Heute geht es um die drohende Hungerkatastrophe, um den Parteitag der Linken, um Abtreibung, um zweierlei Angriffe auf Parlamente und um Franz Grillparzer.
Null Menschlichkeit
345 Millionen Menschen haben nicht genug zu essen. Diese dramatische Zahl wird stark steigen, weil der Krieg verhindert, dass die Ukraine ausreichend Weizen exportieren kann. Die Küsten des Landes sind vermint, damit sich Russlands Kriegsschiffe nicht nähern können. Würde die Ukraine die Minen räumen, um die Transportschiffe rausfahren zu lassen, könnten im Gegenverkehr die russischen Kriegsschiffe reinfahren. Das ist ein Teil des Problems, ein anderer sind Ernteausfälle, weil auf Feldern gekämpft wird.
Heute beginnt in Berlin die Internationale Konferenz für Ernährungssicherheit, die diese Probleme nicht wird lösen können. Das könnte nur Russlands Präsident Wladimir Putin, indem er garantiert, dass seine Schiffe offene Seewege nicht kriegerisch missbrauchen. Dieses Mindestmaß an Menschlichkeit scheint er jedoch nicht aufbringen zu wollen.
Getreide auf einem Feld in der Region Odessa
Foto: Ukrinform / dpa
Die Berliner Konferenz wird sich daher vor allem um Gerechtigkeit kümmern müssen. Es darf nicht sein, dass die Nahrungsmittel nur in Länder fließen, in denen man die hohen Preise noch bezahlen kann. Auch Afrika muss einen fairen Anteil bekommen, um Hungerkatastrophen zu verhindern.
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Greta Garbo der Politik
Die Figur der politischen Diva, männlich oder weiblich, ist in Deutschland eher selten prominent besetzt. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hat im Vorwahlkampf 2020/21 einen plumpen Versuch in diese Richtung gemacht, blieb jedoch komplett frei von Grandezza, womit er ein wichtiges Qualifikationsmerkmal nicht erfüllte.
In der Rolle der Polit-Diva ist Sahra Wagenknecht über Jahre konkurrenzlos geblieben. Die einen wickelt sie um den kleinen Finger, die anderen snobt sie ungerührt ab. Eine Diva muss das können, genauso den beleidigten Rückzug und die forsche Attacke. Dazu natürlich krasse Egozentrik. In ihrer kühlen Undurchsichtigkeit steht Wagenknecht der »schwedischen Sphinx« Greta Garbo wenig nach. Und die war eine der größten Diven aller Zeiten.
Sahra Wagenknecht
Foto: Britta Pedersen / dpa
Es ist ein hübscher Einfall der Geschichte, Wagenknecht in die Partei Die Linke zu pflanzen, zu deren Habitus eine Diva am wenigsten passt. Auch deshalb knallt es ständig. Zudem klaffen die politischen Positionen zwischen dem großen Wagenknecht-Ich und der Parteiführung oft weit auseinander. Das könnte sich ab heute auf dem Parteitag der Linken in Erfurt bestätigen. Wagenknecht selbst wird allerdings fehlen – nach eigenen Angaben krankheitsbedingt.
Vorab sagte Lorenz Gösta Beutin, der als stellvertretender Vorsitzender kandidiert: Wagenknecht sei »allzeit breit, Genoss’innen oder die gesamte Linke vors Auto zu stoßen«.
Ende der Aushöhlung
Der Bundestag wird heute voraussichtlich das Werbeverbot für abtreibende Ärztinnen und Ärzte kippen. Eine überfällige Reform. Wenn Abtreibungen unter bestimmten Bedingungen legal sind, und zum Glück ist das so in Deutschland, müssen auch die Ärztinnen und Ärzte auf sich aufmerksam machen können.
Foto: Silas Stein / picture alliance / dpa
Die bisherige Regelung in Paragraf 219a hat das Recht auf Abtreibung ausgehöhlt. Ein Rechtsstaat muss auch dafür sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger ihre Rechte in Anspruch nehmen können.
Fünf Nummern kleiner
Manchmal ist es ein Vorteil, dass die Ereignisse in Deutschland meist viel kleiner ausfallen als in den USA. Zum Beispiel beim Sturm auf die jeweiligen Parlamente. Bei den Anhörungen zum Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 wird deutlich, dass Donald Trump seine Wahlniederlage in einen Sieg umwandeln wollte, durch Aufforderung zur Manipulation, durch Aufwiegeln der Massen. Was er im Sinn hatte, war nichts anderes als ein Putsch. Die amerikanische Demokratie war ernsthaft in Gefahr.
Donald Trump
Foto: Mark Humphrey / AP
Das kann man vom Versuch, den Reichstag in Berlin zu stürmen, nicht behaupten. Ab heute verhandelt das Kriminalgericht Moabit über einen Mann, der im August 2020 daran beteiligt war. Dabei soll er einen Polizisten geschlagen, einen anderen beleidigt haben. Das ist schlimm genug, aber von einem Putschversuch kann nicht die Rede sein.
Gewinner des Tages…
Foto: Rathaus Berlin / gezett / imago images
…ist für mich Clemens J. Setz, ohnehin einer der besten deutschsprachigen Schriftsteller, aber diesmal geht es nicht um einen seiner wunderbar verstörenden Romane, sondern um das Büchlein »Gedankenspiele über die Wahrheit«, das nur 44 Seiten umfasst und dabei noch großzügig gesetzt ist.
Setz berichtet, dass Roger Willemsen bei Lesungen gern erzählte, was Franz Grillparzer dachte, als er zum ersten Mal das Meer sah: »So hatte ich’s mir nicht vorgestellt.« Dieser Satz stehe in Grillparzers Tagebuch. Und es ist wirklich ein großartiger Satz. Ein Mann sieht zum ersten Mal das Meer, und ihm fällt nur diese schlecht gelaunte Bemerkung ein. Ein Weltklassesatz.
Setz hat dann im Tagebuch nachgeschaut und festgestellt, dass Grillparzer das mitnichten so geschrieben hat. Er fand das Meer »unbeschreiblich schön« und rühmt es in vielen Sätzen. Zwar fällt auch der Satz »So hatte ich’s mir nie gedacht«, aber im Sinne von: So schön hatte ich es mir nicht vorgestellt.
Setz’ Pointe über die Wahrheit: »Ich halte Willemsens Version nicht für eine gute Wiedergabe der Tagebuchstelle, aber zugleich für die vielleicht beste Kurzbiografie von Grillparzer, die es gibt.« Die Wahrheit in der Nicht-Wahrheit. Mir gefällt das, weil Willemsen hier als Erzähler auftrat. Für einen Journalisten ist dieser Umgang mit der Wahrheit verboten.
Morgen fahre ich mit meiner Tochter an einen See in der Uckermark und weiß genau, was ich denken werde, sobald ich ihn sehe.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Dirk Kurbjuweit