Im Februar 2020 nannte Angela Merkel (CDU) es »unverzeihlich«, dass der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit AfD-Stimmen zum Ministerpräsident in Thüringen gewählt worden war. Damit hat die damalige Kanzlerin ihre Neutralitätspflicht verletzt, hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Merkel habe gegen den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien verstoßen, entschieden die Richterinnen und Richter in einem nun verkündeten Urteil.
Die Karlsruher Richterinnen und Richter urteilten nach zwei Klagen der AfD gegen die frühere Bundeskanzlerin und die Bundesregierung. Eine Klage richtete sich gegen Merkels Äußerung, die andere gegen die Veröffentlichung von Merkels Statement unter anderem auf offiziellen Regierungswebsites. Die AfD sah sich dadurch in ihrem Recht auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb verletzt. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hatte sich mit dem Fall in einer mündlichen Verhandlung bereits am 21. Juli 2021 befasst. Die Entscheidung wurde aber erst jetzt verkündet.
Thomas Kemmerich am 5. Februar 2020 im Thüringer Landtag nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten
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Hintergrund sind Ereignisse am 5. Februar 2020 im Erfurter Landtag. Damals wollte sich Bodo Ramelow (Linke) erneut zum Regierungschef wählen lassen. In den ersten beiden Wahlgängen bekam er nicht genug Stimmen. Im dritten Wahlgang hatte ihn dann völlig überraschend Kemmerich um eine Stimme geschlagen – mitgewählt von CDU und AfD.
Es war das erste Mal, dass die AfD einem Ministerpräsidenten ins Amt verhalf. Merkel, die gerade auf Reisen war, meldete sich einen Tag nach der Wahl zu Wort und schickte ihrer Pressekonferenz mit dem südafrikanischen Präsidenten Cyril Ramaphosa eine »Vorbemerkung« »aus innenpolitischen Gründen« voraus. Das war ein höchst ungewöhnlicher Vorgang, weil Regierungschefs bei Auslandsreisen zu innenpolitischen Themen in aller Regel keinen Kommentar abgeben.
Angela Merkel bei ihrer Pressekonferenz am 6. Februar 2020 in Südafrika – in Pretoria äußerte sie sich zur Kemmerich-Wahl
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Sie sprach von einem »einzigartigen Vorgang, der mit einer Grundüberzeugung der CDU« und auch von ihr gebrochen habe, dass keine Mehrheiten mit den Stimmen der AfD gewonnen werden soll. Das Ergebnis müsse »rückgängig gemacht werden«, sagte sie, zumindest die CDU dürfe sich nicht an dieser Regierung beteiligen. Und: »Es war ein schlechter Tag für die Demokratie.« Eine Mitschrift der Pressekonferenz stand zwischenzeitlich auf bundeskanzlerin.de und bundesregierung.de.
Kemmerich war nach drei Tagen unter dem hohen Druck zurückgetreten, die Amtsgeschäfte hatte er ohne Regierung noch bis März geführt. Ministerpräsident wurde dann doch wieder Ramelow.
AfD war erfolgreich gegen Seehofer
Die AfD hat sich in Karlsruhe schon mehrmals gegen kritische Äußerungen von Regierungsmitgliedern gewandt. So klagte die Partei erfolgreich gegen Ex-Innenminister Horst Seehofer (CSU) geklagt, weil ein Interview mit AfD-kritischen Passagen auf seiner Ministeriumsseite stand. Und Johanna Wanka (CDU) wurde in ihrer Zeit als Bildungsministerin dafür gerügt, dass sie in einer Ministeriumsmitteilung die »Rote Karte« für die AfD gefordert hatte.
Nach diesen Urteilen dürfen Politiker zwar öffentlich Kritik an der AfD üben. Sie müssen aber das Gebot staatlicher Neutralität wahren, wenn sie sich in ihrer Rolle als Regierungsmitglied äußern.
In der Karlsruher Verhandlung zur Thüringen-Wahl im Juli 2021 hatte Merkels Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) die Äußerungen damit verteidigt, dass die mitreisenden Journalisten und vor allem der Koalitionspartner eine Positionierung gewollt hätten. Es sei auch um das internationale Ansehen der Bundesrepublik Deutschland gegangen. Zu den Mitschriften auf den Internetseiten sagte er, Pressekonferenzen würden grundsätzlich wortlautgetreu und vollständig dokumentiert. Darauf würden sich Journalisten verlassen.
Die AfD hatte die Äußerungen als direkten Angriff bewertet. »Wir meinen, dass so ein Angriff, zumal bei einem offiziellen Staatsbesuch unter dem Logo Bundeskanzler/Bundeskanzlerin, nicht verfassungsgemäß ist und Frau Merkel damit gegen ihre Neutralitätspflicht verstoßen hat«, sagte der Vize-Vorsitzende Stephan Brandner. Der inzwischen aus der AfD ausgetretene damalige Co-Parteichef Jörg Meuthen sagte: »Sie hat versucht, eine Landtagswahl zu delegitimieren, und zwar in Ausübung ihres Amtes als Bundeskanzlerin.«
Az.: 2 BvE 4/20 und 2 BvE 5/20