Die Logik der Abschreckung
Atomare Abrüstung genießt seit dem Kalten Krieg hohe Wertschätzung. In diesem Geist findet heute die Wiener Konferenz zu den humanitären Auswirkungen von Atomwaffen statt. Der ganze Schrecken für Menschen und Natur wird dort diskutiert.
Teststart einer ballistischen Interkontinentalrakete durch das russische Militär
Foto: Cover-Images / IMAGO
Umso schlimmer, dass Abrüstung für den Westen derzeit keine sinnvolle Option ist, im Gegenteil. Putin hat den Krieg gegen die Ukraine auch deshalb begonnen, weil er nicht mit einer atomaren Reaktion der USA rechnet. Umgekehrt greift der Westen nicht energisch zugunsten der Ukraine ein, weil er Putin einen Atomschlag zutraut. Beides belegt die Logik der Abschreckung.
Darauf folgt leider, dass vor allem eine funktionierende atomare Abschreckung große Kriege verhindern kann. Dazu gehört auch eine Debatte, die noch nicht geführt wird: Wenn sich Europa nicht hundertprozentig auf die USA verlassen kann, wenn sich Deutschland nicht hundertprozentig auf Frankreich und Großbritannien verlassen kann, braucht dann nicht auch Deutschland Atomwaffen?
Mir läuft es eiskalt den Rücken runter, wenn ich diese Worte schreibe. Aber wenn man all das zu Ende denkt, was derzeit passiert, muss man sich dieser Frage stellen.
Mehr Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:
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Das geschah in der Nacht: Die Ukraine bereitet sich laut Präsident Selenskyj auf zunehmende Attacken vor. Sein Außenminister beklagt das Ungleichgewicht im »Artilleriekrieg«. Und: Habeck spricht vom »Armdrücken« mit dem Kremlchef. Der Überblick
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»… dann werden wir mit Schaufeln kämpfen«: Bei »Anne Will« hat der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba für Waffenlieferungen an sein Land geworben – jede Verzögerung koste Leben. Die russischen Truppen hätten bei Artilleriewaffen eine Übermacht von 15:1
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»Wir hoffen, dass wir nicht wie Syrien werden«: Die Cafés sind geöffnet, die Restaurants ausgebucht, die Plätze voller Menschen: Nach Monaten der Angst versucht Kiew, zum Alltag zurückzukehren. Doch das ist schwieriger als gedacht. Spaziergang durch eine traumatisierte Metropole
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Selenskyj besucht erstmals die Front in der Südukraine: Er verteilte Orden und sprach Soldaten seinen Dank aus: Präsident Selenskyj hat die schwer umkämpfte Stadt Mykolajiw sowie weitere Stellungen im Süden der Ukraine besucht
Fairness für einen Staatsfeind?
Dass sich Julian Assange vor einem Gericht verantworten soll, ist an sich nicht schlimm. Ein Prozess könnte klären, ob er gegen Gesetze verstoßen hat, als er zum Beispiel Geheimdokumente unter dem Namen WikiLeaks veröffentlichen ließ.
Unterstützer von Julian Assange protestieren vor dem US-Justizministerium in Washington
Foto: IMAGO/Bryan Olin Dozier / IMAGO/NurPhoto
Das Problem ist, dass man große Zweifel haben muss, ob Assange in den USA menschenwürdig behandelt würde und einen fairen Prozess bekäme. Ob ein Freispruch möglich wäre für einen Mann, der vielen als Staatsfeind Nummer eins gilt.
Heute wird Sevim Dagdelen, Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke, in Berlin mit dem Vater und dem Bruder von Assange auftreten. Sie wollen öffentliche Unterstützung sammeln, um zu verhindern, dass Assange von Großbritannien an die USA ausgeliefert wird. Meine Unterstützung haben sie.
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WikiLeaks-Gründer: Britische Regierung macht Weg frei für Auslieferung von Julian Assange an die USA
Verspätung und Isolationismus
Ich mochte mich nie als Autofahrer, weil ich hinter dem Lenkrad eine Wut entwickelte, die ich sonst von mir nicht kenne. Inzwischen fahre ich kaum noch Auto, mag mich aber auch nicht als Bahnfahrer. Wegen der Verspätungen bin ich eher noch wütender als im Auto. Meine Bilanz der letzten fünf Reisen: 50 Minuten, 45, 40, 10, 100 (gestern).
Bahnsteig am Hauptbahnhof Stuttgart (Symbolbild)
Foto: IMAGO/Arnulf Hettrich
Allerdings frage ich mich manchmal, ob diese Verspätungszeit wirklich verlorene Zeit ist oder eher gewonnene. Ich fahre gerne Bahn, weil ich dann über Stunden lesen oder schreiben kann. Gestern las ich zum Beispiel ab Verspätungsminute 35 in der Biografie »Franklin D. Roosevelt« von Robert Dallek die Passagen zu den Jahren 1939 und 1940. Es ist bemerkenswert, wie sehr die Argumente der damals starken Isolationisten in den USA denen von Olaf Scholz gleichen. Zum Beispiel, sich bloß nicht in den Krieg in Europa hineinziehen lassen. Oder die Sorge vor einem deutschen Angriff auf die USA.
Roosevelt hätte gern frühzeitig eingegriffen, fürchtete aber den Widerstand der Isolationisten. Deshalb verlegte er sich auf Waffenlieferungen vor allem an Großbritannien und sagte: »Wir müssen das große Waffendepot (arsenal) der Demokratie sein.« Einen ähnlich griffigen Satz habe ich von den Politikern unserer Zeit nicht gehört.
Zur Bahn, dem wohl schlechtesten Unternehmen der Welt: Am Ende entscheide ich lieber selbst, wann und wo ich großartige Sätze lese.
Donaudampfschifffahrtskapitänsnachname
Auf Hochzeiten sind Überraschungen eher nicht willkommen. Es soll einfach das gelingen, was man sich vorgenommen hat. Umso schöner, dass ich am Wochenende bei einer Trauung war, bei der dem Brautpaar ein Coup gelungen ist, ein Namenscoup. Frau Stein und Herr Maurer hätten sich auf den gemeinsamen Namen Stein-Maurer geeinigt, sagte der Pfarrer. Jedenfalls hörten wir das so, aus Gewohnheit. Bis der Pfarrer ergänzte: ohne Bindestrich, also Steinmaurer.
Hochzeitspaar zeigt Eheringe (Symbolbild)
Foto: Frank Leonhardt/ picture alliance / dpa
Große Fragezeichen in allen Gesichtern. Das geht doch gar nicht. Doch, es geht, die Braut hat einen amerikanischen Pass, und nach kalifornischem Namensrecht dürfen die Nachnamen miteinander kombiniert werden.
Seither suche ich ständig nach Namen, mit denen man Kurbjuweit halbwegs ästhetisch verschmelzen könnte, finde aber keine. Und ich stellte mir vor, dass der Nachwuchs der Steinmaurers eines Tages Herrn oder Frau Kelle heiratet. Nach dem Vorbild des Donaudampfschifffahrtskapitäns lassen sich mit dieser Option über die Generationen hinweg fantastische Wortschlangen bilden.
Gewinner des Tages…
Fax-Kopfzeile (Symbolbild)
Foto: Rolf Vennenbernd / picture alliance / dpa
… könnten die deutschen Behörden sein. Denn heute beginnt in Berlin der »Zukunftskongress Staat & Verwaltung«, veranstaltet vom Bundesinnenministerium. Hauptthema soll die Digitalisierung sein. Das Programm ist umfangreich, ich zitiere Schnipsel aus den Überschriften der Symposien:
Souveräne Multicloud. Inhouse-Consulting. Vom Mission Statement zur Roadmap. Data & AI@Scale. EUidWallet. Check! Smarte Stadt. RPA- und KI-Lösungen. FIT-Store. Projekt-Governance. Virtual Patching. eGov-Campus. Dashboards. Data Driven Government. IT Optimization. Agile Teams. Open Source als Efa-Booster. Digital Twins. Virtueller Hyperscaler.
Man sollte diese Liste rappen, dann klingt sie noch moderner, noch cooler. Was ich allerdings vermisse: das Symposium zum Thema, wie man Faxgeräte (fax machines) umweltschonend entsorgt. Die stehen bislang symbolisch für den Technologiestandard deutscher Behörden.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Dirk Kurbjuweit