1. Nur kleine Jungs, die mit Steinen werfen?
Wer bisher mit der Wendung von der »toxischen Männlichkeit« nichts anfangen konnte, der (oder die) dürfte spätestens dieser Tage ins Grübeln kommen – oder in nackte Panik verfallen. Ein Satz wie »Alles war gut zwischen uns, aber jetzt wird es Spannungen geben« klingt, als sagte ihn ein Mann zur Frau, die ihm gerichtlich hat verbieten lassen, sich ihr mehr als 150 Meter zu nähern. Tatsächlich sagte ihn Putin über Schweden und Finnland, die demnächst der Nato beitreten wollen.
Westlicherseits sieht es auch düster aus, wenn »die Jungs« beisammen sind. Beim Treffen der G7 auf Schloss Elmau hatte der britische Regierungschef Boris Johnson über das Ausziehen der Jacketts wegen der hohen Temperaturen gewitzelt: »Wir alle müssen zeigen, dass wir härter sind als Putin«, worauf der kanadische Premier Justin Trudeau auf das Reiten mit nacktem Oberkörper zu sprechen kam – eine Anspielung auf Putin, wie sie in der Umkleidekabine eines Provinzfußballvereins nicht ungewöhnlich ist.
Putin wiederum reagierte darauf im fernen Turkmenistan mit der Bemerkung: »Ich weiß nicht, wie sie sich ausziehen wollten, oberhalb oder unterhalb der Gürtellinie. Ich denke, es wäre in jedem Fall ein widerlicher Anblick gewesen«.
Die Gegenprobe muss erlaubt sein, worüber sich wohl eine rein weiblich besetzte Riege der Weltenlenkerinnen gegenüber einer Widersacherin in Moskau beömmelt hätte. Es fällt uns nichts ein. In einem ihrer Songs dichtete die britische Band Elbow: »The leaders of the free world are just little boys throwing stones«, und da ist wohl etwas dran.
Wüsste man nicht, dass es hinter der Kulisse weiterhin wohlgeordnet und diplomatisch zugeht, man müsste sich angesichts solcher Körpersignale jedenfalls langsam Sorgen machen.
-
Lesen Sie hier mehr: »Lass es bleiben« – Scholz appelliert an Putin
-
Russlandexpertin Sabine Fischer: »Im Moment wird das russische Narrativ völlig umgestrickt«
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
-
Russland zieht Truppen von Schlangeninsel ab: Russland hat die Schlangeninsel im Schwarzen Meer aufgegeben. Moskau spricht von einer »Geste des guten Willens«, Kiew hingegen von einem Erfolg der eigenen Streitkräfte.
-
Pro-Kreml-Komiker zeigen Ausschnitte aus Anruf bei Warschaus Bürgermeister: Wie sie es angestellt haben, verraten sie weiterhin nicht. Doch ein Video von »Vovan und Lexus« scheint zu belegen, dass die russischen Satiriker hinter dem Fake-Klitschko stecken.
-
Botschafter Melnyk provoziert erneut mit Äußerungen über ukrainischen Nationalisten: Ukraine-Botschafter Melnyk macht aus seiner Verehrung für den Nationalisten Stepan Bandera keinen Hehl. Nun wurde er in einem Interview mit judenfeindlichen Aussagen Banderas konfrontiert.
-
Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
2. Grünes Licht für grünes Kraut?
Als ich die Schlagzeile »Lauterbach wirbt für vorsichtige Legalisierung von Cannabis« las, dachte ich zuerst und ganz spontan: »Cool, das hätte ich dem Heiner Lauterbach gar nicht zugetraut«, und stellte mir sogleich eine Werbekampagne vor, die den Schauspieler beim – vorsichtigen! – kiffen zeigte. Nein, ich hatte nichts geraucht.
Tatsächlich gibt es nicht wenige Menschen, die eine Liberalisierung der Drogenpolitik in dieser Hinsicht sehr begrüßen würden. Eine Entkriminalisierung würde schon genügen. Man könnte es auch »Vernünftigung« nennen.
Lauterbach jedenfalls, Karl, sprach kenntnisreich. Im Zentrum der geplanten Neuregelung (auf die, wie gesagt, viele Menschen zu den Klängen von »The Dark Side Of The Moon« schon seit Jahrzehnten warten) müsse der Kinder- und Jugendschutz stehen. Denn Cannabismissbrauch könne bei jungen Menschen »ein Leben zerstören, bevor es richtig angefangen hat«.
Erwartet wird ein Gesetzentwurf bis Ende des Jahres, eine Evaluierung der Situation solle dann in vier Jahren erfolgen. Wenn man sieht, was beispielsweise in einigen US-Bundesstaaten für eine blühende (!) Industrie um Cannabis entstanden ist, kann das nur begrüßen. Skeptisch macht hingegen die Entwicklung im traditionell liberalen Holland, wo zwar der Verkauf und Konsum straffrei, der Anbau aber verboten ist – einen besseren Nährboden für kriminelle Strukturen können sich Kriminelle gar nicht wünschen.
Mit Toleranz und Halbherzigkeit also ist es nicht nur nicht getan, es könnte alles nur noch schlimmer machen. Wenn es richtig läuft, wird es dagegen bald zugehen wie in dem Witz über den Reggae-Fan, dem plötzlich das Gras ausgeht? Was sagt er dann? »Mach die langweilige Musik aus!«
-
Lesen Sie hier mehr: Lauterbach wirbt für vorsichtige Legalisierung von Cannabis
-
Cannabis legalisieren: Eine Anleitung in acht Schritten
3. Clash auf dem Campingplatz?
»Worauf freuen Sie sich am meisten, jetzt, da die Pandemie nicht mehr alles beherrscht?«. Es war eine harmlose Frage, eher ein Frägelchen zum Ausklang eines langen SPIEGEL-Gesprächs, das Rafaela von Bredow und Veronika Hackenbroch dem Virologen Christian Drosten stellten.
Seine Antwort im aktuellen Heft: »Dass ich mich wieder frei bewegen kann, um beispielsweise mal wieder Campingurlaub zu machen«. Auf die Nachfrage, ob das wirklich sein Urlaubsplan sei für den Sommer: »Ja klar. Ich mache immer so normale Sachen«. Nun stellt sich heraus, dass ihm »normale Sachen« mittelfristig wohl verwehrt bleiben werden.
Beim Zelten an der Müritz im südlichen Mecklenburg-Vorpommern wurde Drosten von Dauercampern – zwei Frauen, ein Mann – als »Massenmörder« beschimpft, der »Kinder auf dem Gewissen« habe. Der Virologe hat Anzeige wegen Beleidigung und Verleumdung gestellt.
Unter anderem wurde Drosten als »Transhumanist« bezeichnet. Der Begriff zeigt, wie tief der Schlick aus Bullshit ist, der während der Pandemie verbreitet wurde. Transhumanismus ist die flausenhafte bis triviale Vorstellung, der Mensch als solcher könne durch Technik überwunden (siehe: Dietmar Dath, »Die Abschaffung der Arten«), die Menschheit als Spezies technokratisch gesteuert werden – etwa durch ein Virus (siehe: Dan Brown, »Inferno«).
Der Vorfall ist mehr als eine Petitesse von gestern. Er zeigt exemplarisch, dass zwar »die Pandemie nicht mehr alles beherrscht«, die gesellschaftliche Vergiftung aber längst noch nicht auskuriert ist. Im Gegenteil. Es ist ja nicht so, dass Drosten in eine wissenschaftliche Auseinandersetzung verwickelt worden wäre. Es ging um Grundsätzlicheres und beängstigend Idiotisches.
Wir werden es auch nach der Pandemie mit einer knurrenden Empfänglichkeit für Abseitiges zu tun haben. Mit dem festen Willen mancher Menschen, ihre Mischung aus Dummheit und Verblendung fest zu vernageln und gedankendicht zu versiegeln. Da spielt es dann auch keine Rolle, wenn Quervordenker Michael Ballweg wegen Betrugsverdacht in U-Haft sitzt.
Nicht nur Christian Drosten ist zu wünschen, dass er bald wieder »ganz normale Sachen« machen kann.
-
Lesen Sie hier das ganze Gespräch: »Da fühle ich mich verschaukelt«
(Sie möchten die »Lage am Abend« per Mail bequem in Ihren Posteingang bekommen? Hier bestellen Sie das tägliche Briefing als Newsletter.)
Was heute sonst noch wichtig ist
-
Israels Abgeordnete stimmen für Auflösung des Parlaments: Israels Acht-Parteien-Regierung ist gescheitert. Noch in diesem Jahr soll ein neues Parlament gewählt werden. Es werden die fünften Wahlen sein innerhalb von weniger als vier Jahren.
-
Gazprom streicht Dividende, Aktie stürzt ab: Die hohen Energiepreise spülten der russischen Gasfirma Gazprom viele Milliarden in die Kasse. Doch wegen unsicherer Aussichten streicht der Konzern nun die Dividende. Aktionäre reagieren schockiert.
-
Buckingham-Palast prüfte Vorwürfe gegen Meghan – aber schweigt zu Konsequenzen: Frühere Mitarbeiter des britischen Königshauses hatten sich über Mobbing durch Herzogin Meghan beschwert. In einem Jahresbericht ist zwar von einer Untersuchung die Rede – die Folgen bleiben jedoch unklar.
Meine Lieblingsgeschichte heute: …
… handelt von zwei Helden, Port und Starboard, die derzeit wie Bonnie und Clyde im Meer vor Südafrika ihr Unwesen treiben. Es handelt sich um ein mutmaßlich verliebtes Paar aus der zoologischen Ordnung der Wale, Schwertwale, also Orcas. Und machen gerade eine aquatische Landschaft, die bisher gerade bei Weißen Haien sehr beliebt war, zu ihrem Revier.
Laut einer Studie des »African Journal of Marine Science« meiden Weiße Haie seit einer Weile das Gebiet vor Gansbaai, um den Walen nicht in die Quere zu kommen. Schon in den vergangenen Jahren wurden zahlreiche Weiße Haie angespült, denen die Leber oder das Herz fehlte. Kriminologisch geschulte Meeresbiologinnen stellten fest, dass sie alle Opfer des gleichen Paares wurden. Es ist wie in »Alien vs. Predator« – zwei Kreaturen, denen man nicht in die Quere kommen möchte, kommen einander ins Gehege.
Apropos »Gehege«: Dem gewöhnlichen und gesunderweise thalassophobisch veranlagten Schnorchler (also mir) ist es im Meer gleichgültig, wessen großer Schatten da gerade aus der Tiefe zu ihm heraufschnellt ist – ob Thunfisch, Delfin oder Pottwal. Nackte Panik ist garantiert. Ungewöhnlich abenteuerlustige Menschen aber beobachten sehr gerne vor Südafrika den Weißen Hai von einem bissfesten Käfig aus. Mit diesem Spezialzweig des Tourismus geht es wohl gerade zuende.
Leider, und auch davon erzählt diese Geschichte, verändert die Anwesenheit von Port und Starboard bereits das Ökosystem. Weiße Haie fressen gerne Pelzrobben. Weil aber nun auch Orcas gerne Weiße Haie anknabbern, gibt es mehr Pelzrobben, die ihrerseits zu den vom Aussterben bedrohten afrikanischen Pinguinen nicht »Nein danke, heute nicht, ich muss auf meine Linie achten!« sagen können.
Hin und wieder dürfen wir durchaus in uns gehen und dem lieben Herrgott – oder Charles Darwin – für unseren komfortablen Logenplatz in der Nahrungskette danken.
-
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Orca-Paar vertreibt und tötet Weiße Haie in Südafrika
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
-
Momentan nur Mitläufer: Der Kanzler will die internationale Politik in der ersten Reihe mitgestalten. Aber das ist schwieriger als gedacht: Der Gipfelmarathon der vergangenen Tage hat gezeigt, was noch fehlt .
-
»Ohne die Geschäfte mit China würde die Inflation noch weiter explodieren«: VW-Chef Diess kritisiert den Chinakurs der Bundesregierung – Deutschland unterschätze, wie stark sein Wohlstand von der Volksrepublik abhängt .
-
»Nicht mehr ganz Frieden, noch nicht ganz Krieg«: Als die Coronaimpfungen stockten, holte Olaf Scholz Generalmajor Carsten Breuer als Krisenmanager. Hier zieht der Soldat Bilanz, erklärt sein nächstes Großprojekt – und welche neuen Bedrohungen auf uns zukommen .
-
Wie Sie sich vor Zecken schützen können – und was nach einem Stich zu tun ist: Zecken übertragen die Krankheit FSME – und das in Deutschland immer häufiger. Welche Körperstellen bevorzugen die Tiere? Wer sollte sich impfen lassen? Die wichtigsten Fragen und Antworten .
Was heute weniger wichtig ist
-
Dakota Johnson, 32, hat erstmals über ihre Erfahrungen bei den Dreharbeiten zu »Fifty Shades of Grey« gesprochen. Darin spielt Johnson die Rolle der Anastasia Steele, eine junge Literaturstudentin, die den Milliardär Christian Grey (Jamie Dornan) kennenlernt, der eine heimliche Leidenschaft für BDSM-Spiele hat, eine Flause, die sie ihm dann ganz am Ende austreibt – mutmaßlich; wer es ganz genau wissen will, erkundige sich wahllos bei einer Leserin der literarischen Vorlage, also eigentlich jede zweite Frau ab 21.
Der »Vanity Fair« klagte Johnson ihr Leid, dass die Autorin E.L. James einen enormen und nicht immer produktiven Einfluss auf das Drehbuch haben wollte. Für solche Fälle gibt es normalerweise heutzutage die sogenannte »Michael-Ende-Klausel« in jedem Filmvertrag, aber gut. Hier nicht: »Es gab jedoch Teile in den Büchern, die in einem Film einfach nicht funktionieren, wie der innere Monolog«, so Johnson stoßseufzend. Wie bei »Ulysses«, da scheitert’s auch am inneren Monolog.
Johnson, Tochter von Melanie Griffith und Don Johnson, nannte die Dreharbeiten zwar »psychotisch«, sie seien »immer ein Krampf« gewesen – bereuen würde sie ihr Engagement aber nicht. Was wiederum ein wenig an BDSM erinnert.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Lindner hatte schon zuvor gesagt, dass er befriste Maßnahmen wie das 9-Euro-Ticket oder den Tankrabatt nicht verlängern möchte.«
Cartoon des Tages: Reaktionen hier, Reaktionen da
Foto: Illustration: Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
Hin und wieder empfiehlt sich ein Rückzug an einen ganz und gar unwahrscheinlichen Rückzugsort, um dessen geheime Reize zu kontemplieren. Man glaubt ja gar nicht, wie kühl und ruhig so eine Waschküche sein kann, ein Dachboden oder ein Hausflur. Für mich als Westdeutschen war völlig neu, dass es in der DDR eine Garagenkultur gegeben haben soll, dass die Höfe als Refugium und Treffpunkt dienten.
Nach meiner (westdeutschen) Erfahrung war eine Garage immer etwas, in dem höchstens RAF-Terroristinnen ihre gestohlenen Fluchtwagen unterstellten oder der Siggi aus dem dritten Stock versuchte, unter allerlei Flüchen »das Maximum« aus seinem Opel Ascona rauszuholen. Little did I know, dass der Garagenhof im idyllisch umgrünten Schatten der Plattenbauten ein identitätspolitisches Refugium darstellte – und noch weniger, dass inzwischen auch diese nostalgischen Orte abrissgefährdet sind .
Offenbar handelt es sich bei Garagenhöfen um die Datschensiedlung des kleinen Mannes, der kleinen Frau. Im Westen ist derlei völlig unbekannt, auch der soziale Aspekt darf hier traditionell als unterbelichtet gelten. Trotzdem gibt es Zwischenbereiche und Orte, die normalerweise nicht einmal als Orte wahrgenommen werden, an denen man herumstehen und in Ruhe wunderlich werden kann.
Allein im dunklen Treppenhaus beispielsweise lässt sich ablauschen, wer gerade mit wem streitet, wo ARD und wo RTL läuft und, wenn wir schon beim »Laufen« sind, hinter welcher Wand genau sich die Abflussrohre befinden. Auch kann man getrost so lange in der Tiefgarage stehen bleiben, bis die Neonröhren von selbst ausgehen, und das zarte Knistern der Motoren eben abgestellter Fahrzeuge genießen. Ich wusste beispielsweise nicht, dass bei uns (im Westen) Fledermäuse nisten.
Übertreiben sollte man es mit dieser Übung aber nicht, weil man sonst schnell einen merkwürdigen Ruf bekommt. Oder Nachbarn sich dazugesellen und eine Tradition begründet wird.
Einen ruhigen Abend. Herzlich
Ihr Arno Frank
Hier können Sie die »Lage am Abend« per Mail bestellen.