Der unbeirrbare Kanzler
Fragen wir ausnahmsweise mal nicht, ob die Politik des Bundeskanzlers gegenüber der Ukraine richtig ist. Fragen wir, ob er einen klaren Kurs hat und wie entschlossen er ist, ihn durchzuziehen.
Wer Scholz bei diversen Gelegenheiten zugehört hat, erlebte einen unbeirrbaren Kanzler. Er hat sich, nach anfänglichem Schwanken, festgelegt auf den Ich-bin-nicht-Kaiser-Wilhelm-Kurs. Sein oberstes Ziel ist es, Deutschland aus dem Krieg rauszuhalten, einen Waffengang mit Russland zu vermeiden, damit einen atomaren Schlagabtausch. Er schaut kritisch auf die Politik der Ukraine und hält Distanz zu Präsident Wolodymyr Selenskyj, ohne das geringste Verständnis für Wladimir Putin zu haben.
Von der heftigen, zum Teil wütenden Kritik an seinem Kurs zeigt er sich unbeeindruckt. Ihm ist bewusst, dass ihm, je nach Ausgang des Krieges, der Vorwurf droht, die Ukraine verraten zu haben. Trotzdem.
Olaf Scholz am 16. Juni in Kiew
Foto: IMAGO/Celestino Arce Lavin / IMAGO/ZUMA Wire
Scholz hat im Wahlkampf Führung versprochen, und man kann, Stand jetzt, sagen, dass er in der Ukraine-Politik Führung zeigt. Fragt sich, ob in die richtige Richtung. Aber das ist hier und jetzt nicht das Thema.
Heute gibt Scholz im Bundestag eine Regierungserklärung ab, eine wichtige. In den nächsten acht Tagen wird er zu den Gipfeln der EU, der G7 und der Nato reisen und muss darstellen, wie er Deutschlands Rolle in der Welt sieht.
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Absichtliches Übersehen
Einem pikanten Staatsbesuch sieht heute die Türkei entgegen. Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman wird in Ankara erwartet, jener Mann, der wahrscheinlich für den bestialischen Mord an dem Regimekritiker Jamal Khashoggi verantwortlich ist.
Am 2. Oktober 2018 suchte Khashoggi das saudi-arabische Konsulat in Ankara auf, um eine Dokumentenfrage zu klären. Dort wurde er von Agenten ermordet und zerstückelt. Einige von ihnen verbüßen inzwischen Freiheitsstrafen in ihrem Heimatland. Der Kronprinz aber kann auf Türkeireise gehen.
Mohammed bin Salman am Dienstag in Amman
Foto: KHALIL MAZRAAWI / AFP
Das führt mich zu einer kleinen Theorie des absichtlichen Übersehens in der Politik.
Übersehen wird das, was die Mächtigen tun. Die USA und China können sich so ziemlich alles leisten, ohne gravierende Folgen zu gewärtigen.
Übersehen wird das, was die tun, die über wichtige Güter oder Rohstoffe wie Öl verfügen. Der Westen macht immer noch Energiegeschäfte mit Russland.
Übersehen wird das, was die tun, die für die Mächtigen von strategischem Interesse sind. Die USA stützten rechte Folterregime in Süd- und Mittelamerika, damit sich der Kommunismus nicht ausbreiten konnte.
Saudi-Arabien hat Öl und dient strategischen Interessen der USA im Nahen Osten. Damit kann man sich fast alles leisten.
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Vier Jahre nach Khashoggi-Mord: Saudischer Kronprinz bin Salman kommt zum Staatsbesuch in die Türkei
Ausgetanzt?
Impfaktion in einem hessischen Musikclub (Archivbild)
Foto: Sebastian Gollnow / dpa
Gestern erwähnte ich ein Gespräch mit einem führenden deutschen Gesundheitspolitiker, der leider anonym bleiben muss. Gestern ging es um die Ukraine, hier sind seine Gedanken zur Pandemie: Wenn nichts geschehe, werde die tägliche Fallzahl im Herbst und Winter auf 200.000 steigen, mit Produktionsausfällen in der Wirtschaft und 200 bis 300 Toten am Tag, meist Alte oder gesundheitlich Angeschlagene. Mit einer Übersterblichkeit von fünf bis zehn Prozent sei zu rechnen.
Es sei eine ethische Frage, sagt der Gesundheitspolitiker, ob die Gesellschaft das mit dem Argument hinnehmen wolle: Die meisten dieser Menschen wären ohnehin bald gestorben. Oder ob man gegensteuere, mit Maskenpflicht und Schließungen, zum Beispiel von Tanzclubs. Er ist für Gegensteuern.
Heute wird auch diese Frage Thema sein bei der Konferenz der Gesundheitsminister aus den Ländern und dem Bund in Magdeburg.
Waffenposse
Ein Problem der Zeitenwende ist, dass die Bundeswehr noch nicht weiß, mit welchen Gewehren sie schießen würde, wenn sie dereinst, Gott bewahre, schießen müsste. Das G36 ist in Verruf geraten, den Nachfolger sollte die Waffenschmiede C.G. Haenel aus Suhl herstellen. Klingt urdeutsch, ist aber im Besitz der Vereinigten Arabischen Emirate, auch so ein Staat, der vom absichtlichen Übersehen profitiert.
Dann hieß es jedoch, Haenel habe gegen das Patentrecht verstoßen . Die Firma verlor den Staatsauftrag an Heckler & Koch und klagte gegen diese Entscheidung. Heute wird das Oberlandesgericht Düsseldorf eine Entscheidung in dieser Posse verkünden.
Gewinner des Tages…
… ist Fabian Hinrichs, nicht nur, weil er ein wundervoller Schauspieler ist, sondern auch, weil ich mit ihm neuerdings eine maßgebliche Frage unserer Zeit verbinde. Kürzlich sah ich ihn an der Berliner Volksbühne in René Polleschs Theaterstück »Geht es dir gut?«, einem großen Klagegesang in den Zeiten von Corona, Krieg und Klimakatastrophe. Irgendwann rief Hinrichs aus: »Wann können wir endlich wieder überschäumen?«
Genau das ist doch die Frage. Man lebt in diesen Tagen wieder sein normales Leben, aber zur Überschäumung kommt es nicht, weil sich auch im Genuss trübe Gedanken an Krieg, Corona und Klimakatastrophe einstellen.
In düsteren Momenten denke ich, die Antwort auf Hinrichs Frage könnte ein Wort mit drei Buchstaben sein: nie.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Dirk Kurbjuweit