Wie geht es den Deutschen in Zeiten von Krieg und Inflation? Wie resilient ist das Land?
Wirtschaftsminister Robert Habeck klang jüngst im SPIEGEL-Gespräch optimistisch – und voller Bewunderung. Die Menschen in Deutschland trügen die hohen Preise und die Inflation mit »großer Geschlossenheit«. Das sei eine »starke Antwort« auf Wladimir Putins Plan, eine Spaltung der Gesellschaft zu erreichen, sagte Habeck. »Putin will, dass sich unser Land zerlegt. Aber wir zerlegen uns nicht.«
Wer aber an diesem Mittwoch Ulrich Schneider, dem Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, zuhörte, bekam ein völlig anderes Bild gezeichnet. »Deutschland droht am unteren Rand schlicht auseinanderzubrechen«, sagte Schneider bei der Vorstellung des Armutsberichts für das Jahr 2021.
Rekord bei der Armutsquote
Der Chef des Spitzenverbands der Freien Wohlfahrtspflege hatte gleich mehrere negative Rekorde zu verkünden:
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Die Armutsquote hat im Jahr 2021 mit 16,6 Prozent einen neuen Rekord erreicht. Noch nie seit der Wiedervereinigung war sie so hoch. 13,8 Millionen Menschen gelten in Deutschland als arm, 300.000 mehr als 2020. Als arm wird bezeichnet, wer weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen gesellschaftlichen Einkommens zur Verfügung hat.
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In den beiden ersten Jahren der Pandemie 2020 und 2021 ist die Armutsquote laut dem Bericht von 15,9 auf 16,6 Prozent angewachsen. Es ist der steilste Anstieg innerhalb von zwei Jahren, der im Mikrozensus seit 1990 gemessen wurde. Schutzschilde und Sofortmaßnahmen der Bundesregierung und der Länder hätten 2020 noch dafür gesorgt, dass die Armut trotz des wirtschaftlichen Einbruchs nur moderat angestiegen sei, sagte Schneider. »Erst 2021 scheinen die Entwicklungen voll auf die Armutsentwicklung durchgeschlagen zu sein.«
Warteschlange vor Berliner Tafel: Alters- und Kinderarmut sind stark gestiegen
Foto: Christophe Gateau / dpa
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Vor allem unter den Erwerbstätigen stieg die Armut stark an. So wuchs die Quote bei den Selbstständigen im Berichtszeitraum von 9 auf 13,1 Prozent, bei den Festangestellten von 7,9 auf 8,4 Prozent. Einer der Gründe: ein Zuwachs »offensichtlich erzwungener Teilzeitarbeit«, wie Schneider es formulierte.
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Einen neuen Rekord stellt der Bericht auch bei der Alters- und Kinderarmut fest. Knapp 18 Prozent der Rentnerinnen und Rentner und knapp 21 Prozent der Kinder und Jugendlichen gelten in Deutschland demnach als arm. Noch nie seien im Mikrozensus höhere Werte gemessen worden.
Die Armut ist in Deutschland regional höchst unterschiedlich verteilt. In Bayern, Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein, aber auch in Brandenburg gibt es weniger Arme als im Bundesdurchschnitt. Deutlich ärmer als der Durchschnitt sind hingegen die Menschen in Nordrhein-Westfalen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Berlin und Bremen. Als »armutspolitische Problemregion Nummer eins« bezeichnete der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes das Ruhrgebiet. Mehr als jeder Fünfte der 5,8 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner lebe dort in Armut, sagte Schneider.
»Die Armut vertieft sich. Die, die vorher schon nicht wussten, wie sie über den Monat kommen, wissen jetzt zur Mitte des Monats nicht mehr, wie sie das Ende des Monats finanziell erreichen sollen«, beschreibt Schneider die aktuelle Situation.
Der SUV bleibt nicht in der Garage
Der Verbandschef beleuchtete aber auch die andere Seite: Viele Menschen hätten so viel Geld, dass sie reichlich davon zurücklegen könnten: Sieben Billionen Euro hätten Privathaushalte in Deutschland auf Sparkonten. »Es gibt Haushalte mit sehr gutem Einkommen, die im Alltag von den Preissteigerung überhaupt nicht berührt werden«, sagte Schneider. »Sie werden auch bei steigenden Spritpreisen ihren SUV nicht in der Garage lassen und werden auch weiterhin an der Wurst- oder Gemüsetheke einkaufen, ohne auf die Preisschilder zu schauen.« Der Graben, der sich durchs Land ziehe, werde immer tiefer.
Die Vorsitzenden der Ampelparteien, Lars Klingbeil (SPD), Christian Lindner (FDP), Ricarda Lang (Grüne) bei der Verkündung des Entlastungspakets
Foto: Bernd von Jutrczenka / dpa
Wie aber könnte die Politik gegensteuern? Zumindest nicht so, wie es die Ampelkoalition derzeit versuche, findet Schneider. Er erinnert daran, dass nur zwei der 29 Milliarden Euro, die das Entlastungspaket der Bundesregierung koste, an einkommensschwache Haushalte gingen. Und er beklagt einen grundsätzlichen Geburtsfehler des Koalitionsvertrags: »Wer sagt, dass er auf keinen Fall die Steuern erhöhen wird, wird die Armut nicht bekämpfen.«
Höhere Grundsicherung gefordert
Nach Ansicht Schneiders ist dringend ein neues Entlastungspaket nötig. Drei konkrete Maßnahmen fordert der Paritätische von der Bundesregierung:
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Die Grundsicherung müsse um mehr als 200 Euro angehoben werden, von derzeit 449 auf 678 Euro. Separat müssten die Energiekosten in voller Höhe übernommen werden.
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Beim Wohngeld müsse die Einkommensgrenze deutlich angehoben werden. Derzeit würden nur 700.000 Menschen Wohngeld beziehen – das passe nicht zu der viel höheren Zahl an Menschen, die in Armut lebten.
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Analog zur Erhöhung der Hartz IV-Sätze müsse auch das Bafög für Studierende deutlich erhöht werden.
Wo die Lage schon 2021 düster war, werde sie ab Herbst, wenn Energie-Nachzahlungen kämen, noch schwieriger, prophezeite Schneider. Die Entwicklung treffe zunehmend auch die Mittelschicht, am unteren Rand der Gesellschaft aber werde dann »schlichte Verzweiflung ausbrechen«.