieren, bekam im Straßburger Parlament am Mittwoch nicht die nötige Mehrheit. Für Unternehmen ist das geplante Klassifikationssystem deshalb relevant, weil es die Investitionsentscheidungen von Anlegern beeinflussen und damit zum Beispiel Auswirkungen auf Finanzierungskosten von Projekten haben könnte. In einem ersten Schritt wurde bereits im vergangenen Jahr entschieden, die Stromproduktion mit Solarpaneelen, Wasserkraft oder Windkraft als klimafreundlich einzustufen. Da hatte natürlich niemand etwas dagegen. Bei Atom und Gas liegt die Sache aber anders.
Nicht nur Klimaschutzorganisationen sind empört über die Greenwashing-Entscheidung im EU-Parlament. Das geplante europäische »Öko-Siegel« für grüne Investitionen hält auch meine Kollegin aus unserem Wissenschaftsressort Viola Kiel für ein »Geschenk an Wladimir Putin«. Außerdem verkenne der Beschluss »schlicht die Realität«.
Klar könne man Erdgas für eine »notwendige Brückentechnologie« halten, wie manche EU-Abgeordnete argumentiert haben, sagt Viola. »Aber die Klimaschäden der Erdgasnutzung sind vergleichbar mit denen von Kohle und Öl«, das zeigten neue Studien. Und um die Klimaziele irgendwie einzuhalten, dürfte es überhaupt keine neuen fossilen Energieprojekte geben. »Man kann natürlich politisch immer noch entscheiden, dass Gas für die Energieversorgung notwendig ist, aber man kann es einfach nicht ernsthaft als nachhaltig und klimafreundlich labeln.«
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Lesen Sie hier den Kommentar: Greenwashing ist jetzt erlaubt
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Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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Unionsfraktion verlangt 200 Transportpanzer für Kiew: Mit einem Entschließungsantrag planen CDU und CSU, Druck auf die Bundesregierung auszuüben. Der Ukraine sollen weitere Panzer zur Verfügung gestellt werden. Der Generalinspekteur der Bundeswehr hat allerdings Bedenken.
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Vom Badestrand ins Kriegsgebiet: Ein Sabbatjahr in Thailand, während in Europa Krieg herrscht? Das hielt Nils Thal nicht aus. Jetzt ist er in Charkiw als Feuerwehrmann im Einsatz.
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Russischer Eishockeytorwart legt Einspruch gegen Wehrdienst ein: Er wollte in die USA wechseln, dann nahm die russische Militärpolizei Iwan Fedotow fest – und nun soll der Eishockey-Star bereits an seinem Stützpunkt eingetroffen sein. Hinnehmen möchte er das nicht.
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
Was heute sonst noch wichtig ist
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Prozess gegen Frankfurter Oberbürgermeister Feldmann beginnt im Oktober: Der Frankfurter Rathauschef Peter Feldmann will sein Amt aufgeben, aber erst im Januar. Vorher muss er vor Gericht: Dort soll eine Anklage der Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Vorteilsannahme verhandelt werden.
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Scholz nennt AfD »Partei Russlands«: Im Bundestag muss sich Kanzler Scholz zur Regierungsarbeit erklären – und bleibt meist ruhig. Eine Frage der AfD über steigende Energiekosten ändert das.
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Mitarbeiter schreiben Brandbrief an Lufthansa: Nicht nur Kunden, sondern auch viele Mitarbeiter sind sauer auf die Lufthansa. Billiger Service zu »Premiumpreisen« werde auf Dauer nicht funktionieren, heißt es nun in einem Schreiben an den Aufsichtsrat.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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Wo die Armut beginnt – und wo der Reichtum: Wer arm oder reich ist, darüber entscheiden in der Statistik Einkommensgrenzen. Doch bilden diese wirklich die Realität ab? Forscherinnen haben das nun überprüft – indem sie eine naheliegende Frage stellten .
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Wie Investoren-Profis jetzt ihre Fonds absichern: Die Fondsmanager Jens Ehrhardt, Klaus Kaldemorgen und Bert Flossbach prognostizieren weiter fallende Börsenkurse – und setzen dennoch auf Aktien. Worauf sie achten und wie sie Vermögen vor Inflation und Crash retten wollen .
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»Mindestens die Hälfte ist leicht irre, es gibt aber auch schwere Fälle«: Ein großer Teil der deutschen Führungskräfte ist nicht geeignet, Personalverantwortung zu haben, sagt der Psychologe Jürgen Hesse. Hier sagt er, wie man mit irren Chefs umgehen sollte – und wann nur die Flucht hilft .
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Am Ende gibt es nur eine Verliererin: Wegen »Sicherheitsbedenken« hat die renommierte Humboldt-Universität den Vortrag einer umstrittenen Biologin über Geschlechter abgesagt. Rekonstruktion eines Eklats .
Was heute weniger wichtig ist
Strandesgemäß: Christian Lindner, 43, und seine Partnerin Franca Lehfeldt, 33, werden am Donnerstag vom Bürgermeister der Gemeinde Sylt, Nikolas Häckel (parteilos), getraut: Er werde selbst der Standesbeamte sein, sagte der Lokalpolitiker der Nachrichtenagentur dpa. Auf der Insel heiraten seinen Worten zufolge generell nicht nur die Insulaner, sondern auch viele Gäste: »Vor Corona hatten wir jährlich etwa 800 Trauungen.«
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »›Gerade das angeblich viel zu teure Personal hat in der Vergangenheit alle durch den Spahrwahn hervorgerufenen Missstände ausgebügelt und vor dem Kunden kaschiert‹, heißt es in dem Schreiben, das dem SPIEGEL vorliegt.«
Cartoon des Tages: Wetter
Illustration: Klaus Stuttmann
Und heute Abend?
Raus auf den Balkon! Ab zum Sonnenuntergang an den Wannsee! Oder machen Sie einen Ausflug zum Altpapiercontainer ihrer Wahl. Vielleicht findet sich darin Material, mit dem Sie ein Minecraft-Schwert oder eine Greifzange mit scharfen Zähnen basteln können! Meine Kollegin Antonia Bauer hat die Anleitungen dafür .
Heute war in Berlin der letzte Schultag vor den Sommerferien. So schön das für die Kinder ist. Mancher der kommenden Tage kann erfahrungsgemäß auch ziemlich lang werden. Da hilft »Dein SPIEGEL«, das Nachrichten-Magazin für Kinder, mit dem Extraheft für den Sommer. Bestellen kann man es hier und hier .
Es wurde nicht nur gebastelt, sondern auch gebacken, fotografiert und ausprobiert. Das Ergebnis: 33 tolle Ideen und Projekte und Freizeit-Tipps, die Kindern Spaß bringen, vom Regenbogen-Picknick bis zur Wassermelonen-Torte. Ein Sommerrätsel gibt es auch und dazu viel Lesestoff, zum Beispiel über das Wingfoil-Surfen, bei dem man mit einem Segel in der Hand auf einem speziellen Brett über das Wasser fliegt.
Einen schönen Abend
Ihre Anna Clauß
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