In der AfD gibt es eine Erzählung, die seit Jahren so geht: Björn Höcke sei nicht so mächtig, wie die Medien ihn immer herbeischreiben würden. Ihm fehle das Charisma eines Führungspolitikers, er scheue seit Jahren den Sprung in die Spitze, weil er eine Niederlage fürchte.
Es ist der Versuch, Höcke möglichst kleinzureden, um in den bürgerlichen Wählerschichten des Westens noch anschlussfähig zu sein.
Doch Höcke, ein in den Osten verschlagener Westdeutscher, interessieren solche Fragen schon lange nicht mehr, wenn sie es überhaupt je taten. Je kleiner die Gruppe der sogenannten Gemäßigten wird, die sich oftmals nur in Stilfragen von den Radikalen unterscheiden, umso stärker versucht Höcke auszugreifen.
Der Thüringer Landes- und Fraktionschef zeigte auf dem Bundesparteitag in Riesa, dass er und seine Getreuen die Strippen ziehen können. Höcke, ein völkischer Rechtsextremist, nutzt den zusätzlichen Raum, der sich ihm durch den Austritt von Co-Parteichef Jörg Meuthen und anderen sogenannten Gemäßigten eröffnet.
Die Zeit arbeitet für ihn, gelegentliche Rückschläge nimmt er in Kauf, wie bei einem Europaantrag, der in einer turbulenten Debatte am Sonntag nicht zur Abstimmung kam. Höcke kann warten, er agiert wie ein klassischer Techniker der Macht, der weiß, dass zunächst einmal die satzungsmäßigen Grundlagen geschaffen werden müssen, um irgendwann doch noch zum Sprung an die Spitze der AfD anzusetzen.
Bereits im Frühjahr 2021, auf dem Dresdner Parteitag zum Bundestagswahlprogramm, war Höcke in den Antragsdebatten durch rege Teilnahme aufgefallen. Über diesen Weg formt er die Partei mit, in seinem Sinne. In Riesa ging es so weiter, und zwar an einer entscheidenden Baustelle. So wurde ein von ihm mitunterzeichneter Antrag durchgesetzt, der künftig eine Einer-Spitze ermöglicht. Das war auch der nach außen vollzogene Bruch mit dem Anspruch aus der Gründungsphase der AfD, als zeitweise bis zu drei Bundessprecher die Gesichter der Partei waren.
Höcke bereitet nun den Thron, den er selbst eines Tages besteigen dürfte. In zwei Jahren könnte es »vielleicht« eine Einer-Spitze geben, formulierte er das Ziel in Riesa. Was seine persönlichen Ambitionen angeht, blieb er wie immer im Vagen. »Vielleicht ist es in ein paar Jahren so weit. Bis dahin bin ich in Thüringen gut aufgehoben«, sagte er in Riesa am Rande des Parteitags.
Weswegen, auch mit seinem Segen, Tino Chrupalla und Alice Weidel zum vorläufigen Duo gewählt wurden. Zugleich warb er für die Idee eines Generalsekretärs. Der, beschrieb Höcke seinen Zukunftsplan, solle einen künftigen Parteichef flankieren.
Höckes Gegner haben seinem Gestaltungsanspruch – vom »Willen« ist in Höckes 30er-Jahre-Rhetorik oft die Rede – wenig entgegenzusetzen. In Riesa vollzog sich der weitere Niedergang derjenigen, die lange zu Meuthen gehalten hatten, nicht, weil sie von ihm überzeugt waren, sondern weil er für den Versuch stand, die AfD nicht ganz so radikal erscheinen zu lassen.
Neues AfD-Duo Chrupalla und Weidel: Schon beschädigt
Foto: FILIP SINGER / EPA
Es gab in Riesa ein untrügliches Zeichen für ihren Machtverlust: Keiner der sogenannten Gemäßigten schaffte es bei den Wahlen in den Bundesvorstand, sie stellten oft gar keine Kandidaten mehr zu den Wahlgängen auf. Allein Höcke brachte indes drei Vertreter durch, darunter mit der Bundestagsabgeordneten Christina Baum eine Frau, die in ihrer Bewerbungsrede Geschichtsrevisionismus in Reinform propagierte: Der »gesunde Nationalstolz« der Deutschen sei von den »Trümmern einer jahrzehntelangen Schuldhaftigkeit verschüttet« worden. Das klang nach Höckes Sätzen aus seiner berüchtigten Dresdner Rede von 2017, in der er vom Holocaust-Mahnmal als »Mahnmal der Schande« in Berlin sprach und auch davon, man brauche eine »erinnerungspolitische Wende um 180 Grad«.
Auch unter jenen, die der wiedergewählte Co-Parteichef Tino Chrupalla auf seiner ursprünglichen Wahlliste hatte, sind einige, die Höckes Ideenwelt nahestehen. So radikalisiert sich die AfD immer weiter. Im Westen dürfte sie damit weiter an Mitgliedern und an Wählern verlieren. Im Osten bleibt sie zwar nach wie vor stark, auch wenn sie zuletzt in Sachsen bei den Landratswahlen nicht ihre Ziele erreichte.
Das Führungsduo Tino Chrupalla und Alice Weidel wirkt angesichts der Bestrebungen Höckes, die Partei langfristig in seinem Sinne umzubauen, schon jetzt wie eine Übergangslösung. Höcke zeigte in Riesa schon einmal Weidel, wohin die Reise gehen wird: Die rechte Pseudogewerkschaft »Zentrum Automobil« wurde – gegen Weidels Willen – per Beschluss von den Delegierten von der Unvereinbarkeitsliste der Partei genommen. Man bestimme selbst, »wer Extremist ist und von wem wir uns abgrenzen, das macht keine Regierungsbehörde«, so Höcke.
Noch allerdings lodern Restfeuer gegen Höckes Umgestaltungsplan. Wie tief die Partei gespalten ist, wurde einmal mehr am Sonntag deutlich, in einer stundenlangen Debatte über einen Europaantrag, den Höcke begründet hatte. Darin wurde nicht nur die »einvernehmliche Auflösung der EU und die Gründung einer neuen europäischen Wirtschafts- und Interessengemeinschaft« verlangt, was einem früheren Dexit-Beschluss der Partei nahekommt. Vor allem aber fürchteten West-Delegierte künftige Verluste bei der Landtagswahl Mitte Oktober in Niedersachsen, weil in dem Antrag auch verharmlosend vom »Ukraine-Konflikt« die Rede war. Das sei ein »Putin-Narrativ« und »grob schädigend, zumindest im Westen«, so ein Delegierter aus Baden-Württemberg, der wiederum einst als Anhänger in Höckes »Flügel«-Netzwerk galt – manchmal sind die Frontstellungen in dieser Partei verwirrend fließend.
Vorzeitige Beendigung des Parteitags
Chrupallas und Weidels Autorität war spätestens beim Europaantrag schon angekratzt. Sie wirkten auf offener Bühne in Riesa wie Höckes Getriebene. Chrupallas Vorschlag, den Antrag an den Bundesvorstand zur weiteren Beratung zu überweisen, wurde erst entsprochen, nachdem er mit sechs Landeschefs im Rücken sich ans Rednerpult gestellt hatte. Das Bild wirkte wie eine hilflose Geste. Höcke, der Treiber, war indes nicht dabei.
Am Ende suchte man nur noch die Flucht nach vorne. Die Delegierten entsprachen der fast flehentlichen Bitte des neuen Duos, den Parteitag vorzeitig zu beenden – womit eines der wichtigen Projekte Höckes, die Partei-Strukturreform-Kommission nicht mehr behandelt wurde. Höcke wird damit also noch warten müssen.
Vom »Aufbruch« blieb am Ende wenig übrig. Das reiht sich ein ins Gesamtbild. Die Partei verliert Mitglieder, sie lag im Januar nur noch bei rund 29.000. Zehn Wahlen verlor sie zuletzt, flog jüngst aus dem Landtag von Schleswig-Holstein. Nun wird ein Aufregerthema gesucht. Vor dem Hintergrund des russischen Kriegs gegen die Ukraine setzt die AfD auf eine Zuspitzung der Verhältnisse, auf steigende Inflation und Energiepreise, wie Weidel in ihrer Rede andeutete.
Das entspricht ganz dem Geist dieser Anti-Partei, dem Weltbild vieler ihrer Mitglieder und Funktionäre. Destruktivität ist schon lange ein Teil der Nahrung, von der die AfD zehrt.
Es könnte aber sein, dass sie am Ende daran selbst noch zugrunde geht. Spätestens dann, wenn Höcke und seine Getreuen die Macht vollends errungen haben sollten. Noch ist es nicht so weit, aber an ihrem Bauprojekt einer radikalen AfD arbeiten sie weiter. Riesa war nur der Beginn.