Putin sucht Freunde
Es ist praktisch für Politiker, wenn es im eigenen Land keine Opposition und keine freien Medien gibt. Dann kann man problemlos den größten Nonsens verbreiten. Russlands Präsident Wladimir Putin entwickelt jetzt eine ganze eigene Erzählung zu seinem Angriff auf die Ukraine: Er gibt den Freiheitskämpfer, der sich gegen die angebliche Übermacht des Westens stellt. Der Nato warf er vor, sie mische sich in der Ukraine ein, weil es ihr um »ihre Vorherrschaft, ihre imperialen Ambitionen« gehe. Bundeskanzler Olaf Scholz nannte diese Sichtweise beim Nato-Gipfel »lächerlich«, womit er recht hat.
Wladimir Putin im Kreml
Foto: IMAGO/Dmitry Azarov / IMAGO/ITAR-TASS
Tatsächlich klingt die Putin-Melodie à la Che Guevara vertraut. Schon zu Sowjetzeiten gab sich Moskau gerne als Anwalt der Armen in der sogenannten Dritten Welt aus. Während viele Kommunisten damals allerdings noch aus ehrlicher Überzeugung handelten, sucht Putin heute nur eine Ausrede für seine verquere Machtpolitik.
Der Westen zeigt sich beim Nato-Gipfel geschlossen, Putin ist dagegen ziemlich allein und hofft auf mehr Unterstützung weltweit. Die könnte er mit seinen Sprüchen gegen die angeblichen Imperialisten aus dem Westen am ehesten in Afrika, Lateinamerika und Asien finden. Auch in Peking kommt diese Rhetorik gut an. Dort bedient man sich bekanntlich ebenfalls gerne der alten Anti-Kolonialisten-Sprüche, gewürzt mit einer feinen Prise Anti-Amerikanismus, ganz wie in alten Zeiten.
Dazu passt, dass Putin angeblich doch bereit sein soll, erstmals wieder Getreide- und Düngemittellieferungen aus ukrainischen Häfen zuzulassen. Die Hauptabnehmer dafür sitzen zum Beispiel in Afrika und im Mittleren Osten. Also dort, wo er Verbündete sucht. Die kann er wohl schlecht verhungern lassen.
Mehr Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:
-
Das geschah in der Nacht: In einem Mehrfamilienhaus in Odessa ist offenbar eine russische Rakete eingeschlagen, mindestens zehn Menschen starben. Und: Bundeskanzler Scholz erklärt, der Kremlchef habe die Entscheidung zum Krieg schon Monate im Vorfeld getroffen. Der Überblick.
-
Russland darf wieder nach Kaliningrad liefern – so sieht der Deal aus: Die EU-Kommission will den umstrittenen Transit in die russische Exklave Kaliningrad klären und kommt dem Kreml entgegen. Litauen fühlt sich als Verlierer des Konflikts.
-
Warum die Russen die Schlangeninsel aufgegeben haben: Dank westlicher Waffensysteme hat die Ukraine das lange umstrittene Eiland befreit. Moskau spricht von einem freiwilligen Rückzug. Doch die Wahrheit sieht anders aus.
-
Was der Panther KF51 über die Zukunft der Kriegsführung verrät: Die meisten Panzer im Ukrainekrieg entsprechen nicht dem Stand der Technik. Wie die Maschinen bald aussehen könnten, zeigt nun ein neues Kampfgerät aus deutscher Produktion.
Ein Gericht als Wahlhelfer
Es mag ein wenig paradox klingen, aber derzeit ist der Supreme Court der USA, der Oberste Gerichtshof, wahrscheinlich der beste Wahlhelfer für US-Präsident Joe Biden und die Demokraten. Bislang sah es eigentlich so aus, als würden sie bei den anstehenden Midterm-Wahlen zum Kongress im Herbst von den Wählerinnen und Wählern abgestraft. Aber nun sind die Aussichten für Biden und seine Leute vielleicht nicht mehr ganz so düster – dem Supreme Court sei Dank.
Demonstranten vor dem Supreme Court
Foto: SHAWN THEW / EPA
Denn das Gericht, das seit der Präsidentschaft von Donald Trump von den Konservativen beherrscht wird, liefert derzeit eine Serie von Entscheidungen ab, die bei vielen Amerikanerinnen und Amerikanern das Blut in Wallung bringt. Sei es das Abtreibungsurteil oder die Lockerung der Waffenrechte: Praktisch jedes dieser Urteile aus den vergangenen Tagen ist dazu angetan, die Anhängerschaft der Demokraten sowie viele Wechselwähler im November zu den Wahlurnen zu treiben – wo sie dann gegen die Republikaner stimmen könnten, die dem Land das alles mit ihren Richterberufungen eingebrockt haben. Erste Umfragen zeigen, dass die meisten aktuellen Entscheidungen der Richter höchst unpopulär sind.
Nun hat das Gericht zudem die Befugnisse der Biden-Regierung beim Klimaschutz massiv eingeschränkt. Die Umweltschutzbehörde EPA darf den CO₂-Ausstoß bei Kraftwerken nur noch sehr begrenzt regulieren, sagt das Gericht. Für die Demokraten ist die Botschaft für die Wahlen somit denkbar einfach: Die einzige Chance, diese und andere Entscheidungen des Gerichts durch Gesetze rückgängig zu machen, ist, der Partei im Herbst ordentliche Mehrheiten im Kongress zu sichern. Das nennt man dann wohl Glück im Unglück.
Expertenbericht zu Coronapolitik
Es ist ein bekanntes Phänomen: In der Pandemie sind plötzlich die meisten Deutschen zu Coronaexperten geworden. Jeder hat seine eigene Meinung dazu, welche Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie wann sinnvoll sind. Schulschließungen, Masken im Bus, Testpflicht in der Kneipe, endlose Heimarbeit – muss das alles sein?
Nun könnte die Stunde der Wahrheit kommen. Eine Kommission aus Experten legt eine Auswertung zu bisherigen staatlichen Beschränkungen vor. Erstmals wird es also einigermaßen konkret mit echten Daten – und nicht nur gefühlten Annahmen – einen Überblick zu dem Thema geben.
Coronatest in Deutschland
Foto: Hendrik Schmidt / dpa
Die gesetzlich vorgegebene Evaluation soll vor allem die Vorgaben im Rahmen der mehrere Monate geltenden »epidemischen Lage von nationaler Tragweite« beleuchten. Wichtig ist das alles, weil von der Auswertung zu einem guten Teil abhängen könnte, welche Maßnahmen in Zukunft gelten werden.
Für den Herbst und Winter wird die nächste größere Coronawelle befürchtet. Die Gesundheitsminister der Länder wollen noch am Freitag bei einer Sonderkonferenz über mögliche Pläne für neue Einschränkungen beraten. Auch die Ampelkoalition in Berlin will sich nach Vorlage des Berichts positionieren.
Hier geht’s zum aktuellen Tagesquiz
Die Startfrage heute: 2021 stiegen die Verbraucherpreise in Deutschland so stark wie seit fast 30 Jahren nicht mehr. Bei wie viel Prozent lag die Inflationsrate gegenüber dem Vorjahr?
Verlierer des Tages…
Weißblaue Fahne über dem Landtag in München
Foto: Michael Kappeler/ dpa
… sind die älteren Herrschaften von CSU, Freien Wählern und AfD in Bayern. In einem Anfall von typischem Struktur-Konservatismus haben sie einen Antrag abgelehnt, das Mindestalter für das Amt des Ministerpräsidenten in dem Freistaat zu senken. Laut Gesetz darf in Bayern nur Regierungschef werden, wer mindestens 40 Jahre alt ist.
Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Die Grünen in Bayern sehen in der Ablehnung des Antrags eine gezielte Blockade ihrer möglichen Spitzenkandidatin für die nächste Landtagswahl. Fraktionschefin Katharina Schulze ist 37 Jahre alt und darf nun nicht kandidieren.
Man mag von Katharina Schulze halten, was man will, aber die Altersgrenze von 40 Jahren ist natürlich Unfug. Nichts spricht dagegen, dass Dreißigjährige Spitzenposten übernehmen können. In Frankreich war Emmanuel Macron 39 Jahre alt, als er Präsident wurde. Ach ja, und wie war das mit Franz-Josef Strauß? Der wurde 1953 zum Bundesminister ernannt – mit jugendlichen 38 Jahren. Da war das Alter natürlich kein Problem.
Die jüngsten Meldungen aus der Nacht
-
RKI veröffentlicht Wochenbericht: Höhere Inzidenzen, mehr Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen, wieder mehr Patienten mit Covid-19 auf Intensivstationen: Der aktuelle Lagebericht des Robert Koch-Instituts zeichnet ein wenig positives Bild.
-
Trump beleidigt Ausschuss-Zeugin: Cassidy Hutchinson hat mit ihrer Aussage vorm Kapitol-Ausschuss für Aufsehen gesorgt – und Ex-Präsident Trump weiter in die Bredouille gebracht. Der holte nun kräftig gegen die frühere Mitarbeiterin des Weißen Hauses aus.
-
FBI setzt »Krypto-Queen« auf Liste der zehn meistgesuchten Verbrecher: Ruja Ignatova erfand die Gaga-Währung OneCoin, brachte Millionen Investoren um ihr Geld – und verschwand dann spurlos. Nun findet sie sich auf der berühmten »Ten Most Wanted«-Liste der US-Bundespolizei wieder.
Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute
-
»Das halte ich für Gotteslästerung«: Annette Kurschus unterstützt inzwischen Waffenlieferungen an die Ukraine. Hier erklärt die EKD-Vorsitzende ihren Kurswechsel – und was sie an der versuchten Versöhnung mit Russland bis heute richtig findet .
-
Das Leichtgewicht: Jair Lapid ist am Ziel seiner Wünsche: Er ist der neue israelische Premier. Allerdings nur kommissarisch – um im Amt zu bleiben, muss er die nächste Wahl gewinnen. Wofür steht er?
-
Dieser verdammte Leistungsdruck: Der Kindergarten hatte empfohlen, mit der Einschulung meines Sohnes noch zu warten. Wir haben uns dagegen entschieden. Nach einem Jahr Schule frage ich mich: War das richtig so?
-
Der Glücksspieler: Mit 25 war er faul – und unbekannt. Mit fast 29 schreibt der Kölner Oscar Otte nun aber in Wimbledon eine unwahrscheinliche Erfolgsgeschichte. Und selbst gegen das spanische »Wunderkind« Carlos Alcaraz muss die nicht enden.
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Roland Nelles