1. Viel warme Worte
Wir leben in Zeiten brutaler Grenzüberschreitungen. Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukrainie ist der größte. Benzinpreise über zwei Euro, die hohe Inflation, sinkende Aktienkurse sind dem gegenüber das kleinere Überschreitungs-Übel. Dennoch belasten besonders die steigenden Preise für Energie oder Lebensmittel hierzulande viele Menschen.
Vor dem Koalitionsausschuss heute Abend, bei dem die Ampelparteien über Entlastungen sprechen wollen, haben sich deshalb Verbraucherschützer, Gewerkschafter, Union und Teile der SPD überboten mit Vorschlägen: Energiegutscheine, Entfernungsgeld, ein höherer Hartz-IV-Regelsatz, ein Preisdeckel für den Grundbedarf an Strom und Gas. Sicher scheint bislang nur: Nichts davon wird kommen.
Die parlamentarische Geschäftsführerin der SPD Katja Mast sagte, sie gehe davon aus, dass es einen Austausch »in guter Atmosphäre« geben werde, »aber dass keine Beschlüsse gefasst werden«.
Sie verwies auf die von Olaf Scholz angestoßene konzertierte Aktion, die Anfang Juli starten soll. In seiner Rede im Bundestag erfuhr man von Scholz heute allerdings wenig Konkretes dazu. Man müsse ärmeren Ländern helfen, den Anstieg der Energie- und Nahrungsmittelpreise zu bewältigen, sagte der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung. Ansonsten würden China und Russland dies ausnutzen. Es ging in Scholz Rede vor allem um die anstehenden Gipfeltreffen der kommenden Tage.
Deutschland und der Westen müssten sich auf einen langen Konflikt mit Russland und einen langwierigen Wiederaufbau der Ukraine einstellen. Man müsse darüber reden, wie ein »Marshall-Plan für die Ukraine« aussehe. Scholz kündigte unter anderem an, eine hochrangige internationale Expertenkonferenz einzuberufen.
Von einer inakzeptablen »Grenzüberschreitung« spricht heute auch der stellvertretende Juso-Bundeschef Philipp Türmer. Ihm geht es um die Formulierung »Führungsmacht«, zu der SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil Deutschland machen will. In einer Grundsatzrede hatte sich Klingbeil unter anderem für militärische Gewalt als Teil der Friedenspolitik ausgesprochen.
Klar gehören die Worte Führer, Führung und Führungsmacht zum vorbelasteten Vokabular in Deutschland. Bei allen Grenzüberschreitungen der letzten Wochen und Monate ist Klingbeils Wortwahl nun aber wirklich das allerkleinste Übel.
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Lesen Sie hier mehr: Partnerschaft mit Russland ist für Scholz »auf absehbare Zeit unvorstellbar«
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
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Ukrainer sollen ab kommender Woche an Mehrfachraketenwerfern ausgebildet werden: Die ersten schweren Waffen aus Deutschland sind in der Ukraine eingetroffen. Im Bundestag erklärte Verteidigungsministerin Lambrecht, was nun folgt – und warum bestimmte Panzer bislang nicht geliefert wurden.
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»Einige haben ihre Mikrofone gegen Maschinengewehre getauscht« Sie flohen vor dem Krieg oder vor Putin. Hier erzählen fünf Journalisten aus der Ukraine und Russland, wie sich ihr Leben seit der russischen Invasion verändert hat und was sie von Deutschlands Politikern erwarten.
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»Wenn wir uns von Putin erpressen lassen, verlieren wir unsere Freiheit« Soll die Ukraine EU-Kandidatin werden? Lettlands Ministerpräsident Kariņš ist dafür. Er sagt, seit dem Krieg gebe es in Osteuropa keinen Mittelweg mehr: Entweder man nähert sich Europa oder wird Teil des russischen Imperiums .
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Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
2. Verdammter Vollmerz!
Wie schön es ist, im gemächlichen Regionalexpresstempo durch Deutschlands Provinz zu zuckeln, durfte ich gestern ausgiebig erfahren. Der ICE, der mich in rund vier Stunden von Berlin nach München bringen sollte, brauchte für die Strecke außerplanmäßige acht Stunden. Eine kaputte Oberleitung bei Bamberg machte einen Riesenumweg notwendig.
Ich habe die Reise genutzt, meinen Wortschatz um ein paar kreative Schimpftiraden zu erweitern, bei denen es sich in Wahrheit um osthessische Ortsnamen handelt: Vollmerz! Ramholz! Sterbfritz!
Angesichts der großen Probleme mit Verspätungen und Baustellen kündigte Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) heute eine »Generalsanierung« an. »So wie es ist, kann es nicht bleiben«, sagte er. Ab 2024 sollen besonders hoch belastete Bahn-Korridrre modernisiert werden. Laut Bahnchef Richard Lutz liegt die Auslastung auf 3.500 Schienenkilometern schon jetzt, ohne Baustellen, bei 125 Prozent: »Wir haben ein kurzfristig kaum auflösbares Dilemma: gleichzeitig wachsen und modernisieren.«
Klingt, als müssten sich Bahnkundinnen und -kunden auch künftig mit krassen Verspätungen rechnen. Einziger Lichtblick: Ihr Geldbeutel muss derzeit nicht darunter leiden. Noch rund zwei Monate gilt das 9-Euro-Ticket im Nahverkehr. Die Chefin des Bundesverbands der Verbraucherzentralen, Jutta Gurkmann, hat heute vorgeschlagen, auch künftig einen Dauerniedrigpreis beizubehalten. Ihr schwebt ein leicht buchbares Monatsticket für alle Busse und Bahnen im Nahverkehr für einen monatlichen Preis von 29 Euro vor. Das wäre rund ein Euro pro Tag.
Wenn ich übernächste Woche den nächsten Termin am anderen Ende der Republik habe, reise ich am besten gleich mit dem 9-Euro-Ticket statt mit dem ICE.
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Lesen Sie hier mehr: Verbraucherzentralen fordern 29-Euro-Ticket
3. Operation Traumhaus
Die Haus-Sehnsucht ist groß: »Doch 34 Prozent der Deutschen mit Immobilienwunsch trauen sich wegen der hohen Kosten nicht«, schreibt mein Kollege Jens Radü. Er hat eine Studie des Instituts Rheingold im Auftrag des Kreditvermittlers Interhyp ausgewertet.
Der Erwerb einer Immobilie wird durch die hohe Inflation oder etwa den Mangel an Baumaterial immer teurer und jetzt steigen noch die Zinsen für Baukredite rasant. »Im Januar konnten Hauskäufer noch mit einer eins vor dem Komma kalkulieren, inzwischen sind für einen Kredit mit Zehnjahresbindung mehr als drei Prozent fällig «, schreibt Jens. Das bedeutet für viele Deutsche, dass sie ihren Traum vom Wohneigentum aufgeben, der in den meisten Fällen so aussieht: Ein Einfamilienhaus mit den 3G – Garten, Garage, Gäste-WC.
Wer nun aber traurig darüber ist, sich den Traum vom Häuschen im Grünen vorerst wohl nicht erfüllen zu können, sei ein Blick nach Afghanistan empfohlen. Der relativiert jedenfalls sehr stark das deutsche Jammern über steigende Kosten oder hohe Zinsen.
Gestern Abend sind dort mehr als 1000 Menschen bei einem Erdbeben ums Leben gekommen. Das Ausmaß der Zerstörung in den Provinzen Paktika und Chost ist wohl deutlich größer als zunächst bekannt wurde.
Wegen der mangelhaften Bausubstanz vieler afghanischer Häuser sind die Schäden oft verheerend. Die Naturkatastrophe trifft Afghanistan in einer ohnehin schwierigen Zeit. Die humanitäre Lage hat sich seit dem Abzug der westlichen Truppen und der Machtübernahme der radikalislamischen Taliban weiter verschlechtert. Es fehlt etwa an Lebensmitteln und Medikamenten.
Ein Augenzeuge berichtete von der Zerstörung in den betroffenen Gebieten. »Das Grauen ist groß«, sagte der Journalist Rahim Chan Chushal. »Die Eltern können ihre Kinder nicht finden und die Kinder ihre Eltern nicht. Jeder fragt sich, wer tot ist und wer lebt. Die Häuser sind aus Lehm, und deshalb wurden sie alle durch die starke Erschütterung zerstört.«
Wer derzeit Geld auf der hohen Kante hat, sollte vielleicht nicht nur zu seinem Immobilienberater gehen, sondern sich auch überlegen, wie viel davon er oder sie womöglich an Hilfsorganisationen, die sich in Afghanistan engagieren, spenden kann.
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Lesen Sie hier mehr: Haus. Schluss. Vorbei.
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Was heute sonst noch wichtig ist
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Vier Erkenntnisse zur vierten Anhörung: »Alternative« Wahlergebnisse, Einschüchterungen und Drohungen: Donald Trump hat mit allen Mitteln versucht, trotz der verlorenen Wahl US-Präsident zu bleiben. Darum ging es bei der aktuellen Anhörung im Untersuchungsausschuss.
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Zahl der Todesopfer nach Erdbeben in Afghanistan steigt auf mindestens tausend: Bereits erste Meldungen deuteten auf verheerende Schäden eines Erdbebens in der afghanisch-pakistanischen Grenzregion hin. Nun haben die Behörden die Zahl der Opfer deutlich nach oben korrigiert.
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Ampelpartner kritisieren Lindners Nein zum Verbrenner-Aus: Die EU will ab 2035 keine Autos mit Verbrennungsmotor mehr zulassen. Doch Finanzminister Lindner möchte auf einmal nicht mehr zustimmen. Grüne und Sozialdemokraten reagieren verärgert.
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Moskau ändert Adresse der US-Botschaft: Es dürfte eine gezielte Provokation sein: Die Botschaft der USA in Moskau bekommt eine neue Adresse – die Stadtverwaltung benannte den Platz davor zu Ehren von prorussischen Separatisten in der Ukraine um.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
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»Dann steigen die CO₂-Emissionen um bis zu 30 Millionen Tonnen« Wirtschaftsminister Robert Habeck will Gas sparen und wieder verstärkt Kohle verstromen. Klimaexperte Niklas Höhne über die Folgen für die deutschen Klimaziele – und wie die doch noch erreicht werden könnten .
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Kommt das Anti-Russland-Kartell? Die Sanktionen schmälern Russlands Rohstoffeinnahmen bislang kaum. Das will die US-Regierung ändern – und beim G7-Gipfel eine Preisobergrenze für russisches Öl vorantreiben. Klingt verrückt, könnte aber funktionieren .
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»Meine Mutter fehlte mir, ich bin einfach durchgedreht« Freie Sexualität, ein Alltag ohne Eltern, Machtmissbrauch: Jeanne Tremsal wuchs in der Lebensgemeinschaft des Künstlers Otto Mühl auf. Jetzt hat die Schauspielerin einen Film über diese Zeit gedreht .
Was heute weniger wichtig ist
Der Wechsel galt als beschlossen, fix war er noch nicht: Nun hat Liverpools Stürmerstar Sadio Mané, 30, bei den Bayern für drei Jahre unterschrieben. Der Spieler soll 32 Millionen Euro Ablöse plus maximal neun Millionen Euro Boni kosten und erhält einen Dreijahresvertrag. Zitieren lässt er sich so: »Für mich gab es von Beginn an keinen Zweifel: Das ist der richtige Zeitpunkt für diese Herausforderung. Ich will mit diesem Verein viel erreichen, auch international.«
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: Sozialminister Heil geht davon aus, dass dich die Preise bald wieder stabilisieren.
Cartoon des Tages: Stochern im Nebel
Illustration: Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
Als gebürtige Schwäbin empfehle ich das Schaben von Spätzle. Es entspannt ungemein und das Ergebnis entschädigt für alle Strapazen des Alltags. Aber Achtung: Das Gericht ist schwieriger zu kochen als man vielleicht meint. Vor allem, wenn man versucht, den Spätzle-Teig durch die Löcher eines Dampfgarsiebs zu pressen, so wie es Koch-Kolumnist Sebastian Maas erfolglos probiert hat.
Die Lektüre seines Kochversuchs ist jedenfalls ein Genuss! »Erst kommt das Debakel, dann die Delikatesse«, schreibt er. So ist es mit vielem im Leben.
Einen schönen Abend.
Ihre Anna Clauß
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