1. Außenseiter ins Außenministerium?
Für die einen ist Andrij Melnyk, der ukrainische Botschafter in Deutschland, der Gottseibeiuns, der vielen Politikverantwortlichen im routinierten Hauptstadtberlin gehörig auf die Nerven ging. Für die anderen der Reinhart Stapfer, die gleichnamige Romanfigur aus Jakob Bossharts Buch »Rufer in der Wüste«, der die Deutschen immer wieder ermahnte, Waffen statt warmer Worte in die Ukraine zu schicken. Wo immer Melnyk auftrat, wann immer er sich zu Wort meldete, wie immer er auch argumentierte: Er polarisierte. Er sparte nicht mit Schimpfwörtern, »beleidigte Leberwurst« nannte er den Bundeskanzler (wofür er sich inzwischen im Spitzengespräch mit meinem Kollegen Markus Feldenkirchen entschuldigte). Einen früheren Brigadegeneral und Merkel-Berater nannte er einen »erbärmlichen Loser«; »Klappe halten« riet er dem Linkenpolitiker Fabio di Masi. Als »pseudointellektuelle Versager« titulierte er eine Schar Fernsehphilosophen, die die Waffenlieferungen des Westens infrage stellten. Auch mit Aussagen über den umstrittenen ukrainischen Partisanenführer Stepan Bandera und den Holocaust eckte Melnyk an.
Das alles mag nicht dem feingeschliffenen Vokabular eines Karrierediplomaten entsprechen, aber hätte Melnyk so viel erreicht, wenn er die üblichen Umgangsformen eingehalten hätte? Wäre er in so gut wie jede zweite Talkshow eingeladen worden, um dort die Position der Ukraine klarzumachen? Hätte er den Druck aufbauen können, der am Ende womöglich dazu führte, dass die Bundesregierung nach langem Zögern doch Waffen lieferte und sogar eine Liste veröffentlichte, auf der akribisch jedes militärische Gerät verzeichnet ist, das die Grenze in Richtung Osten passiert hat? Ich wage das zu bezweifeln. Aus seiner Sicht hat Melnyk das Maximum herausgeholt.
Dagegen werden viele insgeheim dem Justizstaatssekretär aus Mecklenburg-Vorpommern, Friedrich Straetmanns (Linke), zugestimmt haben, als der im April twitterte: »Sie sind ein schlechter bis widerlicher Botschafter!« Den Tweet löschte Straetmanns später und entschuldigte sich.
Womöglich geht die Zeit der ewigen Entschuldigungen nun einem Ende entgegen, denn Melnyk soll offenbar aus Berlin abgezogen werden und wohl in Kiew stellvertretender Außenminister werden. Als Abberufung solle man das keinesfalls verstehen, heißt es in Kiew, eher als Karriereschritt. Vielleicht wollte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Deutschen aber auch einfach nur vor einem weiteren offenen Brief von Richard David Precht, Juli Zeh oder Ranga Yogeshwar – diesmal direkt an Melnyk – bewahren?
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Lesen Sie hier mehr: Botschafter Melnyk weist Vorwurf der Holocaust-Verharmlosung zurück
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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Fast 150.000 ukrainische Kinder und Jugendliche an deutschen Schulen: Die Anmeldezahlen an deutschen Schulen steigen weiter: In Deutschland werden mittlerweile mehr als 146.000 vor dem Krieg geflüchtete Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine unterrichtet.
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Wiederaufbau der Ukraine soll sieben Prinzipien folgen: Russlands Angriffskrieg dauert an, trotzdem wurden in Lugano schon Rahmenbedingungen für den Neuaufbau der Ukraine beschlossen. Großbritannien und Deutschland wollen die kommenden Gipfel ausrichten.
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Selenskyj denkt trotz russischer Angriffe an Aufbau: Der ukrainische Präsident will mit dem Wiederaufbau seines Landes nicht bis zum Ende des russischen Angriffskriegs warten. An Russlands Armee schickte Selenskyj eine Kampfansage: »Wir müssen sie brechen.« Der Überblick.
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
2. Peter Peinlich packt zusammen
Man denkt ja, wegen der vielen Hochhäuser ist Frankfurt am Main eine Metropole, eine Millionenstadt. Tatsächlich leben dort nur 750.000 Menschen, sie ist nicht mal Hessens Landeshauptstadt. Wären nicht so viele Banker dort, die ihr ein polyglottes Flair verpassen, hätte Frankfurt am Main wohl nie das leicht provinzielle Image von Fressgass, Blauem Bock und Appelwoi überwunden. Bundesweit ist sie nur die fünftgrößte Stadt.
Für den größten Bürgermeister Deutschlands hielt sich, darauf deutet alles hin, allerdings bislang Peter Feldmann (SPD). Nicht nur, weil er nach dem gewonnenen Finale in der Europa League von Eintracht Frankfurt beim Gang zur Willkommensfeier dem Spieler Sebastian Rode den Pokal aus den Händen nahm , wurde Feldmann in der Vergangenheit oft »Peter Peinlich« genannt. Inszenierungen in eigener Sache zählten zu den Kernkompetenzen des OB.
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Profilneurosen und Peinlichkeiten sind das eine, Postengeschacher und Profitgier das andere. Und auch das wurde Feldmann vorgeworfen, nicht nur aus Oppositionskreisen, sondern auch aus den eigenen Reihen. Die Liste der Vorhaltungen ist so lang, dass sie den Rahmen dieses Newsletters sprengen würde. Daher beschränke ich mich auf eine kleine Auswahl:
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So sollen Feldmanns Verbindungen in die Sozialorganisation AWO eine Rolle gespielt haben, damit seine Lebensgefährtin und spätere Ehefrau Zübeyde das Maximalgehalt in ihrer Tarifgruppe für die Leitung einer AWO-Kita bekam. Zumindest soll er davon gewusst haben.
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Später bekam Zübeyde Feldmann außerdem einen Dienstwagen von der AWO gestellt.
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Zudem soll eine Verantwortliche des Frankfurter AWO-Kreisverbands Feldmann im OB-Wahlkampf 2018 durch Einwerbung von Spenden unterstützt haben – und zwar dieselbe, die später für die Anhebung des Gehalts der Ehefrau sorgte.
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Im August 2020 nahm die Staatsanwaltschaft Ermittlungen auf – nicht gegen die Eheleute Feldmann, sondern gegen eine mit dem Vorgang betraute AWO-Mitarbeiterin. Im März erhob die Staatsanwaltschaft schließlich Anklage gegen Feldmann selbst wegen Vorteilsannahme.
Das alles veranlasste den Oberbürgermeister nicht, von seinem Amt als Chef des deutschen Finanzzentrums zurückzutreten. »Ich bin nicht korrupt«, so sein Mantra. Maximal die Mitgliedschaft in der SPD wolle er »ruhen lassen«, sollte die Staatsanwaltschaft tatsächlich Anklage erheben. Der kleinste Preis sozusagen, den er bereit war zu zahlen und der sogar noch Gewinn abwarf – spart es doch immerhin die Mitgliedsgebühr.
Nun hat Feldmann die Gelegenheit wahrgenommen, ab Januar auch seine Amtsgeschäfte ruhen zu lassen. »Damit möchte ich der Stadt Frankfurt ein quälendes und teures Abwahlverfahren ersparen – und die Gelegenheit nutzen, meine Amtsgeschäfte nach nunmehr über zehn Jahren zu einem ordentlichen Abschluss zu bringen«, schrieb Feldmann. Er werde ein »geordnetes Haus« übergeben. Wenn Sie wirklich ein geordnetes Haus sehen wollen, fahren Sie doch mal nach Frankfurt an der Oder. Dort ist es auch schön.
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Lesen Sie hier mehr: Frankfurts Oberbürgermeister Feldmann – Noch sieben lange Monate im Amt
3. Schleusern das Wasser abgegraben
Was hat das umstrittene Vorhaben von Großbritanniens Premier Boris Johnson, Geflüchtete aus Großbritannien für ihr Asylverfahren nach Ruanda ausfliegen zu lassen, mit einer Großrazzia bei Osnabrück am heutigen Vormittag zu tun? Einiges. Bekanntlich hängt in unserer komplexen globalisierten Welt alles mit allem zusammen.
Das dürfte auch auf die Razzien heute zutreffen, die rund 900 Polizisten in Deutschland, England, Frankreich, Belgien und den Niederlanden am Vormittag durchführten. Sie hingen mit dem Umstand zusammen, dass zahlreiche Menschen mithilfe von Schleuserbanden versuchen, von Frankreich über den Ärmelkanal nach Großbritannien zu gelangen. Johnson ärgert das schon lange, denn eigentlich ist Frankreich ein sicheres Land, aus dem man nicht nach Großbritannien weiterziehen müsste, um seinen Asylwunsch vorzutragen. Zur Abschreckung entwarf Johnson den Ruanda-Plan. Frankreich wiederum ärgerte sich über Deutschland, aus Sicht Frankreichs einem Hort für Schleuserbanden, die man hier offenbar allzu sorglos gewähren ließ.
Meine Kollegen Jürgen Dahlkamp, Hubert Gude, Roman Lehberger und Hannes Schrader haben nachgezeichnet, wie der Druck von Frankreichs Innenminsiter Gérald Darmanin zu einem Einsehen bei den deutschen Sicherheitsbehörden führte. Unter Führung der Bundespolizei wird nun gegen Mitglieder eines der führenden kriminellen Netzwerke vorgegangen, das in den vergangenen 12 bis 18 Monaten bis zu 10.000 Menschen mit Schlauchbooten über den Ärmelkanal geschmuggelt haben soll.
Weil viele der mutmaßlichen Täter bewaffnet sind und als gewalttätig gelten, schickte die Bundespolizei ihre Eliteeinheit GSG 9. Auch mehrere Spezialeinsatzkommandos waren im Einsatz. Es ging um 18 Verdächtige und mehr als 20 Objekte in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bremen. Bis zu 75.000 Euro sollen die Schleuser von der Nordküste in Frankreich nach Südengland verdient haben – pro Überfahrt.
Zuletzt hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Johnson an seinem Ruanda-Plan gehindert. Gut möglich, dass die deutsche Bundespolizei nun auch dazu beigetragen hat, dass niemand mehr nach Ruanda ausgeflogen wird und die Asylsuchenden die gefährliche Überfahrt über den Ärmelkanal mangels Möglichkeiten nicht mehr antreten. Doch dann werden sie wohl in Frankreich Asyl beantragen. Ob das der Innenminister bei seinem Groll gegen Deutschland bewusst gewesen ist?
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Lesen Sie hier mehr: Internationaler Schlag gegen Schleuserbanden – Mit Schlauchbooten aus Osnabrück über den Ärmelkanal
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Curevac verklagt Biontech wegen Coronaimpfstoff: Das Tübinger Unternehmen Curevac sieht seine Patente durch den Konkurrenten Biontech verletzt. Deshalb zieht es gegen die in der Coronapandemie deutlich erfolgreichere Konkurrenz aus Mainz nun vor Gericht.
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Justizminister Buschmann will Ersatzfreiheitsstrafe halbieren: Wer eine Geldstrafe nicht zahlen kann oder will, kann sie über die Ersatzfreiheitsstrafe absitzen. Justizminister Buschmann will nun deren Dauer senken. Schwarzfahrer müssen in manchen Fällen aber wohl weiter in Haft.
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Ukrainische Mathematikerin erhält Fields-Medaille: Die Fields-Medaille ist in der Mathematik, was Nobelpreise für die Naturwissenschaften bedeuten. Eine der Preisträgerinnen 2022 ist die 37-jährige Ukrainerin Maryna Viazovska.
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Maria gewinnt gegen Niemeier und steht im Halbfinale: Sie lieferten sich einen Kampf über drei Sätze: Im deutschen Duell gegen Debütantin Jule Niemeier hat die 34-jährige Tatjana Maria den Einzug ins Halbfinale geschafft – es ist der größte Erfolg ihrer Karriere.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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So teuer wird Energie für Verbraucher: An den Energiemärkten herrscht ein Mix aus tatsächlicher Knappheit und der Angst davor, die Preise schnellen hoch. Endkunden werden deutlich mehr zahlen müssen – und Schwimmbäder könnten kalt bleiben oder schließen .
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Blinde Ermittler und ein leichtsinniger Rechtsextremist: 1991 stirbt der Ghanaer Samuel Yeboah bei einem Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim. Erst drei Jahrzehnte später wird gegen einen Rechtsextremisten ermittelt. Kann er noch verurteilt werden ?
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Wie die Hitlers nach Ohio kamen: In Circleville sieht man überall Hitler – Straßen tragen diesen Namen, ein Park, ein Teich, der Friedhof. Warum nur? Der Grund liegt in der Geschichte des amerikanischen Städtchens .
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Wie sich Lampenfieber und Versagensängste besiegen lassen: Der Psychiater Michael Bohne coacht Musikerinnen, Sportler und Manager, die ihre Angst vor öffentlichen Auftritten überwinden wollen. Wie man seine Panik überwindet? Durch sanftes Klopfen, empfiehlt der Experte .
Was heute weniger wichtig ist
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Der Kalte Krieg ist zurück, im Kino läuft wieder »Top Gun« und unsere 16-jährige Tochter hörte am Wochenende bei ihrer Party Kool and the Gang und Earth Wind & Fire (nein, nicht aus dem Plattenregal des Alten, sondern von der Spotify-Playlist der Freunde): Die Achtziger sind wieder da. Dazu passt die heutige Meldung, dass auch Festnetztelefone wieder im Kommen sind. Auch hier fühlte ich mich ganz persönlich zurückgebeamt. In einem früheren Leben habe ich nämlich einen vernünftigen Beruf erlernt: Fernmeldehandwerker bei der Deutschen Bundespost. TAE-Dosen anschrauben, in schwäbischen Haushalten Wählscheibenapparate gegen moderne Tastengeräte austauschen, Kommunikationsanlagen mit drei Geräten in Autohäusern installieren. Wenn also alles rückwärts geht, ist morgen vielleicht die Meldung: Deutsche entdecken Print wieder. Wir beim SPIEGEL haben da übrigens ein tolles Angebot.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: Außenministerin Anna-Lena Bearbock beim Besuch der deutschen »Minusma«-Truppen in Mali (im April 2022).
Cartoon des Tages: Kaltduscher
Illustration: Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
Heute vor 21 Jahren nahm sich die erste Ehefrau des früheren Bundeskanzlers Helmut Kohl das Leben. Sie litt an einer Lichtallergie, aber litt sie nicht auch am politischen Betrieb, an ihrer Rolle als »Frau an der Seite von«, letztlich an ihrem Mann? Das alles – so denkt man – war eine ganz andere Epoche, heute sind wir viel weiter in Sachen Emanzipation.
Doch das täuscht. »Am Anfang hatte sie noch Träume einer partnerschaftlichen Beziehung, doch diese Fiktion ging unter«, sagt ihr Sohn Peter. Hannelore Kohl galt vielen als konservatives Anhängsel des Machtpolitikers Kohl, die nichts konnte, nichts zu melden hatte, die am besten nur zu Dekozwecken da zu sein hatte.
Wenn man sich die berührende Doku des früheren SPIEGEL-Chefredakteurs Stefan Aust und seines Co-Autors Daniel Bäumler ansieht, entdeckt man erstaunlich viele Parallelen zu heute. Der politische Betrieb ist längst nicht so aufgeklärt, wie er tut, die Bandagen sind mitunter härter, die persönlichen Verletzungen oft grober. Ich empfehle Ihnen den Film »Hannelore Kohl – Die erste Frau« von 2020 sehr.
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Einen schönen Abend Ihnen, morgen bringt Sie meine wunderbare Kollegin Anna Clauß wieder auf Stand.
Herzlich
Ihr Janko Tietz
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